Impf-Skeptiker verlängern Pandemie – jetzt kippt die Stimmung
Geimpfte verlieren die Geduld

Die Politik wollte Impfkritiker bisher nicht vor den Kopf stossen. Das ändert sich gerade. Weil allmählich die Befürworter wütend werden.
Publiziert: 29.08.2021 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 29.08.2021 um 19:47 Uhr
Camilla Alabor und Sven Zaugg

Intensivmediziner suchen verzweifelt freie Betten für Covid-Patienten, die Politik diskutiert über schärfere Massnahmen und Gesundheitsminister Alain Berset (49) spricht mit finsterer Miene von einer neuen Welle.

Es fühlt sich an wie ein Déjà-vu, und doch ist alles anders. Denn heute ist Impfstoff in rauen Mengen verfügbar. Nur, viele Schweizer scheuen ihn. Sei es, weil sie dem Mittel nicht trauen. Sei es, weil sie keinen Vorteil darin sehen.

Um eine Spaltung der Gesellschaft zu vermeiden, hielt sich die Politik mit Kritik an Impfskeptikern bislang zurück. Vor drei Wochen bezeichnete Berset die Debatte um eine Ausweitung des Covid-Zertifikats noch als «bizarr». Die Absicht war klar: Man wollte die Ungeimpften nicht unnötig unter Druck setzen – aus Angst, es könnte sich als kontraproduktiv erweisen.

Intensivmediziner suchen verzweifelt freie Betten für Covid-Patienten und die Politik dis­kutiert über schärfere Massnahmen.
Foto: Keystone
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Doch das ändert sich gerade. Der Grund ist die prekäre Situation in den Spitälern. Neun von zehn Corona-Patienten auf Intensivstationen sind ungeimpft.

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Druck auf Ungeimpfte steigt

Bezeichnend für den Stimmungswechsel sind die klaren Worte von Lukas Engelberger (46). Seit Beginn der Pandemie vermittelt der Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz zwischen Bund und Kantonen, zwischen Behörden und Bevölkerung.

Jetzt sagt er: «Wir haben die Impfung auf dem Silbertablett serviert. Nun liegt es an den Bürgern, diese Chance zu nutzen.» Wer das nicht tue, könnte sich für längere Zeit zum Aussenseiter machen. «Damit schadet man letztlich sich selbst und der Gesellschaft.»

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Auch der stets nüchtern auftretende BAG-Krisenmanager Patrick Mathys (51) widersprach am Dienstag der häufig aufgestellten Behauptung, die Spitäler seien nie überlastet gewesen. «Natürlich waren die Spitäler überlastet!», stellte Mathys vor den Medien in ungewöhnlich scharfem Tonfall fest. Um sogleich nachzuschieben: «Überlastung heisst nicht, dass die Leute vor dem Spital sterben. Überlastung heisst, dass wir in eine Situation kommen, wo die Versorgung infrage gestellt ist.»

Um ebendiese Überbeanspruchung des Gesundheitssystems zu verhindern, will der Bundesrat das Covid-Zertifikat breiter einsetzen. Nur wer geimpft, genesen oder getestet ist, darf dann noch in Restaurants, Kinos, Theater oder Fitnesscenter. So wie es im nahen Ausland schon länger praktiziert wird.

Noch vor kurzem wäre ein solches Ansinnen in der Landesregierung nicht mehrheitsfähig gewesen. Nun drängen die Kantone sogar darauf. Sie wollen einen erneuten Lockdown verhindern.

Befürworter schimpfen zurück

Der Stimmungsumschwung bei den Behörden kommt nicht von ungefähr – er spiegelt im Grunde lediglich die Befindlichkeit der Bevölkerung.

Keiner kann das besser bezeugen als der Genfer Gesundheitsdirektor Mauro Poggia (62), der in Sachen Covid-Bekämpfung eine harte Linie fährt und auch mal vorschlägt, dass Corona-Patienten ihren Spitalaufenthalt selber berappen sollen.

Poggia stellt fest, dass sich die Kräfteverhältnisse in den sozialen Medien verschoben haben. «Wenn ich in den vergangenen Monaten einen Beitrag veröffentlichte, waren es in erster Linie die Impfgegner, die reagierten. Und dies zumeist sehr aggressiv.»

Das habe sich geändert. «Wenn ich heute in den sozialen Medien etwas poste, äussern sich mehr und mehr Menschen, die den Impfgegnern öffentlich widersprechen», sagt Poggia. Die Geimpften würden die Geduld verlieren. «Sie merken jetzt, dass die Rückkehr zur Normalität durch die Impfskeptiker verzögert wird.»

Inzwischen ist auch die Wirtschaft aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Erstmals seit Corona-Vakzine in der Schweiz zugelassen sind, sprachen Arbeitgeber- und Gewerbeverband diese Woche öffentlich eine Impfempfehlung aus.

Sogar in ländlichen Gebieten wagen sich Impfbefürworter zunehmend aus der Deckung. Diese Erfahrung machte der SVP-Nationalrat Mauro Tuena (49). Er besuchte am vergangenen Wochenende ein Dorffest im Kanton Zürich. «Da habe ich Leute sagen hören: ‹Ich hoffe, ihr seid alle geimpft! Und wenn ihr nicht geimpft seid, seid ihr Arschlöcher.› Oder: ‹Wegen denen, die sich nicht impfen lassen, müssen wir immer noch eine Maske tragen!›»

Das habe er so zum ersten Mal erlebt, sagt Tuena.

Corona-Skeptiker geben sich nicht geschlagen

Immer mehr Menschen in der Schweiz sehen in der Impfung den schnellsten Weg zurück zur Normalität. Diese Beobachtung macht der Basler Kantonsarzt Thomas Steffen (60): «Sie sagen sich: ‹Um das Ganze nicht weiter in die Länge zu ziehen, lass ich mich jetzt halt impfen, sonst wird es ja nie besser.›» Laut Steffen stünden viele unter dem Eindruck, sie hätten gar keine andere Option.

Und doch macht ein harter Kern von Corona-Skeptikern weiterhin gegen die Impfung mobil. Bürgerbewegungen wie «Mass-Voll» warnen angesichts einer möglichen Ausweitung des Covid-Zertifikats vor einer «totalitären Politik».

Ganz so weit will Casimir Platzer (59) zwar nicht gehen. Dennoch wehrt sich der Präsident von Gastrosuisse voller Inbrunst dagegen, dass für den Restaurantbesuch künftig ein Covid-Zertifikat nötig sein soll. Damit drohe, so Platzer, eine «Spaltung der Gesellschaft». Und: Man dürfe das Gastgewerbe nicht dazu missbrauchen, eine höhere Impfquote zu erreichen.

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Doch die Zeiten, in denen Platzer mit seinem Gepolter auf uneingeschränkte Zustimmung stiess, sind vorbei. Der Luzerner Gesundheitsdirektor Guido Graf (63) sagt: «Platzers ständige Obstruktionspolitik hängt vielen zum Hals heraus.»

Der FC Luzern habe bei Heimspielen eine Zertifikatspflicht eingeführt. «Das funktioniert bei über 13'000 Zuschauern problemlos. Und in den Restaurants soll es nicht praktikabel sein?», sagt Graf. Durch sein Verhalten verliere Platzer die Unterstützung eines grossen Teils der Bevölkerung.

Debatte verliert an Schärfe

Auch die steigende Impfquote dürfte dafür sorgen, dass Massnahmen künftig weniger kontrovers diskutiert werden. Unter den Erwachsenen machen die Geimpften mittlerweile eine deutliche Mehrheit aus. Gemäss BAG-Zahlen sind 65 Prozent der über Zwölfjährigen mindestens einmal geimpft. Auf die gesamte Bevölkerung umgerechnet, beträgt der Anteil einfach Geimpfter 57,1 Prozent.

Kantonsarzt Steffen hat den Eindruck, die Impfdebatte habe bereits an Schärfe verloren. «Als im Winter die Restaurants geschlossen wurden, erhielt ich heftige Reaktionen aus der Bevölkerung», erinnert er sich. Die Menschen hätten das Gefühl gehabt, es werde ihnen etwas Wichtiges weggenommen, ihr Sozialleben eingeschränkt. Nun, da es um die Ausweitung des Covid-Zertifikats gehe, blieben die Rückmeldungen dagegen grösstenteils aus.

Steffen ist daher verhalten optimistisch. Vor zwei Wochen habe er noch befürchtet, dass die Impfung die Gesellschaft spalten könnte, sagt der Kantonsarzt. Heute sieht er es anders: «Ich habe den Eindruck, die Debatte wird nicht mehr ganz so polemisch geführt.»

Und das ist bitter nötig.

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