Mehr häusliche Gewalt in der Schweiz wegen Corona
8:46
Der Fokus auf Blick TV:Mehr häusliche Gewalt in der Schweiz wegen Corona

Häusliche Gewalt nimmt zu
Krisenopfer Frau und Kind

Die Fälle häuslicher Gewalt nehmen in der Schweiz seit Jahren zu. Corona und Lockdown haben die Situation noch einmal verschärft. Das bekam auch die Polizei zu spüren, die öfter zu Hilfe eilen musste.
Publiziert: 23.03.2021 um 01:22 Uhr
|
Aktualisiert: 23.03.2021 um 21:47 Uhr
Michael Sahli, Johannes Hillig

Die am Montag publizierte Kriminalstatistik belegt, was seit Ausbruch der Pandemie nur vermutet wurde: Im Schatten des Coronavirus breitet sich in der Schweiz häusliche Gewalt aus. Im Corona-Jahr 2020 gab es über 20 Prozent mehr versuchte Tötungen als im Jahr zuvor. Vergewaltigungen nahmen um fünf Prozent zu. Es gab über 6500 Tätlichkeiten, 4200 Drohungen, 3800 Beschimpfungen und 2100 Körperverletzungen. Das Hilfswerk Terre des femmes spricht von «schockierenden» Zahlen.

Allein in den letzten Tagen kam es gleich zu mehreren Femiziden in den eigenen vier Wänden. In Schafisheim AG tötete ein Ehemann seine Frau. in Bussigny VD erschoss ein 52-Jähriger seine Freundin – und dann sich selbst.

Auch andere Kennzahlen sehen verheerend aus: Nötigung plus 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, Entführung und Freiheitsberaubung plus 13 Prozent, Schändung plus 42 Prozent!

Erst vor wenigen Tagen gab es wieder einen Fall mit tödlichem Ausgag: Der 46-jährige Ardit S. tötete seine Frau.
Foto: Keystone
1/5
«Häusliche Gewalt ist sehr komplex»
2:29
Psychotherapeutin Frossard:«Häusliche Gewalt ist sehr komplex»

«Manche Opfer stumpfen mit der Zeit ab, nehmen die Misshandlungen hin»

Das Perfide: Die häusliche Gewalt breitet sich in den eigenen vier Wänden aus – dort, wo sich die Opfer sicher fühlen sollten. Drei Viertel der gemeldeten Fälle betreffen Partner oder Ex-Partner. Jeder fünfte Fall betrifft Eltern oder Kinder.

Das Resultat ist eine enorme Dunkelziffer. Und eine Mauer des Schweigens bei den Opfern: Mehr als drei Viertel gehen nicht gegen ihre Peiniger vor.

Die Gründe sind verschieden. «Manche Opfer stumpfen mit der Zeit ab, nehmen die Misshandlungen hin. Andere wollen nicht, dass die Familie zerbricht, oder haben Angst, die Kinder zu verlieren, wenn sie Anzeige erstatten und es zu einem Prozess kommt», sagt der forensische Psychiater Thomas Knecht zu BLICK.

«Homeoffice, Kinder zu Hause betreuen – das bietet viel Konfliktpotenzial»

Jede Gewalttätigkeit in den eigenen vier Wänden ist ein Einzelfall, so Knecht. Was aber immer gleich ist: Den Opfern fällt es schwer, gegen den Gewalttäter in der eigenen Familie vorzugehen. «Anzeige zu erstatten, ist ein schwieriger Schritt für Opfer häuslicher Gewalt, der viel Mut und Kraft braucht», so der Forensiker.

Die Auslöser für die Gewaltzunahme scheinen im Pandemie-Jahr klar. «Sicherlich waren und sind für viele Familien Corona und die Lockdowns eine Doppelbelastung. Homeoffice, Kinder zu Hause betreuen – das bietet viel Konfliktpotenzial», so Knecht.

Tatsächlich zeigen die Zahlen, dass zum Beispiel während des ersten Lockdowns die Gewaltzunahme besonders hoch war.

Der Trend zu mehr häuslicher Gewalt ist aber älter als das Virus: 2017 wurden 17'024 Fälle registriert, zwei Jahre später 19'699.

18 Einsätze pro Tag wegen häuslicher Gewalt

Dem Psychiater ist wichtig zu erwähnen: Es gibt niederschwellige Hilfsangebote, ein Opfer muss nicht gleich die Polizei alarmieren. «Zwischen gar nichts tun und Anzeige erstatten können Betroffene sich Hilfe bei Verwandten, Freunden oder Bekannten holen.» Und: «Wenn alle Stricke reissen, dann gibt es noch die Möglichkeit, ins Frauenhaus zu flüchten.»

Ein anderes Mittel gegen die Gewaltepidemie: Die Behörden müssen schneller eingreifen. Ein Ansatz, der im Kanton Zürich verfolgt wird, wie Sicherheitsdirektor Mario Fehr (62) erklärt. «Die Kantonspolizei ist öfter ausgerückt und hat noch schneller interveniert. Wir haben zehn Prozent mehr Rayonverbote ausgesprochen.»

«Ein gravierendes Problem»
2:25
Mario Fehr:«Ein gravierendes Problem»

Corona-Taskforce sieht Handlungsbedarf

Man nehme jeden Hinweis sehr ernst, so der SP-Politiker. «Im Kanton Zürich rückte die Polizei 18-mal pro Tag wegen häuslicher Gewalt aus. Im normalen Durchschnitt ist es 15-mal. Das ist ein gravierendes gesellschaftliches Problem.»

Auch die Corona-Taskforce hat Handlungsbedarf erkannt. Sie ruft Gewaltopfer, Angehörige oder Nachbarn dazu auf, sich bei der Opferhilfe oder der Polizei zu melden. Sie begrüsse ausserdem die Überlegungen der Sozialdirektorinnen- und Sozialdirektorenkonferenz, eine zentrale Telefonnummer für Opfer von Gewalt einzuführen.

Sicher scheint nur: Auch wenn das Coronavirus hoffentlich bald verschwindet – die Gewalt in Schweizer Beziehungen wird bleiben.

«Am Anfang der Krise war bei uns Totenstille»
1:34
Sozialarbeiterin in Zürich:«Am Anfang der Krise war bei uns Totenstille»
Was tun bei häuslicher Gewalt?

Häusliche Gewalt hat viele Gesichter. Ein Patentrezept für Betroffene gibt es darum nicht. Eine ganze Liste mit Anlaufstellen und Tipps findet sich auf der Homepage der Schweizerischen Kriminalprävention (www.skppsc.ch) unter dem Punkt «Fokus Gewalt».

Darunter: https://www.opferhilfe-schweiz.ch/de/

Der wohl wichtigste Ratschlag für Opfer: «Wenn Sie sich bedroht fühlen oder sich gar schon in einer akuten Gewaltsituation befinden, rufen Sie die Polizei.» Dazu finden sich Kontaktadressen von Frauenhäusern und Opferberatungsstellen – auch für gewaltbetroffene Männer.

Aber nicht nur die Opfer finden Hilfe: Auch für Täter gibt es Anlaufstellen und Lernprogramme zur Gewaltprävention. Auch wer Zeuge von häuslicher Gewalt wird – zum Beispiel als Nachbar –, findet hier Ratschläge.

Häusliche Gewalt hat viele Gesichter. Ein Patentrezept für Betroffene gibt es darum nicht. Eine ganze Liste mit Anlaufstellen und Tipps findet sich auf der Homepage der Schweizerischen Kriminalprävention (www.skppsc.ch) unter dem Punkt «Fokus Gewalt».

Darunter: https://www.opferhilfe-schweiz.ch/de/

Der wohl wichtigste Ratschlag für Opfer: «Wenn Sie sich bedroht fühlen oder sich gar schon in einer akuten Gewaltsituation befinden, rufen Sie die Polizei.» Dazu finden sich Kontaktadressen von Frauenhäusern und Opferberatungsstellen – auch für gewaltbetroffene Männer.

Aber nicht nur die Opfer finden Hilfe: Auch für Täter gibt es Anlaufstellen und Lernprogramme zur Gewaltprävention. Auch wer Zeuge von häuslicher Gewalt wird – zum Beispiel als Nachbar –, findet hier Ratschläge.

Mehr
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?