Infektiologe Huldrych Günthard kritisiert das BAG scharf
«Ich will Lösungen, keine Entschuldigungen»

Der Infektiologe Huldrych Günthard kritisiert das Bundesamt für Gesundheit scharf. Noch immer fehle es an klaren Strategien im Umgang mit der Pandemie.
Publiziert: 17.07.2022 um 00:02 Uhr
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Aktualisiert: 18.07.2022 um 11:32 Uhr
Sven Zaugg

Seit Anfang Juni nimmt die Zahl der Neuinfektionen wieder zu – die Schweiz steckt mitten in einer Corona-Sommerwelle. Wie schätzen Sie die Lage ein, Herr Günthard?
Huldrych Günthard: Wir müssen akzeptieren, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist. Die Sommerwelle hat extrem an Fahrt aufgenommen. Zwar sehen wir derzeit noch keine Flut von Patienten, die wegen Covid zu uns ins Unispital kommen, wir testen aber immer mehr Personen in unseren Gesundheitseinrichtungen positiv auf das Virus. Wahrscheinlich werden wir in zwei bis vier Wochen die Spitze erreichen.

Ist Omikron BA.5 gefährlicher ist als vorherige Varianten?
In Ländern wie Portugal und Südafrika, die etwas früher von der Sommerwelle erfasst wurden, hat sich gezeigt, dass schwere Verläufe nicht zugenommen haben. Personen, die wegen Covid ans Unispital kommen, haben oft eine lange Krankenakte oder sind älteren Jahrgangs.

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Wie hat sich das Krankheitsbild gewandelt?
Die typischen Lungenentzündungen, wie wir sie zu Beginn der Pandemie behandeln mussten, gibt es bei uns nur noch selten. Offenbar hat sich in der Bevölkerung eine Grundimmunität aufgebaut. Entweder man hat sich angesteckt oder ist geimpft oder beides; zudem haben wir Frühtherapien für Hochrisikopatienten. Doch in jedem Fall nimmt die Zahl der Antikörper über die Zeit ab. Darum ist es richtig, dass die Eidgenössische Impfkommission nun den Booster für Personen über 80 empfohlen hat. Eher spät zwar, aber immerhin.

Infektiologe Huldrych Günthard: «Wir müssen akzeptieren, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist.»
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Persönlich

Huldrych Günthard (61) ist als Infektio­loge am Universitätsspital Zürich ­leitender Arzt Klinik für Infektionskrankheiten und Spital­hygiene. Er gehört zu den wichtigsten Fachpersonen des Landes. Seit Beginn der Pandemie setzt er sich für den Schutz seiner Patienten ein, plädiert für forciertes Impfen, rasches Boostern und dafür, dass ein permanenter Corona-Krisenstab eingerichtet wird.

Huldrych Günthard (61) ist als Infektio­loge am Universitätsspital Zürich ­leitender Arzt Klinik für Infektionskrankheiten und Spital­hygiene. Er gehört zu den wichtigsten Fachpersonen des Landes. Seit Beginn der Pandemie setzt er sich für den Schutz seiner Patienten ein, plädiert für forciertes Impfen, rasches Boostern und dafür, dass ein permanenter Corona-Krisenstab eingerichtet wird.

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Einmal mehr verwundern die Zögerlichkeit der Impfkommission und die hohe Altersgrenze.
Man kann lang und breit diskutieren, wo man die Altersgrenze zieht. Eine im Mai veröffentlichte Studie aus Israel zeigt, dass der zweite Booster ab 60 Jahren schon zu einer Reduktion von Hospitalisationen und Sterblichkeit führt. Medizinisch gesehen gibt es keinen Grund, so starre Altersgrenzen zu ziehen, wie es die Impfkommission macht. Man muss sich zudem überlegen, welches Signal man damit aussendet.

Wie meinen Sie das?
Es ist etwas verwirrend, wenn die Behörden das Impfen zum Königsweg erklären und dann mit dem Stoff knausern. Heute müssen die, die in die Ferien fahren, ihre Impfung selber bezahlen. Warum? Oder denken Sie an das Gesundheitspersonal, das sich schützen will, aber zum Teil sogar selbst für die Impfungen aufkommen muss. Das passt einfach nicht ins Gesamtkonzept.

Abgesehen von der Pressekonferenz zum Booster vergangene Woche ist es eigenartig still geworden beim Bundesamt für Gesundheit …
Ich verstehe, dass nach über zwei Jahren Pandemie alle müde sind: die Behörden, die Bevölkerung, die Spitäler. Die enormen Arbeitsausfälle und viele Einschränkungen haben die Gesellschaft mürbe gemacht. Genau deshalb bräuchte es eine klare und kontinuierliche Kommunikation, wie es um die Pandemie steht, welche Massnahmen man aus welchen Gründen ergreift oder eben nicht. Ein solches Konzept ist beim BAG zurzeit nicht vorhanden. Das kann in der Bevölkerung zu Verunsicherung und zu einer Verharmlosung der Infektion führen.

Aus Sicht des Infektiologen: Welche Rolle müsste das BAG übernehmen?
Es bräuchte unbedingt einen Krisenstab aus BAG-Fachpersonen und externen Spezialisten, der regelmässig und klar kommuniziert. Vorher hat die Taskforce einen Teil dieser Funktion übernommen. Wenn sich eine neue Welle aufbaut, muss man innert zwei, drei Tagen die Bevölkerung informieren und sagen, was Sache ist. Es braucht kurze Entscheidungswege und Stellen, die Verantwortung übernehmen. Das Virus nimmt keine Rücksicht auf unsere starren politischen Prozesse.

Davon ist die Schweiz aber, wie es aussieht, weit entfernt.
Offensichtlich! Das BAG müsste eigentlich über ein Budget für Notsituation verfügen, das kurzfristig von einem Expertenboard gesprochen werden kann, damit wir neue Erreger besser und schneller erforschen können. Universitäre Fachgruppen könnten sich dann mit Viruserkrankungen wie den Affenpocken oder eben Covid beschäftigen und wichtige Daten zu Ansteckung und Krankheitsverlauf sammeln.

Das Naturell des Forschers: Er will immer mehr Geld.
Ja, und? Wir wollen ja Neues herausfinden, Krankheiten verstehen, Therapien entwickeln. Das geht nun mal nicht ohne finanzielle Mittel. Erinnern Sie sich an die zweite Welle?

Sehr gut. Die Todeszahlen stiegen rasant.
Es war eine dramatische Situation. Wenn Sie miterleben, wie sich die Spitäler füllen, wenn Menschen um ihr Leben kämpfen, wenn Sie am Anfang kaum wirksame Therapien haben, wenn viele leiden und sterben, ist das für alle sehr belastend. Wir waren so am Anschlag, dass es schwierig war, auch noch Forschung zu machen. Aber wir haben trotzdem einiges geschafft, auch in der Schweiz. Leider agierte die Politik oft zögerlich, hat uns finanziell kaum unter die Arme gegriffen.

Was hat das bei Ihnen ausgelöst?
Frust, den ich mir nicht leisten kann. Ich will Lösungen, keine Entschuldigungen. Ich will einfach meinen Job machen.

Mit Blick auf Herbst und Winter: Wie ist unsere Ausgangslage?
Im Frühherbst sollten die neuen Omikron-Impfungen auf den Markt kommen. Jener von Moderna, so lese ich zumindest in Vorveröffentlichungen, erhöht den Immunisierungsgrad gegen Omikron offenbar signifikant. Das stimmt mich zuversichtlich. Damit können wir neue Wellen schneller brechen und den vulnerablen Teil der Bevölkerung besser schützen. Wir dürfen aber nicht vergessen: Impfungen machen uns nie vollständig immun gegen neue Infektionen. Deshalb müssen wir vorsorgen.

Wie?
Wir müssen uns jetzt schon überlegen, wie wir den neuen Impfstoff am schnellsten unter die Leute bringen, wenn er da ist. Da liegt der Ball wieder beim BAG und dann bei den Kantonen. Es braucht eine klare Strategie.

Eine einfache und günstige Massnahme, die jetzt schon greifen würde, wäre die Wiedereinführung der Maskenpflicht.
Das BAG müsste mal erheben, wie viele Long-Covid-Fälle mit einer abermaligen Maskenpflicht hätten verhindert werden können. Die meisten Gesundheitseinrichtungen haben die Maskenpflicht rasch wieder eingeführt. Ich selber trage in öffentlichen Verkehrsmitteln auch wieder Maske. Man muss nicht hysterisch werden, aber es geht jetzt darum, die Welle zu drücken, damit es weniger Arbeitsausfälle und weniger Long-Covid-Patienten gibt. Das ist im Interesse des ganzen Landes.

Inzwischen wissen wir, dass die Impfung mehrheitlich vor schweren Verläufen schützt, aber nicht vor Long Covid. Müsste das nicht besser kommuniziert werden?
Die Impfung reduziert das Risiko vor Long Covid schon etwas. Es scheint auch so zu sein, dass rund 50 Prozent weniger Long-Covid-Fälle auftreten bei Omikron als bei Delta, aber diese Daten sind noch nicht solide. Was uns grosse Sorge bereitet, ist die schiere Zahl der Infektionen. Wenn sich täglich 100 000 Personen anstecken und, konservativ gerechnet, fünf Prozent Long-Covid-Symptome zeigen, dann reden wir von täglich 5000 Personen mit Langzeitfolgen. Die können teilweise monatelang nicht arbeiten und werden zum medizinischen Sonderfall. Zurzeit gibt es keine spezifischen Therapien. Das dürfen wir nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Der Bund hat weder ein nationales Long-Covid-Register angelegt noch Geld für die Forschung in diesem Bereich gesprochen, wie es Patientenorganisationen und Spezialisten schon lange fordern. Können Sie sich diesen anhaltenden Blindflug erklären?
Das BAG hat Long Covid meines Wissens bisher nicht als prioritäres Problem erkannt und als solches definiert. Deshalb sind bisher auch keine grösseren finanziellen Ressourcen für diejenigen bereitgestellt worden, die sich mit Long-Covid-Forschung befassen wollen. Am Unispital betreuen wir in verschiedenen Sprechstunden auch viele Long-Covid-Patienten. Es ist aber schwierig, dies mit den bestehenden Ressourcen optimal zu leisten, da wir ja bereits ohnehin voll ausgelastet sind. Wir können eine Krankheit, die ernsthafte Konsequenzen für die Volksgesundheit hat und die wir sehr schlecht verstehen, nicht einfach so nebenher behandeln.

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