«Wir tragen sie fest im Herzen»
2:25
Jaime hat Zerebralparese:«Wir tragen sie fest im Herzen»

Ihre Tochter hat dieselbe Behinderung – Familie versteht nicht, warum Sophie (†3) aus Hägglingen AG sterben musste
«Es gibt viel mehr schöne als schwere Momente mit Jaime»

Niemanden beschäftigt der Prozess zur Kindstötung von Hägglingen AG so heftig wie Eltern schwer behinderter Kinder. «Die Aussagen der Beschuldigten machten uns sehr traurig», sagen Barbara Ochsner und Roger Dreier. Ihr Kind leidet an derselben Krankheit wie Sophie (†3).
Publiziert: 14.09.2024 um 00:03 Uhr
|
Aktualisiert: 14.09.2024 um 09:49 Uhr

Kurz zusammengefasst

  • Eltern von Jaime meistern Zerebralparese mit Liebe und Unterstützung
  • Jaime nutzt einen speziellen Computer, um durch Augenbewegungen zu kommunizieren
  • Pflegedienst dreimal wöchentlich, Krankenkasse und IV übernehmen Kosten
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

Die Urteile im Prozess rund um die Kindstötung von Hägglingen AG sind gesprochen. Beide Eltern bestraft das Bezirksgericht Bremgarten für vorsätzliche Tötung mit einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und einem Landesverweis von zehn Jahren. «Wir haben unsere Tochter erlöst», sagten Emilie T.* (31) und ihr Freund Urs D.* (33) über die Tötung ihres eigenen Sprosses.

Sie mischten der schwerbehinderten Sophie* (†3) die Droge Ecstasy in den Gute-Nacht-Schoppen. Danach erstickten sie das Kind mit einem Tuch. «Sie hätte nie ein schönes Leben führen können», sagte die Mutter vor dem Gerichtsprozess über ihre Beweggründe.

So etwas würden Barbara Ochsner (49) und Roger Dreier (50) nie sagen. Ihr Kind Jaime (15) ist mit der gleichen Behinderung auf die Welt gekommen, wie Sophie: Zerebralparese.

Die Familie versammelt sich am Esstisch. Die Dekoration vom Geburtstagsfest vergangener Woche ist noch immer zu sehen.
Foto: Beat Michel
1/13

«Sie freut sich über jedes neue Gesicht»

«Die Aussagen der Eltern haben uns sehr traurig gemacht», sagt Barbara Ochsner beim Besuch von Blick. Die Tat der verurteilten Eltern aber wollen sie nicht einordnen. «Wir kennen ihre Situation nicht. Wir können nur spekulieren, warum sie so etwas Schlimmes getan haben», sagt die Mutter.

Während des Gesprächs sitzt Jaime in ihrem Spezialstuhl am Tisch und schaut interessiert zu, dann lacht sie. «Sie freut sich über jedes neue Gesicht», sagt Barbara Ochsner. Es ist kurz nach 18 Uhr, Zeit fürs Abendessen. Es gibt Schoggijoghurt, Jaime jauchzt vor Freude. Heute Abend ist die Pflegefachfrau Stephanie Jenster (36) von der Kinder-Spitex für die Betreuung zuständig. Dreimal pro Woche darf die Familie den Pflegedienst einsetzen. Die Kosten übernehmen Krankenkasse und IV.

Später liegt das Mädchen im Bett, die Pflegefachfrau verabschiedet sich. Roger Dreier schaltet im Kinderzimmer den künstlichen Sternenhimmel an, Jaime erhält noch einen Joghurt-Drink-Schoppen mit einem beigemischten Medikament für die Verdauung. Dazu hört sie ein Märchen. Nachdem der Vater an diesem Tag das letzte Mal die Windel wechselt, wird es für Jaime ungemütlich: Sie muss sich die Beinschiene anziehen lassen. Ihren Unmut zeigt sie mit einem lauten Seufzer. «Es muss leider sein, wegen der fehlenden Muskelspannung wachsen die Beine sonst nicht gerade», sagt die Mama.

Mut zum Neubeginn

«Wir möchten gern allen Eltern Mut machen, wenn sie die Diagnose Zerebralparese erhalten. Wir lieben unsere Tochter und können das Leben trotz der schweren Behinderung geniessen», sagt Papa Roger Dreier. «Auch Jaime hat ein schönes Leben. Es gibt keinen Grund, das Gegenteil zu glauben.»

Der Logistikfachmann wurde nach der Geburt der Tochter zum Hausmann. Eigentlich wollte er nach einer gewissen Zeit wieder arbeiten, so war der ursprüngliche Plan. Doch als bei Jaime mit sechs Monaten die schwere Beeinträchtigung diagnostiziert wurde, übernahm er auch langfristig den Haushalt und die Kinderbetreuung zu 100 Prozent. «Meine Frau verdiente mehr und liebte ihren Job als Pflegefachfrau. Da war schnell klar, dass ich Hausmann werde.»

Die Hoffnung stirbt nie

Die Diagnose für die Tochter vor 14 Jahren war niederschmetternd. «Uns wurde klar, dass sich Jaime nie selbstständig bewegen können wird. Nicht selbst essen, Kleider wechseln, nicht allein sein», sagt der Vater. «Wir haben alle Phasen der Trauer durchgemacht. Doch die Hoffnung starb nie.»

Den Schritt in einen normalen Alltag schafften sie bald. «Wir erhielten rasch Informationen, bei wem wir uns Hilfe holen können», sagt Barbara Ochsner. «Ganz wichtig war die heilpädagogische Früherziehung. Hier haben wir gesehen, dass Fortschritte möglich sind.» Dann erhielt Jaime den Computer «Tobi». Das Gerät erkennt die Augenbewegungen, Jaime kann damit nicht nur Sachen steuern und Spiele spielen, sondern zum Beispiel auch erzählen, was sie in der Schule erlebt hat.

Jaime kann in die Schule

Jaime geht auch jeden Tag in die Sonderschule. Um acht Uhr bringt sie der Vater im Rollstuhl vor das Haus, hier holt sie der Schulbus ab. Zweimal pro Woche geht Jaime auch am Nachmittag in die Schule und ist im Hort. «An den Tagen habe ich Zeit für den Haushalt oder auch einfach mal für mich», sagt Papa Roger. «Sonderschule, Heilpädagogik, Kinder-Spitex: Wir haben so tolle Unterstützung, das ermöglicht uns, ein fast normales Leben zu führen», sagt Roger Dreier weiter. «Ich will möglichst viel Zeit mit Jaime verbringen. Meine Tochter ist mein Lieblingsmensch.» Ein Tattoo von ihr auf der Brust des Vaters beweist das. «So trage ich sie ganz nahe an meinem Herzen.»

Auch wenn für Barbara Ochsner und Roger Dreier die Diagnose vor 14 Jahren niederschmetternd gewesen ist; ans Aufgeben oder gar Weggeben haben sie nicht einmal gedacht. «Sie ist unser Sonnenschein. Es gibt viel mehr schöne als schwere Momente. Sie ist immer bei uns, auch in den Ferien. Das soll auch so bleiben.»

* Namen geändert 

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?