So entsteht eine Lawine
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Fünf Arten erklärt:So entsteht eine Lawine

Lawinenforscher Thomas Stucki (52) warnt
«Uns stehen zwei der gefährlichsten Tage des Winters bevor!»

Unmengen an Pulverschnee und jungfräuliche Berghänge bringen an diesem Wochenende Freerider und Wanderer in Versuchung. Lawinenforscher, Bergretter und Skigebiete warnen die Schneefans jedoch.
Publiziert: 15.01.2021 um 21:21 Uhr
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Aktualisiert: 10.03.2021 um 07:37 Uhr
Marco Latzer, Aline Leutwiler

So viel Neuschnee wie in den letzten drei Tagen hat die Schweiz schon lange nicht mehr gesehen. Freerider und Schneetourengänger dürfen sich auf jungfräuliche Hänge und Unmengen an frischem Pulverschnee in den Bergen freuen.

«In der Region Arosa Lenzerheide hat es im Tal etwas über einen Meter, auf dem Berg knappe 1,5 Meter Neuschnee gegeben», frohlockt etwa Peter Engler (58), CEO der Bündner Lenzerheide Bergbahnen.

Doch die Idylle ist trügerisch. «Uns stehen an diesem Wochenende vermutlich zwei der gefährlichsten Tage des gesamten Winters bevor», sagt Thomas Stucki (52), Leiter des Lawinenwarndienstes beim Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos GR zu BLICK.

Besondere Gefahr in der Zentral- und Ostschweiz: Das Bulletin des Schnee- und Lawinenforschungsinstituts SLF geht von Warnstufe 4 und damit verbundener grosser Gefahr aus.
Foto: BLICK
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Zentralschweizer (†26) stirbt in Lawine

Einen Vorgeschmack auf das, was kommen könnte, zeigte gestern Mittag ein Lawinenniedergang oberhalb von Emmetten NW: Zwei Skifahrer geraten bei ihrer Talabfahrt in ein Schneebrett und werden rund 100 Meter weit mitgerissen. Während sich sein Kollege unverletzt aus der Lawine befreien kann, stirbt ein Zentralschweizer (†26), obwohl er mit einem Lawinenverschüttetensuchgerät ausgestattet war und sofort reanimiert wurde.

Das Problem sei nicht nur der viele Neuschnee, sondern vor allem die alte Schneeschicht darunter, erklärt Lawinen-Experte Stucki die gefährliche Ausgangslage im Alpenraum. «Die Konsistenz ist wie bei Sand oder Zucker. Die Schneekörner sind nicht miteinander verbunden.»

Furcht vor kopflosen Freeridern

Dass die Schwachschicht derart tief liegt, begünstigt die Bildung gefährlich grosser Lawinen. Der weisse Zauber fusst auf einem fragilen Untergrund und wird damit zu einer potenziell tödlichen Gefahr. Der Respekt davor, dass sich kopflose Freerider in die unberührten Hänge verirren, ist landauf, landab enorm.

«Die Verlockung, neben die Pisten zu gehen, wird für viele Gäste sicherlich gross sein. Aber wir raten dringend davon ab, es ist schlicht zu gefährlich», warnt Mathias Imoberdorf, Mediensprecher der Bergbahnen in Zermatt VS.

Man appelliere an die Vernunft und an die Eigenverantwortung der Freerider und Schneeschuhgänger. «Kontrollieren oder gar verbieten lässt sich das aber nicht. Wir können die Leute im Skigebiet und auf unserer Website lediglich sensibilisieren, keine unnötigen Risiken einzugehen», so Imoberdorf.

In der Ostschweiz halten sich 200 Retter bereit

Darauf hofft man auch am Flumserberg SG, wo in den letzten Tagen etwa ein Meter Schnee vom Himmel kam. Die Verantwortlichen rechnen für das bei Zürchern beliebte Skigebiet oberhalb des Walensees mit rund 7000 Gästen pro Tag.

Gleichzeitig halten sich in der ganzen Region Ostschweiz rund 200 Bergretter bereit, um im Ernstfall auszurücken. «Der eine oder andere wird sicher noch seinen Rucksack packen, bevor er ins Bett geht. Und wenn das Telefon klingelt, ist an diesem Wochenende sicher auch niemand überrascht», sagt Armin Grob, Präsident der Alpinen Bergrettung Ostschweiz.

Spezielle Massnahmen müsse man aber trotz der gewaltigen Neuschneemengen nicht ergreifen. «Als Rettungsorganisation sind wir jederzeit einsetzbar. Im Raum Schwägalp können wir zum Beispiel binnen einer Stunde 60 Leute an den Berg bringen, falls dies nötig sein sollte», so Grob. Auch er hofft inständig, dass die Wintersportler das Lawinenbulletin lesen und unnötige Risiken vermeiden werden.

Sicherheit steht in den Skigebieten an erster Stelle

Nur gesicherte Pisten und Bergwege sollten von Skifahrern und Schneeschuhgängern befahren und begangen werden. Hinzu kommt: Insbesondere dort, wo Warnstufe 4 gilt, muss überall und jederzeit ausserhalb dieser Bereiche mit Lawinen gerechnet werden. Und das ist Moment insbesondere in der Ost- und Zentralschweiz der Fall.

«Die Pisten und die entsprechenden Transportanlagen werden erst nach der Sicherung freigegeben oder allenfalls auch geschlossen gehalten», sagt etwa Katja Wildhaber, Geschäftsleitungsmitglied der Bergbahnen Flumserberg. Für die Risikobeurteilung im Skigebiet sei der Pisten- und Rettungschef zusammen mit seinem Team zuständig.

Ein paar Kilometer weiter, am Pizol oberhalb von Bad Ragaz SG, werden Samstag früh Lawinensprengungen per Helikopter für beste Bedingungen sorgen. Doch trotz des vielen Schnees und aller Bemühungen rechnen die Skigebiete längst nicht überall mit Menschenmassen.

Menschenansturm bleibt trotz Pulver aus

«Wir erwarten keinen grossen Ansturm, weil zum Glück auch viele Gebiete im Unterland ihren Betrieb aufnehmen dürfen», sagt etwa eine Sprecherin der Bergbahnen im schwyzerischen Hoch-Ybrig. Das sorge für eine bessere Verteilung der Besucher.

In Wildhaus SG spürt man dagegen immerhin einen leichten Anstieg. «Ja, die Onlineverkäufe haben seit heute früh merklich angezogen», heisst es auf Anfrage von BLICK.

In Lenzerheide GR wiederum ist der grosse Pulverboom dagegen ausgeblieben: «Dies hängt auch damit zusammen, dass die Gäste eher zurückhaltend sind. So gehen wir von einem normalen Januarwochenende aus. Es ist ungefähr eine Auslastung von 45 Prozent des Wintersportgebiets Arosa Lenzerheide zu erwarten», prognostiziert Chef Peter Engler.

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