«Die Impfungen haben noch keinen Effekt»
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Infektiologe Hugo Sax:«Die Impfungen haben noch keinen Effekt»

Interview mit Infektiologe Hugo Sax zur dritten Welle
Haben wir die Lage noch unter Kontrolle?

Dass sich der Bundesrat gegen weitere Lockerungen entschieden hat, findet der Infektiologe Hugo Sax konsequent. Denn die Lage sei immer noch äusserst fragil.
Publiziert: 21.03.2021 um 11:13 Uhr
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Aktualisiert: 23.03.2021 um 07:56 Uhr
Interview: Sven Zaugg

Zwar steigt die Impfquote bei ­älteren und verletzlichen Menschen. Das allein genügt aber nicht, um das Virus zurück­zudrängen. Die Zahlen zeigen: Die Schweiz steht an der Schwelle zur dritten Welle. SonntagsBlick hat sich mit dem Infektiologen Hugo Sax über die Lage unterhalten. Was ist gleich und was ist anders im Vergleich zu den ersten beiden Wellen? Und wann dürfen wir endlich alle durchatmen?

SonntagsBlick: Herr Sax, inwiefern lässt sich die Situation im Oktober, also kurz vor der zweiten Welle, mit der aktuellen vergleichen?
Hugo Sax: Was auffällt, ist, dass Wahrnehmung und Realität nicht korrelieren. Die erste Welle fiel mit Blick auf Infektionsraten und Hos­pitalisierungen um einiges schwächer aus als die zweite, die uns mit voller Wucht traf und Spitäler samt Personal aufs Äusserste strapazierte. Trotzdem haben wir die erste Welle weitaus intensiver erlebt.

Angesichts der schwerwiegenden Konsequenzen ein irrationales Verhalten.
Nun, die Menschen besitzen diese enorme Fähigkeit, sich immer und immer wieder anzupassen. Das Neue beeindruckt uns nur für eine gewisse Zeit, dann verlieren wir das Inte­resse. Unterdessen haben wir uns ans Virus gewöhnt, es ist Teil unseres Alltags geworden. Und wir akzeptieren, dass sich mehr Menschen anstecken.

«Das Virus verbreitet sich zuerst bei den jüngeren Menschen, die hochmobil und sozial vernetzt sind – sogar während des Lockdowns. Dann trifft es ältere Er­wachsene, die ins Spital eingewiesen werden müssen. Und schliesslich kommen die schwersten Fälle auf die Intensivstation», sagt Infektiologe Hugo Sax.
Foto: Thomas Meier
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Wir stehen an der Schwelle zur dritten Welle. Lassen sich Muster von den ersten zwei Wellen ableiten?
Was gleich bleibt, ist die Art der ­Zirkulation. Das Virus verbreitet sich zuerst bei den jüngeren Menschen, die hochmobil und sozial vernetzt sind – sogar während des Lockdowns. Dann trifft es ältere Er­wachsene, die ins Spital eingewiesen werden müssen. Und schliesslich kommen die schwersten Fälle auf die Intensivstation. Hinzu kommt das exponentielle Wachstum, das für diese Pandemie typisch ist.

Warum haben wir immer noch Mühe zu begreifen, wie exponen­tielles Wachstum funktioniert?
Weil der Mensch nur auf Gefahren reagiert, die unmittelbar drohen. Wir können uns einen Kippeffekt nur schwer vorstellen, weil die Konsequenzen erst mit Verzögerung sicht- und fühlbar werden. Aber es gibt ihn. Ein Motorrad mit über 200 Kilo fühlt sich im Stehen mit einem gewissen Neigungswinkel federleicht an. Wird die Neigung jedoch nur wenig grösser, ist das Motorrad nicht mehr zu halten und kippt. So verhält sich ­exponentielles Wachstum auch in einer Pandemie. Wir ­denken intuitiv in linearen ­Dimensionen und werden überrascht, wenn die Situa­tion plötzlich eskaliert, obwohl das Verhalten der Menschen sich nur wenig geändert hat.

Im Oktober sagten Sie mir: «Wir haben die Modelle, wir kennen die Zahlen, wir wissen, wo die Cluster sind.» Haben wir daraus gelernt?
Tatsächlich bleibt der Übertragungsweg immer gleich. Halten wir Distanz, tragen Masken und vermeiden es, längere Zeit mit vielen Menschen in geschlossenen Räumen zu verbringen, hat das Virus keine Chance. Das wussten wir bereits nach der ersten Welle. Trotzdem war die Politik, als die Ansteckungsrate zu steigen begann, mit Massnahmen zu zögerlich. Darum erlebten wir einen bit­teren Winter. Man muss aber auch sagen: Bund und Kantone lernen ständig dazu. Auch das vermehrte Testen ist hilfreich, muss aber richtig durchgeführt und interpretiert werden.

Der Bundesrat hat vor weiteren Öffnungen abgesehen. Lediglich die Fünfer-Regel wurde aufge­hoben. Eine weise Entscheidung?
Ja, ich finde das konsequent. Dass verbindliche Parameter für weitere Lockerungen eingeführt wurden, schätzt die Bevölkerung. Es macht die Entscheidung der Regierung nachvollziehbar, und das schafft ­Vertrauen. Und es gibt jeder und jedem das Gefühl, die Entwicklung mit dem persönlichen Verhalten mit beeinflussen zu können.

Haben wir die Lage eigentlich noch unter Kontrolle?
Die neue, sehr aggressive britische Virusvariante, die in der Schweiz jetzt für fast 90 Prozent der Infek­tionen verantwortlich ist, bildet den Haupttreiber für die beginnende dritte Welle. Wir befinden uns in ­einer sehr fragilen Situation. Und noch haben die Impfungen keinen dämpfenden Effekt auf die An­steckungsraten.

Zunahme der Hospitalisationen erwartet

Anhand der Neuinfektionen lässt sich für die Schweiz ein klarer Trend ableiten. Seit Ende Fe­bruar steigt der 7-Tage-Durchschnitt der an­gesteckten Personen fast kontinuierlich. Dabei dominiert bei fast 90 Prozent der Infizierten die aggressivere, britische Variante. Die Genferseeregion ist der Gesamtschweiz in der Dynamik rund zwei Wochen voraus. Gleich­zeitig stagniert die Anzahl der Spitaleinlie­ferungen. Zum einen hat dies mit den Einschränkungen im öffentlichen Leben zu tun. Zum anderen hinken die Hospitalisierungen den Neuinfektionen hinterher. Laut Experten kann es bereits in ein paar Wochen zu einem markanten Anstieg kommen.

Anhand der Neuinfektionen lässt sich für die Schweiz ein klarer Trend ableiten. Seit Ende Fe­bruar steigt der 7-Tage-Durchschnitt der an­gesteckten Personen fast kontinuierlich. Dabei dominiert bei fast 90 Prozent der Infizierten die aggressivere, britische Variante. Die Genferseeregion ist der Gesamtschweiz in der Dynamik rund zwei Wochen voraus. Gleich­zeitig stagniert die Anzahl der Spitaleinlie­ferungen. Zum einen hat dies mit den Einschränkungen im öffentlichen Leben zu tun. Zum anderen hinken die Hospitalisierungen den Neuinfektionen hinterher. Laut Experten kann es bereits in ein paar Wochen zu einem markanten Anstieg kommen.

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Warum?
Bislang wurden insbesondere ältere Menschen und Menschen mit Vor­erkrankungen geimpft. Doch das ­Virus zirkuliert vor allem in der jüngeren Bevölkerungsschicht, die noch lange auf einen Impftermin warten muss. Und jede fortdauernde Multiplikation des Virus birgt die Gefahr von ­weiteren Mutationen.

Das heisst?
Wir wissen heute, dass die britische Variante ansteckender und eventuell auch aggressiver ist. Hinzu kommen bei uns noch wenig verbreitete ­Varianten. Es gibt zum Beispiel gute Hinweise, dass die aktuellen Impfstoffe gegen die in Südafrika vorherrschende Variante weniger wirksam sind. Das ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Und wir müssen damit rechnen, dass auch die Spitaleinweisungen in knapp vier Wochen wieder zunehmen werden.

Das Virus zirkuliert vor allem bei jüngeren Menschen, wie Sie sagen. Heute wissen wir immer mehr über Langzeitschäden. Wie beurteilen Sie diese Gefahr?
Die meisten Infektionen, die leicht verlaufen, heilen schnell und ohne Folgen, während sich Patienten mit Aufenthalt auf einer Intensivstation nur langsam erholen. Doch in rund 20 Prozent der leichten Fälle gibt es Langzeitfolgen mit ausgeprägter Müdigkeit, Atemnot, Husten, Konzentrationsstörungen und vereinzelt Herzmuskelschwäche, die ein normales Leben behindern.

Sie haben sich in Ihrer Arbeit mit dem Human Factor, dem menschlichen Faktor, in Krisen­situationen auseinandergesetzt. Was fällt Ihnen in dieser Krise besonders auf?
Eigentlich eine simple Erkenntnis: Immer dann, wenn es aufwärtsging, wenn wir glaubten, die Situation wieder im Griff zu haben, wurden wir nachlässig. Der Mensch ist nahezu unfähig, statistische Grössen wie Infektionsraten auf sein Leben zu münzen. Zahlen bleiben abstrakt. Nur was wir unmittelbar erleben, prägt unser Verhalten.

Persönlich

Der Infektiologe Hugo Sax (65) ist Vorstandsmitglied von Swissnoso, dem Nationalen Zentrum für Infektionspräven­tion, und Chef-Grenzarzt am Flughafen Zürich. Bis vor kurzem war er Leiter der Spitalhygiene am Unispital Zürich, wo er einst auch sein Medizinstudium absolvierte. Er ist Facharzt für Innere Medizin und Infektionskrankheiten.

Thomas Meier

Der Infektiologe Hugo Sax (65) ist Vorstandsmitglied von Swissnoso, dem Nationalen Zentrum für Infektionspräven­tion, und Chef-Grenzarzt am Flughafen Zürich. Bis vor kurzem war er Leiter der Spitalhygiene am Unispital Zürich, wo er einst auch sein Medizinstudium absolvierte. Er ist Facharzt für Innere Medizin und Infektionskrankheiten.

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