Geheimsache EU-Rahmenvertrag
Die wichtigsten Zahlen verschweigt der Bundesrat

Die Landesregierung will das Parlament nicht über die Folgen einer Ablehnung informieren. Auch im Falle der viel diskutierten Unionsbürgerrichtlinie fehlen konkrete Szenarien.
Publiziert: 16.05.2021 um 01:00 Uhr
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Aktualisiert: 16.05.2021 um 12:28 Uhr
Camilla Alabor und Simon Marti

Jeder findet etwas, was ihm am Rahmenabkommen nicht passt. Von rechts (Souveränität!) bis links (Lohnschutz!) wird das Abkommen genüsslich zerzaust und zerredet. Es würde an ein Wunder grenzen, sollten die Schweiz und die EU diesen Vertrag noch unterzeichnen.

Was aber würde passieren, wenn das Abkommen vom Tisch ist? Mit welchen Folgen wäre zu rechnen? In der Verwaltung kursiert ein Dokument, erarbeitet von allen sieben Departementen, das Antworten auf diese Fragen skizziert. Und das aufzeigt, welche Gegenmassnahmen die Schweiz treffen kann.

Es sind Antworten, die der Bundesrat lieber für sich behält. Auf Antrag von Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (57) verlangte die Aussenpolitische Kommission (APK) des Nationalrats Anfang Mai Einblick in das Geheimpapier (SonntagsBlick berichtete). Am Mittwoch entschied die Landesregierung aber, dieser Aufforderung keine Folge zu leisten. Dies bestätigen mehrere gut informierte Quellen. Das Geheimpapier bleibt also geheim, die Aussenpolitiker des Nationalrats tappen im Dunkeln. Vorerst zumindest.

Bundespräsident Guy Parmelin und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: Was passiert, wenn das Abkommen scheitert?
Foto: picture alliance / AA
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Zusammenarbeit innerhalb des Bundesrats schwierig

In der Europapolitik ist nicht nur die Zusammenarbeit innerhalb des Bundesrats schwierig. Auch die Zusammenarbeit zwischen der Landesregierung und dem Parlament sei schon länger angespannt, sagt APK-Präsidentin Tiana Angelina Moser (42, GLP). «Der Bundesrat will nicht in der notwendigen Breite über das Rahmenabkommen und die Folgen einer Ablehnung informieren. Das ist aber eine zwingende Voraussetzung bei einem derart wichtigen Entscheid.» Nun sei es an ihrer Kommission, über das weitere Vorgehen zu entscheiden.

Dort stehen die Zeichen auf Konfrontation: «Das Parlamentsgesetz gibt uns das Recht, sämtliche Informationen einzufordern. Und ich gehe schwer davon aus, dass die Kommission auf diesem Recht beharrt», sagt der Zürcher SP-Nationalrat Fabian Molina (30). Am Ende, so sieht es das Parlamentsgesetz vor, müsste das Ratspräsidium diesen Konflikt zwischen Regierung und Parlament entscheiden.

Dabei drängt die Zeit: Der Bundesrat verlangt von Brüssel unmissverständlich ein Entgegenkommen. Andernfalls scheint er gewillt, das Abkommen ein für alle Mal zu beerdigen. Um dies zu verhindern, hat Mitte-Bundesrätin Viola Amherd (58) diese Woche in letzter Minute einen Rettungsplan lanciert, wie der «Tages-Anzeiger» berichtete.

Unionsbürgerrichtlinie: Darum gehts

Derzeit beschränkt sich die Per­sonenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU auf Arbeitnehmer und Selbständige – Personen also, die erwerbstätig sind. Innerhalb der EU-Länder gilt dagegen die Unionsbürgerricht­linie (UBRL), die EU-Bürgern weitergehende Rechte verleiht. Der Bundesrat befürchtet eine Einwanderung in die Sozial­werke, sollte die Schweiz die UBRL ­übernehmen müssen. Zwei ­Beispiele veranschaulichen dies.

Fall eins:
Heute hat ein EU-­Bürger, der nach drei Jahren Aufenthalt in der Schweiz seine Stelle verliert, ­Anrecht auf Arbeitslosen­ent­schädigung und danach auf sechs Monate Sozialhilfe. Nach dieser Frist muss er das Land verlassen. Mit der UBRL hätte die Person unbegrenzten Anspruch auf Sozialhilfe.

Fall zwei:
Heute können Bürger der Europäischen Union in der Schweiz ihre Niederlassungs­bewilligung ver­lieren, wenn sie über einen längeren ­Zeitraum Sozialhilfe beziehen. ­Gemäss UBRL haben EU-­Bürger dagegen ein Recht auf Daueraufenthalt, ­sofern sie fünf Jahre in ­einem ­anderen EU-Staat gewohnt haben – selbst wenn sie fortan Sozial-hilfe beziehen.

Derzeit beschränkt sich die Per­sonenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU auf Arbeitnehmer und Selbständige – Personen also, die erwerbstätig sind. Innerhalb der EU-Länder gilt dagegen die Unionsbürgerricht­linie (UBRL), die EU-Bürgern weitergehende Rechte verleiht. Der Bundesrat befürchtet eine Einwanderung in die Sozial­werke, sollte die Schweiz die UBRL ­übernehmen müssen. Zwei ­Beispiele veranschaulichen dies.

Fall eins:
Heute hat ein EU-­Bürger, der nach drei Jahren Aufenthalt in der Schweiz seine Stelle verliert, ­Anrecht auf Arbeitslosen­ent­schädigung und danach auf sechs Monate Sozialhilfe. Nach dieser Frist muss er das Land verlassen. Mit der UBRL hätte die Person unbegrenzten Anspruch auf Sozialhilfe.

Fall zwei:
Heute können Bürger der Europäischen Union in der Schweiz ihre Niederlassungs­bewilligung ver­lieren, wenn sie über einen längeren ­Zeitraum Sozialhilfe beziehen. ­Gemäss UBRL haben EU-­Bürger dagegen ein Recht auf Daueraufenthalt, ­sofern sie fünf Jahre in ­einem ­anderen EU-Staat gewohnt haben – selbst wenn sie fortan Sozial-hilfe beziehen.

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Prognosen sind nicht möglich

Amherd setzt bei der Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) an, dem grössten Streitpunkt zwischen Bern und Brüssel. Der Gesamtbundesrat beharrt darauf, die Übernahme weiter Teile der UBRL explizit im Vertrag auszuschliessen – nicht zuletzt aus Angst vor der Zuwanderung in die Sozialwerke. Verteidigungsministerin Amherd plädiert nun für einen Schutzmechanismus: Der Bund könnte, so ihr Vorschlag, wenn zu viele Personen aus der EU in der Schweiz Sozialhilfe beziehen, die Vereinbarung wieder ausser Kraft setzen. Ob eine Mehrheit der Regierung und letztlich die EU darauf eingehen, ist ungewiss.

Ungewiss ist auch, welche Kosten für die Sozialwerke überhaupt anfallen könnten. «Verlässliche Prognosen über die Auswirkungen einer Übernahme der UBRL sind nicht möglich», schreibt das zuständige Staatssekretariat für Migration. Die Höhe der Kosten sei nicht zu beziffern, da «von zahlreichen Variablen abhängig».

Eine Auskunft, die etliche Parlamentarier konsterniert zurücklässt. «Dass der Bundesrat keine konkreten Zahlen vorlegt, wundert mich nicht. Es passt zum Blindflug des Bundesrats im Europadossier», sagt Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter. Sie frage sich zunehmend, auf welcher Grundlage die Regierung ihre Entscheide fälle.

Gemeinden brauchen Klarheit

Grundlagen, die auch die Gemeinden gerne kennen würden. Immerhin kommen letztlich sie für einen grossen Teil der Sozialhilfe auf. SVP-Ständerat Hannes Germann (64) ist Präsident des Gemeindeverbands. Er sagt: «Unser Verband kann die finanziellen Folgen einer Übernahme der UBRL nicht quantifizieren. Das erschwert die Entscheidungsfindung in dieser Frage erheblich.» Im Schnitt fielen 60 Prozent der Sozialhilfeausgaben in den Gemeinden an, so der Schaffhauser. «Das wäre im Falle der UBRL kaum anders. Umso wichtiger wäre es, wenn der Bund zumindest eine Schätzung vornehmen würde.»

Ob nun mit Blick aufs Parlament oder auf die Gemeinden: Manche Informationen kann der Bundesrat nicht liefern, andere will er nicht liefern.

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