«Die Begeisterung der Kinder ist meine Motivation»
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Event-Freiwilligkeit boomt:Milizarbeit steht vor dem Aus

Event-Freiwilligkeit boomt – Milizarbeit steht vor dem Aus
Freiwillig? Nur wenns Spass macht!

Tausende Freiwillige machen das Eidgenössische Turnfest in Aarau möglich. Die Gemeinde Hospental (UR) suchte einen einzigen. Vergeblich.
Publiziert: 17.06.2019 um 09:04 Uhr
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Aktualisiert: 24.01.2024 um 00:08 Uhr
Die Eröffnungsfeier des Eidgenössischen Turnfests 2019 in Aarau: Ein Spektakel des Breitensports.
Foto: Philippe Rossier
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Danny Schlumpf

Säckeweise schleppen sie Müll über den grossen Festplatz im Zentrum des Eidgenössischen Turnfests in Aarau: Die Frauen des Damenturnvereins Fischbach-Göslikon tun das den ganzen Tag lang. Freiwillig.

«Das gehört auch dazu», sagt Barbara Kretz (38) mit Schalk im Blick. Seit neun Jahren ist das Energiebündel im Vorstand des Damenturnvereins aktiv. Daran vermag sie nichts Besonderes zu erkennen. Die Frage, warum sie das tut, irritiert sie sichtlich. «Das macht man einfach!»

Mit ihrer zupackenden Art ist Barbara Kretz in Aarau nicht allein. Über 4000 Freiwillige unterstützen die 70'000 Sportler und 150'000 Zuschauer beim grössten Sportereignis des Jahres. «Ohne die Freiwilligen wäre dieser Event nicht durchführbar», sagt die Leiterin der Geschäftsstelle, Stefanie Wassmer (32). Die Helfer kümmern sich um Auf- und Abbau der Zelte und Bühnen, um Gastronomie und Wettkampfunterstützung. Sie sind bei Logistik und Marketing, an den Infopoints und im Sicherheitsbereich im Einsatz. Zusammen leisten sie über 65 000 Stunden Freiwilligenarbeit.

Engagement ist eine Selbstverständlichkeit

«Ich will etwas zurückgeben», sagt Alexandra Heiniger (43). Ihr Sportverein Satus Oberentfelden betreut während des Turnfests die Stadtbühne beim Bahnhof Aarau. Auch Vereinsmitglied Jenny Kleymeier (27) hilft mit.

Zivilgesellschaftliches Engagement ist für sie eine Selbstverständlichkeit, nicht nur im Verein. Ein Jahr lang war sie beim Jugendrotkreuz und hat eine Frau, die aus dem Irak fliehen musste, bei der Integration unterstützt.

Die Schweiz ist ein Land der Freiwilligen. In 100'000 Vereinen, gemeinnützigen Organisa­tionen und informellen Netzwerken stehen sie Jahr für Jahr während insgesamt 650 Millionen Stunden im Einsatz. Ihre unentgeltliche Arbeit hat einen Wert von jährlich 35 Milliarden Franken.

Trainerin ist ein klassisches Ehrenamt

Was treibt diese Menschen an? Andrea Frey (42) aus Olten SO nimmt an den Gymnastik-Wettkämpfen am Turnfest teil. Aber sie ist auch als Trainerin einer Kinder-Turngruppe hier. «Ich war selber in der Jugend­riege und habe davon enorm profitiert», erklärt die sportliche Frohnatur ihre Motivation. «Deshalb war für mich schon früh klar, dass ich mich auch beteiligen und einbringen will.»

Als Trainerin übt sie ein klassisches Ehrenamt aus. Und leistet damit einen unverzichtbaren Dienst, wie Ruedi Hediger (61) betont. Der Geschäftsführer des Schweizerischen Turnverbands: «In unserem Verband mit seinen 3200 Vereinen haben die über 20'000 Freiwilligen und Ehrenamtlichen eine entscheidende Bedeutung. Ohne sie könnte Turnen in der Schweiz nicht betrieben werden.»

Um ihren 17 Schützlingen im Alter zwischen sieben und elf Jahren die Teilnahme in Aarau zu ermöglichen, hat Andrea Frey im Internet ein Crowdfunding organisiert. Mit den so gesammelten 2000 Franken finanziert sie den Eintritt für die Kinder, den Vereinstrainer und neue Tenues. Crowdfunding ist eine moderne Form der Freiwilligkeit, die stetig zunimmt. Und ein Indiz dafür, dass das Engagement in der Schweiz nicht abnimmt, wie es häufig heisst, sondern sich verschiebt.

Ungebunden und flexibel ist wichtig

Denn viele Schweizer wollen etwas für die Gemeinschaft tun. Die Art und Weise aber, wie sie es tun, ändert sich gerade fundamental: Im Zentrum stehen heute nicht mehr nur Gemeinschaftlichkeit und Solidarität, sondern auch Selbstverwirk­lichung und Abenteuerlust.

Wir wollen mitbestimmen und mitgestalten. Wir wollen ungebunden und flexibel sein. So entstehen immer neue Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements: Mikro-Freiwilligkeit, Event-Freiwilligkeit, Voluntourismus (Freiwilligenurlaub) und Online-Freiwilligkeit. Die Engagements sind projektbezogen und befristet: die Übersetzung eines Briefes, die Hilfe beim Open-Air-Festival, der befristete Einsatz in einem Katastrophengebiet oder das Verfassen einer Bewertung auf Tripadvisor.

Der Umbruch hat Folgen für die traditionellen Bereiche der Freiwilligenarbeit. Zu spüren bekommen das vor allem die 2200 Gemeinden in der Schweiz. Sie suchen immer verzweifelter nach Freiwilligen, um die 100'000 lokalen Milizämter im Land zu besetzen. Das zeigt eine Studie unter der Leitung von Markus Freitag (52). «Das Schweizer Milizwesen erodiert», sagt der Politologe der Uni Bern. «Es herrscht dringender Handlungsbedarf.»

Hospental musste zum Amtszwang greifen

Marie-Therese Regli (72) überrascht das nicht: «Niemand will mehr mitmachen!» Die Wirtin des Restaurants Krone im urnerischen Hospental hat zwanzig Jahre das Sozialwesen der Gemeinde geleitet. Sowohl ihr Vater als auch ihr Ehemann waren ­Gemeindepräsidenten.

«Tempi passati», sagt sie kopfschüttelnd. Im Februar musste Hospental zum Amtszwang greifen, um einen abtretenden Milizpolitiker zu ersetzen. Remo Degondo erhielt die meisten Stimmen und wurde mit 38 Jahren zum Gemeinderat. Unfreiwillig. «Dabei hat die Gemeindepräsidentin alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit es nicht so weit kommt», sagt die Wirtin konsterniert.

Man glaubt es ihr sofort. Denn Gemeindepräsidentin Renata Graf (64) ist eine resolute Frau. «Am Ende hatten wir keine Wahl», sagt die pensionierte Bankerin. «Wir mussten es tun.» Sie ist froh, dass sich der unfreiwillige Gemeinderat klaglos in ihr Team integrierte. Jammern mag sie ohnehin nicht.

«Schon mehrfach Milizdienst geleistet»

«Wir haben 197 Einwohner», stellt sie trocken fest. «Viele hier haben schon mehrfach Milizdienst geleistet.» Und wer nicht bereits mit Arbeit und Familie ausgelastet sei, habe heute vielfältige Freizeitmöglichkeiten.

Eine Chance sieht Renata Graf im Wachstum. Sie engagiert sich dafür, junge Familien ins Dorf zu holen. Ob das funktioniert, steht noch in den Sternen.

«Auf lange Sicht wird man um eine Profes­sionalisierung nicht umhinkommen», sagt die Gemeindepräsidentin. Sie sagt es ausgerechnet in dem Jahr, das der Schweizer Gemeindeverband zum Jahr der Milizarbeit ausgerufen hat.

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