Kontroverse um Suizidkapsel – jetzt reden die Sarco-Chefs
«Wir haben über 300 Personen auf der Warteliste»

Die Todeskapsel steht von vielen Seiten in der Kritik. Und die erste Frau, die mit Sarco sterben sollte, erhob schwere Vorwürfe gegen die Organisatoren. Im ersten Interview äussern sich nun die Initianten.
Publiziert: 11.08.2024 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 12.08.2024 um 08:48 Uhr

Seit Wochen berichten Medien weltweit über die Sterbekapsel Sarco. Sie soll mittels Stickstoff einen schnellen, schmerzfreien Tod ermöglichen – zum Preis von 18 Franken. So betont es jedenfalls die Sterbehilfeorganisation Exit International. Im Juli hätte Sarco das erste Mal durch den Verein The Last Resort eingesetzt werden sollen. An einem unbekannten Ort in der Schweiz. Doch dazu kam es nicht. Stattdessen sieht sich die Non-Profit-Organisation schweren Vorwürfen ausgesetzt. Blick traf die beiden Führungspersonen Fiona Stewart (58) und Florian Willet (47) in Zürich zum Gespräch.

Frau Stewart, Herr Willet, wie würden Sie gerne sterben?
Florian Willet:
Lange bevor ich krank wäre. Einfach bei einem Unfall, der mich tötet, noch bevor ich merke, was passiert. Das wäre die perfekte Situation: nicht über den Tod nachdenken zu müssen, sondern vom Tod überrascht zu werden.
Fiona Stewart: Ich bin wie die meisten Menschen, ich will nicht darüber nachdenken. Aber ich würde es vorziehen, ein langes und gesundes Leben zu führen.

Wenn Sie einen assistierten Suizid benötigten, wäre Sarco Ihre Wahl?
Stewart: Ich kann mir keinen besseren Weg vorstellen. Was mir an Sarco gefällt, ist, dass es an einem Strand geschehen könnte. Inmitten brandender Wellen und unter einem schwarzen Himmel voller Sterne.

Fiona Stewart (l.) und Florian Willet vom Verein The Last Resort sind für den Einsatz des Sarcos in der Schweiz zuständig.
Foto: Thomas Meier
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Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben

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Bei anderen Sterbehilfeorganisationen wird ein Medikament injiziert oder getrunken. Auch das kann man an einem Strand tun.
Stewart: Ich hasse Nadeln. Und ich habe auch schon Leute beobachtet, die das Medikament getrunken haben. Es schmeckt eklig. Zudem besteht die Gefahr des Erbrechens. Beim Sarco drückt man einfach einen Knopf. Wenn man mit seinen Geliebten gehen will, dann könnte ich mir vorstellen, Arm in Arm in einem Sarco zu liegen. Bei mir wäre das mein Mann Philip. Und mein Hund.

Aber wird der Tod so nicht zur Banalität, wenn man einfach in eine Kapsel steigen und sterben kann?
Willet:
Manche Menschen wollen genau das. Als mein Vater beschloss, zu sterben, ging er auf den höchsten Turm seiner Heimatstadt. Ich glaube nicht, dass mein Vater in dieser Situation Lust auf einen langwierigen bürokratischen Prozess hatte. Er wollte, dass es schnell geht. Das heisst nicht, dass es für ihn einfach war.

Wenn eine Person nicht unheilbar krank ist und dennoch sterben will, stellt sich die Frage: Hat dieser Mensch ein Recht, allein zu entscheiden? Hat er oder sie nicht eine Verantwortung gegenüber den Mitmenschen?
Willet:
Das ist Sklaverei. Je mehr die Leute an der Moral festhalten, desto autoritärer sind sie normalerweise. Denn Moral ist nicht Empathie. Wenn ich mitfühlend bin, denke ich darüber nach, wie ich jemandem helfen kann, was ich tun kann, damit sie sich besser fühlt.

Für Sie ist Sarco also die humanste Art des Selbstmords?
Stewart:
Die am wenigsten herausfordernde. Es ist ein mutiger Akt, ein Glas an die Lippen zu führen, von dem man weiss, dass es Gift enthält. Das Drücken eines Knopfes ist weniger schlimm.
Willet: Es spielt keine Rolle, ob es menschlich ist. Es ist die richtige Entscheidung für mich, und das ist es, was für mich zählt. Die Leute, die Sarco nicht mögen, sind nicht jene, die die Kapsel benutzen werden.

Gibt es viele Menschen, die sich für das Sterben im Sarco interessieren?
Stewart:
Ja, wir haben über 300 Personen auf der Warteliste.

Nach welchem Verfahren wird entschieden, wer zuerst sterben darf?
Stewart: Entscheidend ist wie bei allen anderen Organisationen der Papierkram.

Erklären Sie das etwas genauer.
Stewart:
Sie müssen eine Lebensgeschichte schreiben, Sie müssen aktiv um Hilfe für einen assistierten oder begleiteten Suizid bitten. Sie müssen Ihre medizinischen Daten angeben. Sie brauchen eine Patientenverfügung, die in dem Land, in dem Sie leben, beglaubigt und notariell beurkundet wurde. Ausserdem benötigen Sie ein psychiatrisches Gutachten oder ein Gutachten zur psychischen Gesundheit. Denn nach Schweizer Recht müssen Sie geistig in der Lage sein, die Entscheidung zu treffen. Für The Last Resort gelten genau die gleichen Kriterien wie für alle anderen Organisationen.

Warum machen Sie das in der Schweiz?
Stewart:
Man muss nicht krank sein, um in diesem Land Hilfe zum Sterben zu bekommen. Das macht die Schweiz einzigartig in der Welt. Ausserdem führen Sie hier eine vernünftige Debatte.

Das Schweizer Sterbehilfegesetz ist sehr liberal. Wegen der Diskussion um Sarco könnte sich das nun ändern.
Stewart: Wir haben nicht damit gerechnet, dass es vor dem ersten Einsatz von Sarco überhaupt irgendeine öffentliche Auseinandersetzung geben würde.

Sie selbst haben vor drei Wochen eine Pressekonferenz gegeben und damit Öl ins Feuer gegossen.
Stewart: Wir mussten die Pressekonferenz abhalten, um Fehlinformationen zu berichtigen. Unsere Anwälte haben das vorgeschlagen.

Welche Fehlinformationen?
Willet:
Wir haben den Einsatz des Geräts für eine Amerikanerin im Mai und Juni vorbereitet. Ruhig, ohne jede Beobachtung. Alles verlief reibungslos. Bis wir plötzlich von der «NZZ» angesprochen wurden. Man habe erfahren, dass Sarco sehr bald zum Einsatz kommen werde. Und dass es im Kanton Wallis passiere, was überhaupt nicht stimmte. Ich bat darum, mit der Veröffentlichung bis zum Todestag dieser Person zu warten, um einen Medienzirkus zu vermeiden. Um zu verhindern, dass diese Person nun das Gefühl hat, dass sie im Scheinwerferlicht einer weltweiten Aufmerksamkeit sterben wird. Leider ohne Erfolg.

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Die Amerikanerin starb schliesslich nicht mit Sarco. Sie nutzte die Dienste einer anderen Organisation. Letzte Woche, nach ihrem Tod, tauchten in der «NZZ» schwerwiegende Vorwürfe auf. In einem Brief wirft die Amerikanerin Ihnen vor, dass Sie sie vor die Medien gezerrt, sie manipuliert und schliesslich in Zermatt im Stich gelassen hätten.
Willet:
Ich kann die Person in diesem Brief nicht wiedererkennen. Wir waren uns so nahegekommen. Wissen Sie, mein Vater ist durch Selbstmord gestorben. Und ich habe mit ihr darüber gesprochen. Sie hat mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Wir sassen am Zürichsee und hatten Tränen in den Augen. Ich mochte diese Frau sehr. Ich habe das Gefühl, dass diese Anschuldigungen von einer ganz anderen Person stammen, als die, die ich kennengelernt habe.

Unter anderem hätten Sie versucht, die Amerikanerin finanziell auszunutzen.
Stewart: Die Wahrheit ist, dass sie uns mit Schulden verlassen hat.
Willet: Zu Beginn sagte sie, dass sie all ihr Hab und Gut in den USA verkaufen und das Geld für eine schöne Reise durch die Schweiz ausgeben würde. An deren Ende wolle sie mit dem Sarco sterben. Es war ganz allein ihr Drehbuch. Darf ich Sie daran erinnern: Artikel 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuches besagt, dass ein Helfer, der jemandem aus Eigennutz beim Sterben hilft, mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft wird. Sie können absolut sicher sein, dass wir alles versucht haben, um diesen Tatbestand nicht zu erfüllen.

Gab es Streit, als die Frau in der Schweiz war?
Stewart:
Wir hatten ein ausgezeichnetes Verhältnis zu ihr. Bis sie verschwand und durch die Türen einer anderen Klinik ging.

Wussten Sie damals davon?
Willet:
Nein. Im Nachhinein wollen wir kein schlechtes Bild von dieser Frau zeichnen. Die Person, die wir kennengelernt haben, war ein sehr sympathischer, ein sehr freundlicher Mensch.

Dennoch stellt sich die Frage: Ist Ihre Organisation zu klein, um Ihre Kandidaten genügend zu betreuen?
Willet: Nein. Was wir unserer ersten Kandidatin geboten haben, gehört nicht zu den Standardleistungen, die The Last Resort normalerweise erbringen wird. Wir haben ausnahmsweise versucht, ihre Wünsche zu erfüllen.

Viele Kantone haben nun angekündigt, gegen The Last Resort Ermittlungen einzuleiten. Waren Sie darauf vorbereitet?
Stewart: Bei jedem Todesfall mit Sterbehilfe in der Schweiz wird eine Untersuchung eingeleitet. Das ist bei Sarco nicht anders.

Im Kanton Wallis hat der Kantonsarzt Ihre Suizidkapsel vorsorglich verboten.
Stewart: Man kann den Sarco nicht aufgrund von Fehlinformationen in den Medien verbieten. So funktioniert der Rechtsstaat nicht. Wir müssen es den Gerichten überlassen, darüber zu entscheiden. Unsere Anwälte sind in Kontakt mit der Staatsanwaltschaft des Kantons, in dem wir Sarco einsetzen werden. Nach dem Einsatz werden wir beweisen können, dass es keine Bereicherung gab. Dass die Person den Knopf selbst gedrückt hat. Und dass die Person vor dem Tod ein psychiatrisches Gutachten erhalten hat.

Wollten Sie mit dem Sarco nicht lediglich eine öffentliche Diskussion provozieren?
Stewart: Man kommt mit einer neuen Idee, und dann folgen die Angriffe, weil man damit aneckt. Auch Elektroautos sind für manche eine Provokation. Aber sie sind auch ein technologischer Durchbruch.
Willet: Ich denke, es ist sehr offensichtlich, dass Provokation nicht unsere Absicht ist. Aber sie ist ein Nebeneffekt, wenn man etwas tut, was gegen einen grossen Teil der Moral der Gesellschaft verstösst.

Wann wird der erste Mensch im Sarco sterben?
Willet:
Es gibt jeden Tag neue Anträge. Wenn wir dringend jemanden finden wollten, könnten wir die Liste durchgehen und die Leute anrufen. Aber wir wollen keinen Schnelldurchlauf. Und wir wollen ganz sicher sein, dass unser allererster Kandidat oder unsere allererste Kandidatin eine glaubwürdige Person ist.
Stewart: Schlussendlich soll Sarco nicht nur einmal eingesetzt werden. Deshalb haben wir auch eine Unmenge Geld für Anwälte ausgegeben. Schweizer Anwälte sind teuer.

Von welchem Zeitrahmen gehen Sie aus?
Willet: So kann man nicht über einen assistierten Suizid sprechen. Suizidbeihilfe muss stattfinden, wenn der Zeitpunkt für die Person angemessen ist.

Was haben Sie aus dem gescheiterten Versuch gelernt?
Willet:
Wir werden dem nächsten Kandidaten oder der nächsten Kandidatin sagen, dass es Journalistinnen und Journalisten gibt, die auf der Jagd nach Geschichten sind. Es braucht also die Stabilität, um das Risiko, von den Medien entdeckt zu werden, bewältigen zu können.
Stewart: Sie würden nicht glauben, welche Vorsichtsmassnahmen wir getroffen haben, um es geheim zu halten. Wer auch immer es durchsickern liess, tat es absichtlich. Sie wollten den Versuch verhindern. Immerhin wurde nicht auch der Standort öffentlich.

Gehen Sie davon aus, dass Sie künftig mehr in Ruhe gelassen werden?
Stewart: Von wem?

Von den Medien, von der Öffentlichkeit.
Stewart: Das glaube ich nicht. Ich spreche ja mit Ihnen. Und je nachdem, was Sie schreiben, werden wir mit jemand anderem sprechen müssen, um Ihre Arbeit zu korrigieren.

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