Lawinenforscher Jürg Schweizer über die weisse Gefahr
«Ich fahre am liebsten nur abseits der Piste»

Der Umgang mit der Lawinengefahr gilt seit letzter Woche als Weltkulturerbe. Wieso, weiss Jürg Schweizer vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung. Der Wissenschaftler über Beschneiung mit Trinkwasser, die Alpen als Freizeitpark und Schnee von gestern.
Publiziert: 03.12.2018 um 14:14 Uhr
Seit letzter Woche gilt der Umgang mit der Lawinengefahr als Weltkulturerbe. Jürg Schweizer (58), Leiter des Instituts für Schnee- und Lawinenforschung (SFL), hat uns erklärt, was Lawinen mit Kultur zu tun haben.
Foto: Philippe Rossier
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Ramona Kobe und Benno Tuchschmid

BLICK: Was haben Lawinen mit Kultur zu tun?
Jürg Schweizer: Die Lawine selbst ist keine Kultur, sondern eine Naturgefahr. Wie die Bevölkerung im Alpenraum mit dieser Gefahr umgeht, ist allerdings Teil der Identität des Berglands Schweiz.

Inwiefern?
Schon im 17. Jahrhundert schützten die Alpenbewohner ihre Häuser bergseitig mit keilförmigen Bauten. Lawinenschutz hat in der Schweiz eine lange Tradition. Den Umgang mit der Lawinengefahr als Weltkulturerbe zu nominieren, war risikoreich, denn es ist nicht eine klassische Tradition, ein Anlass, ein Brauch wie das Winzerfest von Vevey oder die Basler Fasnacht.

Lawinenschutz ist eher ein Kampf zwischen Mensch und Natur.
Ja. Rund eine Million Menschen leben heute in den Schweizer Bergregionen. Die wollen ihre Lebensgrundlage und ihr Zuhause nicht verlieren. Deshalb probieren sie alles, um zu bleiben. Und die übrige Schweiz unterstützt sie. In der Türkei hat man in den 90er-Jahren nach schweren Lawinenkatastrophen hingegen ganze Dörfer umgesiedelt. Das ist ein ganz anderer Umgang mit der Gefahr und hat im Übrigen auch nicht funktioniert.

Hat das mit dem Schweizer Föderalismus zu tun?
Diese Solidarität mit den Bergregionen war schon früh ausgeprägt. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts unterstützte der Bund erste Verbauungen mit Subventionen. Ihm war bewusst, dass die Gemeinden diese Kosten nicht allein stemmen können. Durch eine Entvölkerung würde viel Kultur verloren gehen.

Wie geht es den Alpen im Moment?
Die Alpen sind von verschiedenen Seiten unter Druck. Sie sind Lebensraum, aber auch ein grosser Freizeitpark, durch den der Verkehr ungehindert fliessen soll. Heute sind unsere Berge nur noch selten wilde Natur. Mehrere Initiativen, diese wilde Natur in Pärken zu schützen, sind kürzlich an der Urne gescheitert. Zu gross sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Interessen.

Und weiter?
Hinzu kommt die Klimaerwärmung. Sie ist in den Alpen stark spürbar. Der alpine Lebensraum ist sensibel. Kleine Veränderungen können zu grossen Konsequenzen führen. Schmelzende Gletscher oder auftauender Permafrost können zu Massenbewegungen führen, die sogar die Dörfer im Tal gefährden können.

Wird es mehr Lawinenkatastrophen geben?
Wir wissen noch zu wenig, wie sich der Klimawandel auswirken wird. Grosse Lawinenperioden sind auf starken Schneefall zurückzuführen. Es ist gut möglich, dass es in den höheren Lagen in Zukunft intensiver schneit.

Aber?
Entscheidend wird vor allem die Nullgradgrenze sein. Liegt sie auf 2000 Metern, werden Lawinen zwar entstehen, auf halbem Weg ins Tal aber verhungern.

Der Sommer 2018 war extrem heiss, es gab nur wenig Niederschlag. Was bedeutet dies für den kommenden Winter?
Die Trockenheit im Sommer hat einen geringen Einfluss auf den Winter. Wir hoffen auf viel Schnee, denn das Wasser in tieferen Lagen wäre sicher willkommen. Vereinzelt kann es jetzt im Frühwinter zu Nutzungskonflikten kommen, wenn Wasser für das Beschneien gebraucht wird. Vor allem wenn die Skigebiete keine Speicherseen haben und die Trinkwasserversorgung anzapfen.

Trinkwasser für Kunstschnee – ist das ökologisch richtig?
Das ist sicher fraglich. Hier in der Schweiz haben wir normalerweise aber genügend Trinkwasser. In der Regel wird überschüssiges Trinkwasser verwendet. Das Wasser ist ja nicht verloren. Der Schnee wird im Frühjahr wieder zu Wasser. Der Wasserkreislauf wird aber beeinflusst.

Würde es ohne Beschneiung gehen?
Wenn die Skigebiete schon früh im Winter gute Pisten bieten wollen – und die Skifahrer wollen das –, ist die künstliche Beschneiung heute nicht mehr wegzudenken. So lässt sich die Klimaerwärmung im Moment noch austricksen. Aber wer weiss, wie lange das noch möglich ist. Ich glaube nicht, dass es auf Dauer attraktiv ist, auf weissen Bändern in einer grünen Landschaft Ski zu fahren. Dann gehen die Leute über Weihnachten wahrscheinlich lieber nach Hawaii – und verstärken mit dem Fliegen die Klimaerwärmung.

Sie forschen auch zum Thema Snowfarming: Schnee wird über den Sommer gelagert, um im nächsten Winter nochmals verwendet zu werden. Ist das die Lösung?
Nein, eine Alternative zum grossflächigen Beschneien ist das nicht. Es ermöglicht aber zum Beispiel, schon im Spätherbst eine Loipe zu machen, wenn es zum Beschneien oft noch zu warm ist. Und Snowfarming ist gar nicht mal so neu. Es ist eine traditionelle Methode: Hier in Davos hat man Eis vom See in Kavernen im Fels gelagert und im Sommer zum Kühlen von Bier gebraucht.

Schnee schmilzt doch!
Nur etwa 20 bis 30 Prozent. Dank einer dicken Schicht aus Sägemehl bleibt der grösste Teil bei der Lagerung erhalten.

Wird das Snowfarming in der Schweiz schon intensiv betrieben?
In Davos seit 10 Jahren, und immer mehr Skigebiete und Gemeinden setzen auf die Methode. So können Langlaufteams bereits im Oktober auf Schnee trainieren. Die nordischen Länder haben schon früher damit begonnen.

Wo können Sie sich in der Lawinenprognose noch verbessern?
Wir können heute noch nicht bestimmen, an welchem Ort genau eine Lawine niedergehen und wie gross sie sein wird.

Wird das irgendwann möglich?
Schön wärs, wir arbeiten daran. Das Ziel ist, dass wir wissen, wo die Schneedecke wie aufgebaut ist. Bis wir diesen Sprung schaffen, geht es wahrscheinlich noch 10 bis 20 Jahre. Auch wenn man den genauen Zeitpunkt nicht kennt, kann man sich schützen. Auf dem Weg nach Zermatt springt das Lichtsignal auf Rot, wenn ein Radar eine Lawine entdeckt. Das kostet viel weniger, als Tunnels oder Galerien zu bauen.

Es geht ums Geld?
Es ist eine Frage von Aufwand und Ertrag. Bei einer schwach befahrenen Strasse, die einige Tage wegen Lawinengefahr geschlossen werden muss, lohnt es sich nicht, eine mehrere Hundert Meter lange Galerie zu bauen, die Millionen kostet. Das können wir uns auch in der Schweiz nicht leisten. Viel Geld fliesst heute bereits in den Unterhalt des Schutzwalds und der Verbauungen, die zum Teil über 50-jährig sind.

Das heisst, man verwaltet vor allem?
Es gilt den Stand zu halten. Wir haben in der Schweiz heute ein sehr hohes Niveau beim Lawinenschutz. Nehmen wir den letzten Januar, der meteorologisch aussergewöhnlich war: der lawinenaktivste seit 1999. In drei Tagen registrierten wir rund 15 000  Niedergänge. Trotzdem gab es keine Todesopfer zu beklagen. Wobei, wir haben da und dort auch Glück gehabt.

Früher war die Zahl der Lawinentoten oft höher, 1951 bei 100. Heute sind es noch etwas über 20. Wie kam es zu dieser Verbesserung?
Noch vor 50 Jahren gab es jedes Jahr Tote durch Niedergänge, die Züge oder Autos verschütteten oder in Dörfer vorstiessen. Diesen Teil des Lawinenproblems haben wir mit Stahl und Beton gelöst. Mit Tunneln, Galerien, Stützverbauungen und Dämmen.

Heute sind die Todesopfer vor allem Wintersportler, obwohl deren Möglichkeiten enorm sind: Es gibt Warn-Apps, das Lawinenbulletin, Schutzausrüstung. Wiegen sich viele in falscher Sicherheit?
Es besteht immer die Gefahr, dass zusätzliche Sicherheitstechnik durch risikoreicheres Verhalten kompensiert wird. Es gab auch Leute, die behaupteten, wenn man in Autos Airbags einbaut, fahren alle schneller, und es gibt mehr Tote. Das hat sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Die Zahl der Verkehrstoten hat enorm abgenommen. Auch die Lawinentoten bei den Wintersportlern gingen zurück. Aber deutlich weniger stark. Von etwa 26 vor 30 Jahren auf heute rund 23 pro Jahr. Das ist wenig, aber heute sind viel mehr Leute abseits der Pisten unterwegs.

Fahren Sie Ski?
Ja, wie die meisten unserer Mitarbeitenden. Von der Lawinenwarnerin bis zum Informatiker. Viele verbinden bei uns ihr Hobby mit dem Beruf. So kommen wir zu guten Leuten. In Zürich verdienen sie besseres Geld. Aber Berge haben sie da nicht vor der Haustür. Unsere Unfallzahlen bei so viel Sportbegeisterten sind dafür auch etwas höher. Gerissene Kreuzbänder oder ein gebrochenes Schlüsselbein.

Fahren Sie auch neben der Piste?
Am liebsten nur abseits der Piste.

Keine Angst?
Angst nicht, aber Respekt. Ich versuche mir vorzustellen, was passieren könnte, um so die grössten Risiken zu vermeiden. Ein gewisses Risiko bleibt. Aber schön ists. Erholung pur. Und, auch beim Wellenreiten kann Ihnen ein Hai den Arm wegbeissen.

Zuletzt noch die obligate Frage. Wie wird der Winter?
Ich weiss es nicht. (lacht) Im Alpenraum gibt es kaum Hinweise, ob es ein schneereicher Winter wird. Wir nehmen es, wie es kommt. Aber hoffen auf Powder.

Der Lawinenkenner

Seit 2011 leitet Jürg Schweizer das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, wo er seit fast 30 Jahren auf Lawinen und Prävention spezialisiert ist. Seine Forschungsarbeiten vertiefte er während zwei Jahren im Westen Kanadas. Der 58-Jährige studierte Umwelt­physik an der ETH Zürich und promovierte 1990 in ­Glaziologie. Heute hat er selbst einen Lehrauftrag an der Hochschule und gibt sein Wissen an Studierende weiter. Schweizer lebt und arbeitet in Davos, ist Vater von drei ­Kindern zwischen 17 und 22  Jahren und leidenschaft­licher Skifahrer.

Seit 2011 leitet Jürg Schweizer das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, wo er seit fast 30 Jahren auf Lawinen und Prävention spezialisiert ist. Seine Forschungsarbeiten vertiefte er während zwei Jahren im Westen Kanadas. Der 58-Jährige studierte Umwelt­physik an der ETH Zürich und promovierte 1990 in ­Glaziologie. Heute hat er selbst einen Lehrauftrag an der Hochschule und gibt sein Wissen an Studierende weiter. Schweizer lebt und arbeitet in Davos, ist Vater von drei ­Kindern zwischen 17 und 22  Jahren und leidenschaft­licher Skifahrer.

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