Um 23.38 Uhr kam der Berg
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Tondokument von 23.38 Uhr:Vor einem Jahr kam es zum Brienzer Bergsturz

Experten erstellen Minutenprotokoll dank Blick-Kamera
Was die Tonspur über den Felssturz in Brienz verrät

Die Bewohner von Brienz dürfen am Montag tagsüber ihre Häuser besuchen. Derweil leisten Geologen eine akribische Detektivarbeit, um den Berg zu verstehen. Es geht um die künftige Sicherheit von Brienz. Die Tonspur der Blick-TV-Livecam hilft bei der Aufklärung.
Publiziert: 26.06.2023 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 26.06.2023 um 14:31 Uhr
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Beat VontobelLeiter Video-Technik Blick

Die Schweiz starrte während Wochen auf den Berg oberhalb Brienz GR. Und am Ende sah niemand was. Es geschah in der pechschwarzen Nacht auf den Freitag, 16. Juni. Nur zwei Tage vor Leermond: Ein «sehr grosser Teil» der Felsmassen löste sich, der Schuttstrom verfehlte das Dorf haarscharf.

Das Bild der Kamera, die von Blick TV aufgestellt wurde, war schwarz. Nur die Tonspur des Ereignisses lässt eindrücklich erahnen, was da oben los war.

Experten wollen Ereignis rekonstruieren

Aufnahmen, die nun bei Experten heiss begehrt sind. Andrea Manconi, Geophysiker am SLF Davos (Institut für Schnee- und Lawinenforschung), fragte als Erster nach der kompletten Tonspur: «Jeder zusätzliche Sensor hilft uns, die Ereignisse zu verstehen», sagt er zu Blick.

Eine Woche nach dem Schuttstrom besuchten Geologen den Hang – ihr Ziel: Rausfinden, welche Gefahren für das Dorf Brienz nun drohen.
Foto: zVg
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Die Geologen sind auf Radar, Lasermessungen und Seismometer angewiesen, um das Ereignis rekonstruieren zu können. Und eben auf die Tonspur der Kamera. Und diese scheint sehr aufschlussreich. Dank ihr kann Blick nachzeichnen, was in der Nacht auf den 16. Juni am Bröckel-Berg geschah.

22.00 Uhr. Geologen messen beim Eindunkeln nochmals die Geschwindigkeit der Insel – die Masseinheit ist immer noch «Meter pro Tag». 40 Meter würde sie sich in den nächsten 24 Stunden bewegen. Die Kamera zeigt andauernd Steinschläge. Ausserdem ist auf der Tonspur ein Hintergrundgeräusch zu hören, das es bislang so nicht gab: das durchgehende Rollen und Tosen des Hangs in Bewegung.

23.00 Uhr. Stündlich messen die Geologen mit Laser die Position der Reflektoren im Hang. Es sollte die letzte Messung sein. Mit 80 Meter pro Tag bewegt sich nun der Hang – doppelt so schnell wie vor einer Stunde. Die Kamera hätte aber weiterhin nur Stein- und Blockschläge gezeigt.

23.28 Uhr. Plötzlich misst das Radar eine rapide Beschleunigung der Gesteinsmassen unterhalb der Insel. Jetzt wäre die Bewegung wohl zum ersten Mal mit blossem Auge zu erkennen gewesen, auch ohne Zeitraffer. Aber auch die Nachtsichtgeräte von Krisenstab und Zivilschutz helfen in der absoluten Dunkelheit nicht. Das Einzige, was sie erkennen, sind die hellen Punkte der Laser-Reflektoren im Hang. Der grosse Schuttstrom beginnt sich seinen Weg zu bahnen. Das Hintergrundtosen nimmt auf einen Schlag zu.

23.35 Uhr. Auf der Nachtsichtkamera verschwinden die ersten hellen Punkte der Laser-Reflektoren oben am Hang. Mitgerissen vom immer schnelleren Geröll. Die grünen Wiesen und die Kantonsstrasse am Fusse des Berges dürften noch unversehrt sein, auch das Spritzenhäuschen steht wohl noch.

23.37 Uhr. Jetzt kollabiert die Insel und stürzt endgültig ab. Auf der Nachtsichtkamera verschwinden auch die Punkte der Laser-Reflektoren weiter unten im Hang. Der langsamere Schuttstrom erreicht die Kantonsstrasse.

23.38 Uhr, 0 Sekunden. Der Schuttstrom schiebt das Spritzenhäuschen vor sich her, begräbt es unter sich. Gleichzeitig krachen von oben riesige Brocken auf die sich auftürmenden Schuttmassen. Der Abbruch der Insel hat zusätzlich zum langsameren Schuttstrom einen Felssturz ausgelöst. Beides kommt fast gleichzeitig unten an. Der Felssturz geschieht jetzt mit 80 km/h, nicht 80 Meter pro Tag. Sogar im 20 Kilometer entfernten Davos registriert der Erdbebensensor Erschütterungen, die einer Magnitude von 1,5 entsprechen würden. Das Mikrofon der Kamera übersteuert.

23.38 Uhr, 43 Sekunden. Der Schuttstrom und der Felssturz kommen zum Stillstand. Ein Schuttkegel hat sich gebildet, aufgetürmt auf bis zu 25 Meter. Es ist im Wesentlichen das Bild, das wir vom nächsten Morgen kennen. Entstanden in gerade einmal 40 Sekunden.

23.39 Uhr, 5 Sekunden. Das Ereignis hat eine Staubwolke erzeugt. Sie rollt jetzt über die Kamera. Das Bild wäre am Tag wohl weiss bis grau gewesen. Das Mikrofon fängt auf, wie Staub und Partikel auf die Kamera regnen.

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Ein Schuttstrom und ein Felssturz

Dann wird es wieder ruhiger. Keine Minute nach dem Donnern nehmen die Grillen ihr Konzert wieder auf. Man hört über Stunden noch einzelne Blockschläge von oben aus dem Hang. Unten das Geräusch des sich setzenden Schuttkegels. Bis jeder Stein einen einigermassen stabilen Platz gefunden hat. Ein paar Mal krachts noch. So um 1 Uhr. Aber keine Druckwelle, keine Staubwolke, die auf die Kamera regnet. Und es gibt keinen Ausschlag in den hohen Frequenzen. Das war der Beweis, dass die Gesteinsmassen um 23.38 Uhr nahe auf die Kamera zurollten. Denn hohe Frequenzen werden in der Luft schon auf viel kürzeren Distanzen gefiltert. Am Bild des unteren Schuttkegels haben diese Ereignisse wohl nur noch wenig verändert.

Simon Löw, emeritierter ETH-Professor und externer geologischer Berater des Krisenstabes, hält die Rekonstruktion für plausibel: «So oder sehr ähnlich könnte es sich abgespielt haben», sagt er gegenüber Blick. Und legt Wert darauf, dass es zwei Ereignisse waren. Ein langsamerer Schuttstrom und ein grösserer Felssturz. Was genau wie viel zum Schuttberg beigetragen hat, wird noch ermittelt. Im vorderen Teil der Zunge ist eher weiches Gestein aus dem unteren Bereich der Insel zu sehen.

Das Ereignis kam überraschend schnell

Und tatsächlich spielt es eine Rolle herauszufinden, wie sich das Ereignis in Brienz GR zugetragen hat. «Das ist sehr relevant», sagt Löw. «Wir waren ehrlich gesagt schon etwas überrascht, wie schnell sich die Situation entwickelte.» So schnelle Entwicklungen lassen keine Zeit für kurzfristige Evakuierungen.

Am vergangenen Freitag kam dann ein erstes, grösseres Aufatmen, als Geologen das Gelände vor Ort untersucht haben: «Der Schuttkegel sieht in seiner aktuellen Form recht stabil aus.»

Doch der Berg gibt trotzdem noch Anlass zur Sorge, räumt Löw ein. Er war mit den Geologen von Frühwarndienst und Kanton auch oben auf dem Plateau über dem Hang. «Das scheint bedeutend weniger stabil», so Löw. Es bestehe durchwegs aus sprödem Dolomit. Anders als beim weicheren Gestein unten im Hang, wäre hier ein Fliessen als Schuttstrom von Beginn weg nicht zu erwarten. Der Dolomit würde urplötzlich abbrechen – im schlimmsten Szenario entstünde daraus ein Bergsturz. Die Gefahr in Brienz ist noch nicht gebannt.

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