Frauen auf dem Bau erzählen
«Er stellte sich neben mich und zog sich einfach aus»

Sexuelle Belästigung, fehlende Toiletten und keine Teilzeitmöglichkeit: Vier Bauarbeiterinnen erzählen, warum so viele Frauen aussteigen, obwohl sie ihren Job lieben.
Publiziert: 25.06.2023 um 00:40 Uhr
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Aktualisiert: 25.06.2023 um 14:10 Uhr
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Lisa AeschlimannReporterin & Blattmacherin

Mobbing, Belästigung oder gar Gewalt: Davon kann praktisch jede Frau berichten, die einmal auf einer Baustelle gearbeitet hat. Mehr als die Hälfte hat sexuelle Belästigung erlebt, jede vierte sexualisierte Gewalt. Das zeigt eine neue Umfrage der Unia unter knapp 300 Arbeiterinnen.

Yelines Hofer (31), Malerin, aus Olten SO: «Die Kunden sind meist die Schlimmsten. Einmal haben wir ein Reihenhaus neu gestrichen, ich habe im Schlafzimmer einen Sockel ausgebessert. Der Mann stellte sich neben mich. Während er mit mir sprach, zog er sich aus. Seine Frau war unten in der Küche. Später ging er mir hinterher, starrte vom Türrahmen aus. Ich habe es dem Chef erzählt – aber der würde nie etwas sagen. Der Kunde zahlt ja.»

Zuerst Sprüche, dann begrapschen

Domenica Priore (55), Sanitärinstallateurin aus Egg ZH: «Ein ehemaliger Kollege wurde zudringlich. Zuerst waren es nur Sprüche, wie sexy er mich finde und so weiter. Ich sagte immer wieder, er solle aufhören, aber das stachelte ihn nur noch mehr an. Nach einem Gespräch mit dem Chef war es eine Weile ruhig, aber dann begann er, mich zu begrapschen, ich musste ihn wegstossen. Erst dann wurde er entlassen.»
Yelines Hofer: «Als wir ein Fitnessstudio strichen, hat mich der Besitzer immer wieder angefasst. Ich sagte Nein, er machte weiter. Mein Chef schickte mir ein paar Kollegen vorbei, zum Aufpassen. Es wurde nicht besser.»

Fast jede Frau auf dem Bau kennt sexuelle Belästigung. Yelines Hofer, Malerin aus Olten: «Die Kunden sind heute meist die Schlimmsten.»
Foto: Stefan Bohrer
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Domenica Priore: «‹Was machst du als Frau auf dem Bau?› oder ‹Hey, Süsse, geiler Arsch›, aber dann auch ‹Du bist trans, du bist – schön gesagt – der letzte Dreck›. Solche Sprüche höre ich immer wieder. Es ist genauso klischiert, wie man es sich vorstellt.»
Hofer: «Eine Freundin war schockiert, als sie bei einer Automechanikerin im Geschäft einen Kalender mit nackten Frauen sah. Das sei abartig. Für uns ist es normal. In jeder Bude hängen nackte Frauen. Du fragst dich gar nicht mehr. Als ich anfing, haben sie dir auf der Baustelle beim Vorbeigehen auf den Hintern geklatscht. Diese Dinge sind seltener geworden.»

Kunde wollte ausdrücklich von Mann beraten werden

Weit verbreitet, das zeigt die Umfrage, sind auch heute noch die alten Vorurteile: dass Frauen schlechter arbeiten, weil sie weniger stark seien. Viele Bauarbeiterinnen denken, sie müssten mehr leisten, um ernst genommen zu werden.

Hofer: «Ein Kunde rief an, wünschte eine Farbberatung – aber nur von einem Mann. Und das, obwohl ich mehrere Weiterbildungen in diesem Bereich habe. Es war der Bauleiter einer bekannten, grossen Institution. Warum? Keine Ahnung.»

Priore: «Als ich begann, als Frau zu leben, hat sich meine Position schlagartig verändert. Man traute mir weniger zu. Zum Beispiel wurde ein Vorschlag von mir abgelehnt. Als aber ein Kollege eine Woche später genau dasselbe vorbrachte, fanden sie diesen super.»
Hofer: «Bist du neu im Team, musst du auch heute noch präsenter sein als die Männer. Wenn ein Mann sagt, ich kann das nicht tragen, ist das weniger schlimm, als wenn ich das sage.»

Frauen noch immer eine Seltenheit in der Baubranche

Stefanie Wegmann (45), Malerin aus Trimbach SO: «Wenn man sich für diesen Beruf entscheidet, weiss man, dass man einen 20-Kilo-Farbkessel tragen können muss. Mich haben die Resultate der Umfrage erschreckt. Ich arbeite in einem Frauennetzwerk, wir sind alle selbständig. Wir mussten Belästigungen zum Glück nie erleben. Wenn wir auf die Baustelle kommen, sind wir der Chef.»

Domenica Priore: «Früher war meine Arbeit als Sanitätsinstallateurin körperlich sehr anstrengend. Dann wurde das Material leichter – statt Stahl verwendet man Kunststoff, es gibt Hebehilfen. Die Zeiten vom Drauflostragen sind vorbei.»

Frauen sind in der Baubranche noch immer eine Seltenheit: Gipserinnen oder Maurerinnen gibt es kaum. Und doch hat sich ihr Anteil in den letzten Jahren erhöht: Im Malergewerbe beispielsweise ist mittlerweile jede fünfte Fachkraft eine Frau. Aber die Strukturen sind weiterhin auf Männermannschaften ausgelegt: Getrennte Garderoben gibt es kaum, im Baunebengewerbe, beispielsweise bei Malerinnen, sind Toiletten eine Seltenheit.

«Die WC-Situation ist schlimm»

Priore: «Damit ich mich am Arbeitsplatz in Ruhe umziehen kann, bin ich morgens immer die Erste und abends die Letzte.»

Hofer: «Die WC-Situation ist schlimm. Gewisse Frauen trinken den ganzen Tag nichts. Die Kollegen behelfen sich mit leeren Farbkesseln. Wenn du in der Nähe arbeitest, kannst du zurück ins Büro, sonst ins nächste Restaurant. Im alten Geschäft hat mir der Chef Stunden abgezogen, wenn ich dafür die Baustelle verliess. Bei uns gibt es den bekannten Spruch: Man kommt ausgeschissen zur Arbeit. Aber was tust du, wenn du deine Tage hast? Ich habe den Tampon auch schon im Keller gewechselt – oder im Auto. Desinfektionsmittel habe ich immer dabei. Den meisten Chefs ist es egal. Da hört man: ‹Tu nicht schwierig› oder ‹Die Baustelle ist nur für diese Woche›.»

In der Unia-Umfrage gaben neun von zehn Frauen an, dass Beruf und Familie in der Branche kaum vereinbar seien: Sie wünschen sich mehr Teilzeitstellen und bessere Regeln. Kaum sonst wo ist Teilzeitarbeit verpönter als auf dem Bau. Nicht einmal grosse Firmen bieten sie an, und wenn doch, ist es häufig Arbeit auf Abruf. Das hat Folgen: Viele Frauen steigen aus, wenn sie Kinder bekommen.

«Fast alle Frauen, die ich kenne, steigen aus»

Brigitte Angele Hanselmann (50), Malerin aus Bubikon ZH: «Ich war 26 beim ersten Kind, ich habe bis zum siebten Monat voll gearbeitet. Mein Mann war noch im Studium, finanziell war es sehr knapp. Ich musste also nach der Geburt weiterarbeiten, auf Abruf, hier und da ein bisschen, was ging. Mein ganzer Lohn ging in die Kinderbetreuung. Ich habe nur dank der Familie im Beruf bleiben können. Mein Vater war Maler, mein Bruder auf dem Bau. Ich konnte fürs Familienunternehmen arbeiten. Teilzeit anderswo wäre nicht möglich gewesen – keine Chance. Es ist ja auch kompliziert. Was, wenn dann plötzlich das Kind krank ist? Dann bleibt auch heute noch die Mutter zu Hause.»

Yelines Hofer: «Fast alle Frauen, die ich kenne, steigen aus. Sie schulen um, gehen putzen oder servieren. Ich überlege mir schon, ob ich Kinder will, weil ich weiss, dass es sehr schwierig werden würde. Wenn sich jemand für 100 Prozent bewirbt und jemand für 80, dann nehmen sie den für 100. Teilzeit bedeutet Mehraufwand. Die Chefs haben kein Interesse, sich damit auseinanderzusetzen, sie selbst werden ja nicht schwanger. Doch sie müssten sich ändern. Es wird immer schwieriger, gute und zuverlässige Leute zu finden.»

Teilzeit könnte viele Probleme lösen. Die Branche leidet massiv unter Fachkräftemangel: Im Bausektor sind momentan 13'300 Stellen offen, nur Pflegende sind gesuchter. Eine neue Studie zeigt, dass bis 2040 jede sechste Stelle auf dem Bau unbesetzt bleiben wird.

Nach der strengen Arbeit Kinder betreuen geht nicht

Stefanie Wegmann: «Als Selbständige können wir Teilzeit arbeiten. Wir sprechen uns ab. Bei Grösserem helfen wir einander aus. Unser Beispiel zeigt, dass es geht. Warum das noch so selten ist? Vielleicht, weil man es bis jetzt so gemacht hat und es so bleiben soll.»
Angele: «Seit fünf Jahren arbeite ich wieder mehr. Die meisten Frauen sagen mir auch heute noch, wenn sie Familie haben, könnten sie eh nicht mehr arbeiten. Ich verstehe es. Nach der strengen Arbeit noch Kinder betreuen, das passt nicht. Es ist einfacher, zu Hause zu bleiben.»

Hofer, Wegmann, Angele und Priore lieben ihren Job – trotz der widrigen Umstände. Sie alle sagen, es habe sich etwas verändert, verbessert.

Wegmann: «Es wurde sauberer. Früher haben die Leute zum Znüni und über Mittag Bier getrunken. Das kommt heute nicht mehr vor.»

Hofer: «Heute muss – und würde – ich mir nicht mehr so viel gefallen lassen. Ich wollte schon mehrmals aufgeben, merkte aber, dass Beruf und Umstände zwei verschiedene Dinge sind. Wenn es nicht mehr geht, wechsle ich die Bude. Ich mache den Beruf gerne, darum weiss ich, ich bin nicht so schlecht. Das hilft.»

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