Jeder dritte Arzt fühlt sich ausgebrannt
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Gefahr für Patienten
Jeder dritte Arzt fühlt sich ausgebrannt

Eine noch unveröffentlichte Umfrage zeigt: Viele Spitäler missachten das Arbeitsgesetz. Spardruck und Bürokratie-Stress treiben Hunderte Ärzte an den Rand eines Burn-outs. Das bringt auch Patienten in Gefahr.
Publiziert: 09.05.2020 um 23:57 Uhr
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Aktualisiert: 01.03.2021 um 10:02 Uhr
Fabian Eberhard

Sie sind die Helden dieser Tage: Ärztinnen und Ärzte, die Überstunden schieben und in den Spitälern ums Überleben von schwer kranken Menschen kämpfen. Wie sehr viele von ihnen dabei an Grenzen stossen – und das nicht nur während der Corona-Pan­demie –, zeigt jetzt eine noch un­veröffentlichte Umfrage, die dem SonntagsBlick vorliegt.

Der Verband der Schweizerischen Assistenz- und Oberärzte (VSAO) hat zwischen Januar und März landesweit knapp 3000 Ärzten aus regionalen, kantonalen und Universitätsspitälern den Puls ­gefühlt. Die Diagnose schreckt auf.

62 Prozent aller befragten Assistenz- und Oberärzte arbeiten mehr, als gesetzlich erlaubt wäre. Jeder zweite gibt an, die im Arbeits­gesetz festgeschriebene Höchstarbeitszeit von 50 Stunden pro Woche nicht einzuhalten – ein ­klarer Rechtsbruch. Hochge­rechnet auf ein Vollzeitpensum ­beträgt die wöchentliche Arbeitszeit durchschnittlich 56 Stunden. Jeder Zehnte arbeitet gar regelmässig mehr als 61 Stunden pro Woche.

Viele Ärzte arbeiten bis zum Umfallen. Das zeigt eine Umfrage des Verbandes Schweizerischer Assistenz- und Oberärzte (VSAO) bei 3000 seiner Mitglieder.
Foto: keystone-sda.ch
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Hinzu kommt: Überstunden werden oft nicht gemeldet, obwohl rund 70 Prozent der Befragten die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit teils um bis zu zehn Stunden oder mehr überschreiten.

Rigorosere Kontrollen

Der grosse Druck in den Spi­tälern geht nicht spurlos an den Ärzten vorüber. Auch das zeigt die Umfrage. 56 Prozent der Medi­ziner geben an, sich meistens oder häufig müde zu fühlen. Ebenso oft fühlt sich ein Drittel der Befragten ausgelaugt und emotional sowie körperlich erschöpft. 15 Prozent denken laut Umfrage gar meistens oder häufig: Ich kann nicht mehr!

VSAO-Präsidentin Anja Zyska warnt: «Die Situation ist besorgniserregend.» Überrascht ist sie allerdings nicht. Denn vergangene Umfragen in den Jahren 2014 und 2017 haben ähnliche Resultate hervor­gebracht. Die Einhaltung des Arbeitsgesetzes müsse in den Spitälern deshalb endlich rigoroser kontrolliert werden, sagt Zyska – mit Sanktionen bei Verstössen.

Doch warum arbeiten viele Ärzte bis zum Umfallen? Die Verbandspräsidentin ortet mehrere Gründe. Einer davon: der teils massive Spardruck. «Geld darf aber kein ­Argument sein, um ungesetzliche und ungesunde Arbeitsbedingungen gutzuheissen.»

Junge Ärzte mit Burn-out-Symptomen

Mitverantwortlich sei aber auch die Bürokratie. Die administrative Belastung habe in den letzten ­Jahren stark zugenommen – auf Kosten der Patienten. Tatsächlich ­verbringen Spitalärzte mittlerweile nur noch ein Drittel ihrer Arbeitszeit mit der medizinischen Betreuung.

Zyska plädiert deshalb unter anderem für mehr Personal, auch wenn das den Prämienzahler etwas kostet. Die Folgen des Rendite­denkens – gesundheitlich bedingte Personalausfälle oder Berufsausstiege – kämen am Ende viel teurer zu stehen, als Investitionen in den Arbeitnehmerschutz.

Dass vor allem junge Ärztinnen und Ärzte zunehmend von Burn-out-Symptomen betroffen sind, registriert auch das ärztliche Sorgen­telefon Remed. Das Netzwerk, getragen von der Ärzteorganisation FMH, unterstützt Mediziner in Krisen.

Arbeitsalltag als Tortur

2019 wandten sich 162 Ärzte an die Berater – so viele wie noch nie seit der Gründung vor mehr als zehn Jahren. Zu den häufigsten Gründen für einen Anruf gehörten Burn-out, Depression und Belastung am Arbeitsplatz.

Das Sorgentelefon angerufen hat auch Melanie S.*, eine 32-jährige Internistin. «Ich glaubte auseinanderzufallen», schildert sie den Zeitpunkt, als sie den Hörer in die Hand nahm. «Mein Herz raste, der Schweiss klebte das T-Shirt auf mir fest, mir war schwindlig.»

Der Arbeitsalltag war für S. nichts ­anderes mehr als eine Tortur. Die Anspannung, die Ängste, der Stress – und Vorwürfe wegen ­ihrer Überstunden.

Eigentlich sei es ihr Kindheitstraum gewesen, Ärztin zu werden, Menschen zu helfen. Vor allem Kindern, um die sich niemand kümmert. Doch nun schaffte S. es nicht einmal mehr, auf ihre Patienten einzugehen. Sie wollte den Job an den Nagel hängen. Das Sorgentelefon half ihr runterzukommen. Und die Berater vermittelten ihr eine Psycho­therapie.

Hohe Qualität nur mit guten Arbeitsbedingungen

Gestresste Ärzte wie S. bringen nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern auch die Patienten. In der Umfrage des VSAO gibt jeder zweite Befragte an, in den letzten zwei Jahren Gefährdungen durch übermüdete Ärzte erlebt zu haben.

Ein Ergebnis, das auch die Schweizerische Patientenorgani­sation (SPO) aufschreckt. Geschäfts­leitungsmitglied und selbst Facharzt für innere Medizin, Daniel ­Tapernoux, sieht dringenden Handlungsbedarf. «Hohe Qualität in den Spitälern ist nur mit guten Arbeitsbedingungen möglich», sagt er. Der Druck auf die Ärzte sei vielerorts gross. Sie arbeiten viel und müssen ­dabei auch ökonomische Vorgaben erfüllen. Das habe Auswirkungen auf die Sorgfalt. «Es ist problematisch, wenn ein Arzt nach 14 Stunden im Dienst und unter Stress Beschlüsse treffen muss, die über Leben und Tod entscheiden.»

Doch oft gehe es auch um kleine, zwischenmensch­liche Dinge. «In unserem Beratungsalltag treffen wir regelmässig auf Patienten, die sich von einem Arzt nicht ernst genommen fühlen», sagt Tapernoux. Das dürfte laut dem Patientenschützer damit zusammenhängen, dass gestressten und übermüdeten Ärzten manchmal die Geduld und das Einfühlungsver­mögen abhandenkomme.

Unterstützung aller Beteiligten

Rolf Gilgen, Präsident der Schweizerischen Spital­direktoren, kennt die Problematik. Er stellt aber klar: «Die Patienten­sicherheit steht an oberster Stelle.» Kein Spital könne sich Arbeitsbedingungen leisten, die diese gefährdeten.

Gleichzeitig räumt er ein: «Die Einhaltung der Arbeits- und Ruhezeitvorschriften ist im Spitalalltag eine Herausforderung.» Um diese zu meistern, benötige es die Unter­stützung aller Beteiligten, auch ­diejenige der Ärztinnen und Ärzte.

Als Arbeitgeber gestalte man die Bedingungen und Arbeitsabläufe so, dass Überbeanspruchungen vermieden werden können. Ins­besondere der administrative Aufwand, der in den letzten Jahren ­zugenommen habe, fördere die ­Zufriedenheit allerdings mit Bestimmtheit nicht.

*Name geändert

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