Justizvollzugsexperte zum Basler Tötungsdelikt
Wie konnte Raphael M. alle täuschen?

Thomas Manhart, ehemaliger Chef des Zürcher Amts für Justizvollzug, sagt, dass vermutlich schon die Annahme, ein Doppelmörder lasse sich therapieren, zu optimistisch war.
Publiziert: 17.08.2024 um 23:58 Uhr
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Aktualisiert: 18.08.2024 um 09:01 Uhr
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Lisa AeschlimannReporterin & Blattmacherin

Am Donnerstag vor einer Woche soll ein psychisch kranker Mann am Nasenweg im Basler Breite-Quartier eine 75-jährige Frau getötet haben. Schon zehn Jahre zuvor hatte der 32-jährige Raphael M.*, in der gleichen Nachbarschaft zwei Frauen ermordet und einen betagten Mann schwer verletzt. M. war am Tattag auf unbegleitetem Freigang.

Wie konnte es so weit kommen? Eine Pressekonferenz der zuständigen Klinik und der involvierten Regierungsräte brachte keine Klarheit. SVP-Politiker fordern bereits mehr Verwahrungen und eine Beschränkung von unbegleiteten Freigängen. Was kommt noch?

Thomas Manhart (66), bis 2019 Chef des Zürcher Amts für Justizvollzugs, hat selbst mehrere schlimme Fälle erlebt. Er ordnet ein.

Am Donnerstag vor einer Woche ereignete sich in einem Wohnhaus in der Stadt Basel ein Tötungsdelikt.
Foto: BRK
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Was ging Ihnen durch den Kopf beim Basler Tötungsdelikt?
Thomas Manhart: Das macht natürlich betroffen und erinnert an eigene Fälle. Angefangen mit dem Mord am Zollikerberg 1993 oder der Tat 2007 in Wetzikon, als ein bedingt Entlassener einen Taxifahrer erstach. Man denkt sich immer, hoffentlich passiert das nie, nie wieder. Man darf schon sagen, bei solchen schlimmen Rückfällen macht sich eine Kultur der Angst und ein Gefühl der Hilflosigkeit breit. So habe ich es immer wieder erlebt: Angst bei jedem Lockerungsentscheid, Angst, vor der öffentlichen Diskussion, Angst um die eigene Haut und um ein ganzes System, das eigentlich recht gut funktioniert.

Wie schätzen Sie das ein: Wie konnte das passieren?
An der Medienkonferenz wurde deutlich, dass der ganze Massnahmenvollzug ein hochkomplexer Prozess ist. Wir sprechen von zwei Dutzend Leuten, die hier mitwirken. Innerhalb dieses Prozesses kann es Fehler geben. Aber die Prozesse sind so stark strukturiert, dass ich es für unwahrscheinlich halte, dass hier etwas falsch lief. Die Basler Forensik hat einen hervorragenden Ruf. Trotzdem bleibt offen, wie es zu dieser Fehleinschätzung kam. Offenbar dachten alle Beteiligten, man sei ganz gut unterwegs.

Wie kann man sich derart verschätzen?
Die Gerichte sind sehr zurückhaltend, einen jungen Straftäter zu verwahren. Möglicherweise war aber bereits die damalige Einschätzung, er lasse sich stationär therapieren, zu optimistisch. Dies lässt übrigens auch die überdurchschnittlich lange Therapielaufzeit von zehn Jahren vermuten. Vielleicht war es auch falsch, die stationäre Massnahme nach fünf Jahren nochmals zu verlängern, statt die Verwahrung anzuordnen.

Es deutet bisher vieles darauf hin, dass er sich im Vollzug bewährt hat.
In der Forensik gibt es den Begriff der doppelten Buchhaltung: Wenn ein Straftäter eine gewisse Intelligenz hat, weiss er nach mehreren Jahren Therapie, was er tun muss, damit diese erfolgreich erscheint. Er bringt, was man von ihm erwartet, aber im Innersten bleibt er bei seinen Einstellungen. Da kann man nur spekulieren. Es muss in seinem Innenleben was abgelaufen sein, das kein Therapeut erkannt hat und mit dem er alle hinters Licht führen konnte.

Wie häufig kommt das vor?
Der Forensiker Marc Graf schätzt, dass rund 80 Personen pro Jahr aus dem Massnahmenvollzug entlassen werden und es nur rund alle zehn Jahre zu einem schweren Rückfall kommt – also bei einem von 800 Fällen etwas schiefläuft. Wenn man keine Risiken mehr in Kauf nehmen will, müsste man also 799 zu Unrecht im Vollzug behalten.

Man kann also nichts tun.
Das System hat sich meines Erachtens grundsätzlich bewährt. Ein Systemfehler besteht allenfalls darin, dass im Vollzug unter Umständen schnell eine Schiene in eine bestimmte Richtung gelegt wird: Läuft es gut, bestätigen sich alle gegenseitig: Betreuer, Gutachterinnen, Sozialarbeiter, Psychologinnen, Psychiater. Genauso in Fällen, in denen es nicht gut läuft. Am Schluss sollte die sogenannte Fachkommission eine unabhängige Aussensicht einbringen. Diese wurde nach dem Zollikerbergmord eingerichtet als eine wichtige Qualitätssicherung.

Die Fachkommission hat letztes Jahr fast 100 Fälle begutachtet.
Eine grosse Zahl, die nur möglich ist, da die Fachkommission bei ihren Entscheiden rein aktenbasiert arbeitet. Sie hat den Beschuldigten nie gesehen. Wenn in den Akten nun überall positive Meldungen, Berichte und Gutachten sind: Wie soll man da noch zu einem anderen Resultat kommen? In diesen schweren Fällen fehlt eine echte Aussensicht. Es wäre wichtig, dass die Fachkommission den Straftäter persönlich anhört und sich ein eigenes Bild von ihm macht. Zudem sitzen in der Kommission neben Forensikerinnen auch Staatsanwälte oder Richterinnen. Gewissen fehlt auch einfach die fachliche Kompetenz, die Gefährlichkeit von Tätern professionell einzuschätzen.

Wie häufig kommt es in der stationären Massnahme zu Freigängen?
Freigänge gehören zum normalen Ablauf. Eine erfolgreiche stationäre Massnahme muss über kurz oder lang in eine Lockerung bis hin zur Entlassung laufen. Die Massnahme ist auf fünf Jahre beschränkt, eigentlich sollten die Therapie und auch die Resozialisierung in fünf Jahren machbar sein – ansonsten muss man sie nochmals um fünf Jahre verlängern oder den Straftäter verwahren.

Was braucht es, bis ein Doppelmörder in einen unbegleiteten Freigang darf?
Es braucht einen positiven Therapiebericht, Fortschritte, Wohlverhalten im Vollzug selbst, zudem ein günstiges Gutachten, die Zustimmung der Fachkommission und schliesslich ein entsprechender Entscheid der Justizvollzugsbehörde. Alle Player müssen Ja sagen. Ich nehme an, dass er in den ersten fünf Jahren kaum unbegleitete Freigänge erhalten hat. Im Verlauf der ersten Verlängerung wurde vermutlich sorgfältig langsam gelockert.

Was hat sich verändert in den letzten 30 Jahren im Justizvollzug? Was macht man heute besser?
Einerseits wurde der Sanktionenvollzug strukturierter, wissenschaftlicher. Zudem hat man deutlich höhere Ausbildungsstandards: Wo früher ehemalige ältere Polizisten den Massnahmenvollzug organisierten, sind es nun Fachpersonen mit Studium in sozialer Arbeit und Zusatzausbildung im Risikomanagement. Gleichzeitig ist man aber auch viel restriktiver geworden: Es gilt «In dubio pro securitate» – im Zweifel für die Sicherheit. Es gibt deshalb meines Erachtens mehr Fehlbeurteilungen zuungunsten von Insassen als zugunsten von Insassen. Ich bin überzeugt, es sitzen zu viele Leute, die man problemlos freilassen könnte.

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