Jetzt ermittelt Swissmedic
Atemgeräte setzen Gifte frei – Hersteller wusste davon

Apnoe-Atemgeräte setzten toxische Partikel frei. Hersteller Philips reagierte jahrelang nicht – jetzt ermittelt Swissmedic.
Publiziert: 17.01.2024 um 09:05 Uhr
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Aktualisiert: 18.01.2024 um 14:50 Uhr
In der Schweiz mussten fast 30’000 Beatmungsgeräte repariert oder ersetzt werden.
Foto: Bild: Anne Seeger – Foto: Getty Images
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Otto Hostettler
Beobachter

In der Schweiz leiden mehrere Zehntausend Menschen unter Schlafapnoe. Meist sind es Männer, die nachts kurze Atemaussetzer haben und unregelmässig schnarchen. Tagsüber kämpfen sie gegen lähmende Müdigkeit, klagen über Kopfschmerzen und können sich kaum konzentrieren.

Viele nutzen deshalb Nacht für Nacht ein Beatmungsgerät – sie schnarchen nicht mehr, die Atemaussetzer fallen weg. Tagsüber sind sie wach und fit. Für weltweit rund 5,6 Millionen solcher Geräte hat der Marktführer Philips im Sommer 2021 eine «dringende Sicherheitswarnung» herausgegeben. In der Schweiz mussten fast 30’000 Beatmungsgeräte repariert oder ersetzt werden.

Bei mehreren Geräten, die vor 2021 hergestellt wurden, gab es gleich zwei Probleme. Zum einen zersetzte sich der lärmdämpfende Schaumstoff am Lufteinlass; Partikel davon können über Schlauch und Atemmaske in die Lunge der Patientinnen und Patienten gelangen. Zum anderen können bestimmte Geräte eine potenziell gesundheitsgefährdende Chemikalie freisetzen, sogenannte VOC (flüchtige organische Verbindungen).

Philips hielt über Monate eigene Zusicherungen nicht ein

Jetzt zeigen Recherchen des Beobachters: Philips wusste bereits Jahre vor dem Rückruf, dass sich der Schaumstoff zersetzt. Intern lagen detaillierte Informationen vor, dass durch das Gerät womöglich potenziell giftige Stoffe eingeatmet werden. Die Rückrufaktion selber lief unter fragwürdigen Umständen und grosser Verzögerung ab. Das belegen Dokumente von Swissmedic, die der Beobachter dank dem Öffentlichkeitsgesetz einsehen konnte.

Vier Verfügungen, mit denen Swissmedic zwischen August 2021 und Dezember 2022 den Hersteller Philips in die Pflicht nahm, zeigen: Philips hielt über Monate eigene Zusicherungen nicht ein und beantwortete wichtige Fragen zu Materialtests und zum Gefährdungspotenzial nur unvollständig oder gar nicht. 

Eines der betroffenen Apnoe-Beatmungsgeräte: Dreamstation von Philips
Foto: PD

«Mindestens 175’000 Beschwerden»

Aus den Swissmedic-Dokumenten wird auch klar: Philips hatte schon seit Jahren Kenntnis davon, dass sich der seit 2008 in verschiedenen Gerätetypen verwendete Schaumstoff auflöste und Chemikalien freisetzte. Swissmedic verweist auf «frühere Kundenreklamationen» von 2014. Und ein Bericht der US-Arzneimittelbehörde FDA, den Swissmedic zitiert, nennt 175’000 Beschwerden allein im Zeitraum 2008 bis 2017.

Die Kritik der US-Aufsicht ist deutlich: «Als Reaktion auf mindestens 175’000 Beschwerden, die möglicherweise mit zersetztem Schaum zusammenhängen, […] wurde keine formelle Untersuchung, Risikoanalyse oder Korrekturmassnahme eingeleitet, durchgeführt oder dokumentiert.» Das Fazit der zuständigen Inspektorin: «Die Analyse der Beschwerden und Meldungen über medizintechnische Geräte wurde nicht adäquat durchgeführt, um Qualitätsprobleme zu identifizieren oder zu erkennen.»

Aktenkundig ist zudem eine Risikobewertung vom Mai 2018. Damals ging es um 17 Fälle, in denen zersetzter Dämmschaum in den Beatmungsgeräten festgestellt wurde. Dokumentiert ist weiter ein Test vom Dezember 2018, bei dem sich Schaumstoff in den Geräten auflöste.

Für Swissmedic «nicht nachvollziehbar»

Im Januar 2019 verdichteten sich die Hinweise: Philips führte gemäss einem Inspektionsbericht der FDA weitere Tests durch. Das Resultat: Beim erstmaligen Gebrauch eines Atemgeräts überschritten Formaldehydverbindungen die zulässigen Grenzwerte. Aus dem Dokument der US-Behörde geht zudem hervor, dass Philips im Mai 2019 «in Kenntnis gesetzt» wurde, dass vier Atemgeräte mit zersetztem Schaumstoff an ein Servicecenter retourniert wurden. In einer «Risikobewertung» wurden daraufhin die biologischen und toxikologischen Risiken durch zersetzten Dämmschaum als «problematisch» bezeichnet. 

Im Sommer 2020 hätte Philips gemäss den Swissmedic-Dokumenten reagieren sollen. Denn spätestens zu diesem Zeitpunkt lagen dem Hersteller sogar «detaillierte Informationen» zu den Problemen vor. Trotzdem verging noch ein Jahr bis zur offiziellen Sicherheitswarnung. Ende 2020 war bei Philips sogar von einem «potenziellen Patientenrisiko» die Rede. Dazu hielt Swissmedic im August 2021 fest: «Vor diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar», warum die von den Sicherheitswarnungen betroffenen Geräte trotzdem noch bis im April 2021 «unverändert weiter hergestellt und in der Schweiz in Verkehr gebracht wurden». 

«Angebliche Fehlfunktionen»

Dann setzte eine neue Dynamik ein: Zwischen April 2021 und Ende Oktober 2022 registrierte Philips gemäss der US-Aufsichtsbehörde 90’000 Beschwerden, «darunter 260 Berichte über Todesfälle, die möglicherweise mit dem Abbau des alten Schaums zusammenhängen würden», wie Swissmedic festhält.

Der Konzern nimmt dazu gegenüber dem Beobachter Stellung: «Die Einreichung einer Beschwerde ist kein Beweis, dass das Gerät das unerwünschte Ereignis verursacht oder dazu beigetragen hat.» Und: «Bei der überwiegenden Mehrheit der Beschwerden seit April 2021 handelt es sich um angebliche Fehlfunktionen, bei denen keine schweren Verletzungen oder Todesfälle gemeldet wurden.»

Erst später von dem Risiko gewusst

Kurz nach der weltweiten Sicherheitswarnung von Philips im Juni 2021 löcherte Swissmedic den Gerätehersteller mit Fragen und forderte verschiedene «ausstehende, wichtige und zeitkritische Unterlagen» ein.

So wollte Swissmedic wissen, warum Philips die Herstellung und den Vertrieb der potenziell gesundheitsgefährdenden Geräte nicht spätestens im Juli 2020 stoppte. Denn von da datiert die Risikobewertung, die dokumentiert, dass aus dem sich zersetzenden Dämmstoff potenziell gesundheitsgefährdende Chemikalien austreten. 

Philips behauptete gegenüber Swissmedic weiterhin, erst seit Ende 2020/Anfang 2021 vom Gesundheitsrisiko gewusst zu haben, worauf Swissmedic dezidiert widersprach: «Bereits Anfang Juli 2020 lagen dem Hersteller Prüfresultate vor, welche auf potenziell gesundheitsgefährdende Stoffe mit hohem Gesundheitsrisiko hinweisen», schreibt die Behörde in einer Verfügung im Oktober 2021.

Nur wenige Geräte ausgetauscht oder repariert

Schon im August 2021 beklagte sich Swissmedic über die «ungenügende» Kooperation von Philips, zu der der Konzern eigentlich gesetzlich verpflichtet wäre. Auch zwei Monate nach Beginn der Rückrufaktion sei der Informationsstand «insgesamt unbefriedigend». Im Oktober 2021 waren von 28 aufgelisteten Fragen erst 12 beantwortet worden. 

Ausserdem hinkte Philips bei Austausch und Reparatur der fast 30’000 potenziell gesundheitsgefährdenden Atemgeräte in der Schweiz dem eigenen Zeitplan massiv hinterher. Die Aktion hatte bereits harzig begonnen: Neun Monate nach dem Rückruf waren erst elf Prozent der Geräte ausgetauscht oder repariert. 

Fast ein Jahr Verzögerung

Ursprünglich hatte Philips zugesichert, alle fraglichen Geräte bis Ende des dritten Quartals 2022 ausgetauscht oder repariert zu haben. Später wollte man die «Korrekturmassnahmen» bis Ende 2022 umsetzen. Der Austausch verzögerte sich schliesslich um fast ein ganzes Jahr. Gegenüber dem Beobachter betont Philips Ende 2023, dass die «Korrekturmassnahmen» inzwischen «nahezu bei 100 Prozent» erfolgt seien.

Die Patientinnen und Patienten bekamen die Verzögerung bei der Rückrufaktion zu spüren, wie ein Exponent einer kantonalen Lungenliga bestätigt. Er will anonym bleiben. Betroffene hätten monatelang auf ein Ersatzgerät warten müssen, und die Ärzte wussten anfänglich nur wenig über mögliche gesundheitliche Folgen der fehlerhaften Geräte. «Für alle Involvierten war es ein sehr mühsamer Prozess», sagt er. Da die meisten Betroffenen ihr Gerät über die Lungenliga mieten oder kaufen, spielte die Organisation eine zentrale Rolle bei der Rückrufaktion. Offiziell betont die Lungenliga Schweiz: Die Aktion sei «gut abgelaufen», es seien «keine weiteren Probleme zum Geräteumtausch bekannt» (siehe «Die Lungenliga und die geheime Entschädigung», unten). 

Swissmedic ermittelt

Die Sache hat für den Hersteller inzwischen juristische Folgen. Swissmedic-Sprecher Lukas Jaggi bestätigt dem Beobachter, dass sich Philips wegen möglicher Verstösse gegen das Heilmittelrecht verantworten müsse: «Aktuell läuft ein Strafverfahren.» Details dazu sind nicht bekannt, es gilt die Unschuldsvermutung.

Juristisch gibt es einiges zu beurteilen: Die Aufsichtsbehörde spricht von «schwerwiegenden Vorkommnissen» und kommt in einer Zwischenverfügung vom Juli 2022 zum Schluss: «Swissmedic erachtet diese Produkte zusammenfassend als in der Schweiz nicht verkehrsfähig.»

Kein Alterungstest für den Schaumstoff

Mehrfach kritisierte die Behörde, dass der bis 2021 verwendete Dämmschaum vor der Markteinführung der Beatmungsgeräte gar nie einem Alterungstest unterzogen worden sei. Und auch nach der Markteinführung seien solche Alterungstests gemäss Swissmedic nicht einmal geplant worden. Aus Sicht von Swissmedic waren die Atemgeräte also gar nicht «konform» im Sinne des Gesetzes.

In einer Stellungnahme gegenüber dem Beobachter betont Philips: «Die vom Rückruf betroffenen Geräte erfüllten zum Zeitpunkt ihrer Entwicklung und Markteinführung alle einschlägigen Normen.»

Philips: «Keine nennenswerten Gesundheitsschäden»

In der offiziellen Sicherheitsmitteilung vor über zwei Jahren benutzte Philips noch deutliche Worte: «Diese Probleme können schwere Verletzungen nach sich ziehen, die lebensbedrohlich sein, bleibende Schädigungen hervorrufen oder eine medizinische Massnahme erforderlich machen können.» 

Heute klingt es anders. Der Medizinaltech-Konzern schreibt dem Beobachter: «Die Verwendung der Schlaftherapiegeräte wird voraussichtlich keine nennenswerten Gesundheitsschäden bei Patienten verursachen.» Philips beruft sich auf insgesamt fünf «unabhängige, zertifizierte Prüflabors», die seit Juni 2021 «umfangreiche Tests» vorgenommen hätten. Philips betont, man arbeite «weiterhin eng und transparent» mit den zuständigen Aufsichtsbehörden zusammen. 

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