Deshalb entschied sich Stephan Brann (58) für Temporär-Arbeit
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Jetzt hat er festen Job:Deshalb entschied sich Stephan Brann für Temporär-Arbeit

Immer mehr Ältere mit befristeten Stellen
«Für mich war Temporär-Arbeit eine Chance»

Der Anteil an über 55-Jährigen mit befristeten Stellen nimmt deutlich zu. Die Gewerkschaften finden daran nichts Gutes.
Publiziert: 18.06.2023 um 11:22 Uhr
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Aktualisiert: 18.06.2023 um 13:35 Uhr
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Camilla AlaborRedaktorin

Stephan Brann (58) hatte einen guten Job. Über viele Jahre arbeitete sich der gelernte Elektroinstallateur bei der Swisscom hoch, zuletzt war er als Systemingenieur für die interne Festnetz-Telefonie zuständig. Eines Tages aber wurde ihm bewusst: «Die Stelle ist ein Abstellgleis.»

Die technische Entwicklung schritt rasend voran und drohte, seinen Job überflüssig zu machen. Doch Brann blieb seinem Fachgebiet treu: «Jemand musste die betriebsinternen Festnetzanlagen ja betreuen – bis zum bitteren Ende.»

Per 2017 ersetzte Swisscom die herkömmliche ISDN-Telefonie durch Voice-over-IP. Die internen Festnetzanlagen waren nicht länger nötig. Und 2021 verlor Brann seine Stelle.

Stephan Brann hat mit Temporärarbeit positive Erfahrungen gemacht.
Foto: Zamir Loshi
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Temporäre Stellen auf dem Vormarsch

«Ich war 57 Jahre alt und wusste: Die Arbeitswelt hat nicht auf mich gewartet», erzählt er heute. Aber, so seine Überlegung, vielleicht könnte er wieder in seinem angestammten Beruf als Elektroinstallateur arbeiten. Trotz Lohneinbussen – und obwohl sein Salär tiefer wäre als die Entschädigung der Arbeitslosenkasse. Denn zu Hause sitzen war nicht sein Ding.

Brann suchte also eine temporäre Stelle als Elektriker, «um zu schauen, ob das noch etwas für mich ist». Und siehe da: Es passte! Nach vier Monaten befristeter Arbeit wurde aus dem Temporärjob eine Festanstellung. Fortan arbeitete Brann als Elektriker auf Baustellen – wie bereits in seinen Jugendjahren.

Stephan Brann ist einer von vielen, die in den letzten Jahren temporär arbeiteten: Der Anteil an Menschen, die eine befristete Stelle annehmen, steigt seit den 90er-Jahren (Grafik unten) konstant.

1993 war nicht einmal ein halbes Prozent aller Erwerbstätigen über ein Temporärbüro angestellt. Heute sind es 2,6 Prozent. Das zeigt eine exklusive Auswertung von Swissstaffing, dem Verband der Personaldienstleister, basierend auf Zahlen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung.

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Auffällig: Besonders stark gewachsen ist das Segment der über 55-Jährigen. Ihr Anteil an allen Temporärarbeitenden hat sich seit 2015 verdoppelt: von 7 auf 14 Prozent. Ebenfalls zugenommen hat die Quote der 45- bis 55-Jährigen. Sie machen heute ein Viertel aller Temporärarbeitenden aus.

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Ariane M. Baer (48), Projektleiterin Ökonomie bei Swissstaffing, sieht das als positive Entwicklung. «In Zeiten des Arbeitskräftemangels schauen die Unternehmen, wo noch Potenzial brachliegt», sagt sie. Das sei vor allem bei älteren Personen der Fall, etwa bei Langzeitarbeitslosen oder ehemaligen Hausfrauen. «Die Temporärarbeit erlaubt beiden Seiten auszuprobieren, ob eine unbefristete Anstellung infrage kommt», so Baer. Für die Angestellten sinke zudem der Druck, die erstbeste Stelle annehmen zu müssen.

Temporärarbeit kann bei der Rückkehr zu einem festen Job helfen

Laut einer bisher unveröffentlichten Studie von Swissstaffing sucht rund ein Drittel aller Temporärarbeitenden bewusst die Flexibilität – zum Beispiel, weil sie noch studieren. Die anderen zwei Drittel sind auf Stellensuche.

Denen helfe die Temporärarbeit bei der Rückkehr zu einem festen Job, sagt Baer. «Laut unseren Zahlen finden mehr als 40 Prozent der Temporärarbeitenden innerhalb eines Jahres eine Festanstellung.» Noch höher ist die Zahl jener, die ein Jahr nach Beginn der Temporärarbeit weiterhin erwerbstätig sind: 84 Prozent haben eine feste Stelle, arbeiten befristet oder sind selbständig.

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«Sie arbeiten temporär, weil sie nichts anderes finden.»
Daniel Lampart, Schweizerischer Gewerkschaftsbund
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Völlig anders bewertet Daniel Lampart (54) vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund die Lage. Die Zunahme der Temporärarbeit bei älteren Mitarbeitern spiegle deren schwierige Situation, so der Ökonom: «Sie arbeiten temporär, weil sie nichts anderes finden.»

RAV und Unternehmen sollten besser zusammenspannen

Für Lampart kann Temporärarbeit die Situation sogar noch verschlimmern: «Wenn ältere Arbeitnehmende zwei-, dreimal eine temporäre Stelle annehmen müssen, finden sie kaum noch eine unbefristete Stelle. Denn auf dem Lebenslauf sieht das nicht gut aus.»

Deshalb sieht Lampart die Lösung nicht in befristeten Jobs, sondern im engeren Austausch zwischen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) und Unternehmen. «Die RAV sollten direkt mit den Firmen zusammenarbeiten und Stellensuchende dauerhaft vermitteln.»

Marius Osterfeld (37), Leiter Ökonomie bei Swissstaffing, widerspricht. Eine Temporärbeschäftigung biete in vielen Fällen eine Brücke, die aus der Arbeitslosigkeit in eine Festanstellung führe. «Rund ein Drittel der Personen, die temporär arbeiten, war davor arbeitslos. Ein Jahr nach dem Arbeitseinsatz sind es nur noch 12 Prozent.»

Temporärarbeit Chance oder Risiko?

Ist Temporärarbeit also vor allem eine Chance oder ein Risiko? Michael Siegenthaler (38) von der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich fragt sich, was mit den Betroffenen passieren würde, wenn es keine temporären Stellen gäbe: «Wären sie arbeitslos oder hätten sie eine unbefristete Stelle?» Ohne genauere Daten und Analysen lasse sich das kaum beurteilen, so der Arbeitsmarktexperte.

Für Stephan Brann ist die Antwort klar: «Für mich war die Temporärarbeit eine Chance.» Auch mit dem Personalverleih hat Brann positive Erfahrungen gemacht. «Innerhalb von zwei Tagen vermittelte mir die Temporärfirma eine Stelle bei einem Elektrounternehmen.»

Inzwischen hat Brann sogar eine neue Stelle gefunden: weiterhin als Elektriker, aber wieder im Telekommunikationsbereich. Sein beruflicher Hintergrund kommt ihm dabei zugute. Denn sein künftiger Arbeitgeber ist für die elektrischen Arbeiten bei der Swisscom zuständig.

Das ist kein Zufall, Brann kennt den Firmenchef aus seinen früheren Arbeitsjahren – bei der Swisscom. «Damit», sagt Brann, «schliesst sich für mich der Kreis.»


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