Mädchen lernen sich zu wehren
Keine zu klein, wehrhaft zu sein

Übergriffe oder dumme Sprüche: Diese Mädchen im Alter von neun bis 15 Jahren wissen sich zu wehren. Das haben sie letzte Woche gelernt.
Publiziert: 19.08.2018 um 15:45 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 20:21 Uhr
Diese Zürcher Mädchen sagen «Stopp!»
Foto: Siggi Bucher
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Aline Wüst

Am Ende stehen alle im Kreis, halten einander an den Händen, schreien: «Ich bin stark!»

Während der letzten Woche haben die Mädchen den Feriensportkurs Selbstverteidigung besucht. Sie wissen, dass die Welt da draussen widrig sein kann. Nun wissen sie auch, dass sie sich wehren können.

In der Zürcher Kampfsportschule Budokan üben sie bei Rollenspielen, was hoffentlich nie passieren wird: Eine Gruppe Jungs versperrt ihnen den Weg. Ein Mann nimmt sie von hinten in den Würgegriff. Jemand zieht sie an den Haaren zu Boden.

Die Mädchen schubsen und provozieren. Die eine greift an, die andere muss sich wehren. Sie haben gelernt, sich aufrecht und mit Körperspannung hinzustellen, laut und deutlich zu reden. Lili (10) wird geschubst, sie sagt: «Nein, ich will das nicht! Hör auf!» Das andere Mädchen macht weiter. Bis Lili die Hände nach vorne streckt und schreit: «Stopp!» Die Kraft und der Wille, die in der Stimme dieses zierlichen Mädchens liegen, machen Eindruck. Dann werden die Rollen getauscht. 21 Kinder zwischen neun und 15 Jahren schreien einander an und treten sich gegen das Schienbein.

Mittendrin Kursleiterin Katharina Eisenring (42). Sie geht umher, richtet sanft ein Mädchen in gerade Position, das zwar Stopp schreit, aber den Kopf schief stellt, mahnt, nicht zu lachen. «Wenn ich Stopp sage und dabei lache, ist meine Verteidigung nichtig.» Sie schärft den Mädchen ein, sich nicht auf Diskussionen einzulassen, keine Gegenfragen zu stellen, sondern – wenn nötig – hundert Mal zu wiederholen: «Lass mich. Ich will das nicht!»

Auch die Trainerin war Opfer

Die Trainerin weiss, wovon sie spricht. Sie hat selbst massive häusliche Gewalt erlebt. Sie sei damals in der Opferrolle gefangen gewesen, habe gedacht, sie werde sich nie daraus befreien. Als der Täter endlich in Haft war, schickte sie ihre Tochter in einen Selbstverteidigungskurs. Beim Abschluss empfahl ihr die Leiterin, ebenfalls einen solchen Kurs zu besuchen. Sie tat es.

Seit acht Jahren zeigt sie nun selber Mädchen und Frauen, was zu tun ist, wenn jemand deren Grenzen überschreitet. Sie erzählt vom Mädchen, das ihr nach dem Kurs stolz berichtet, wie es tags zuvor durch den Zürcher Hauptbahnhof ging und von niemandem angerempelt wurde, weil es selbstsicher ging, seine Umgebung genau wahrnahm, Raum für sich beanspruchte. Scheinbar kleine Dinge, doch Eisenring weiss: Sie bedeuten viel.

Warum aber müssen die Mädchen lernen, sich zu wehren – und nicht die Buben, sich zu benehmen? Die Trainerin: «Ich kann die Welt nicht ändern, nur mich selber.» Ausserdem fühle es sich gut an, stark und selbstwirksam zu sein.

Der Verein Pallas hat den Kurs organisiert. Seit 25 Jahren bietet er Mädchen und Frauen in der ganzen Schweiz Selbstverteidigungskurse an. Rund 5000 Teilnehmerinnen lernen dort jedes Jahr Gefahren früh zu erkennen, Grenzen zu setzen, die eigene Stärke zu spüren und sich erfolgreich zu wehren.
Pallas-Präsidentin Silvia Bren (59) ist überzeugt, dass die Gewalt gegen Frauen zunimmt, weil die Respektlosigkeit im Alltag um sich greift.

Eltern sollen Vorbild sein

Einige Schulen sind aktiv geworden und sensibilisieren Jungs wie Mädchen mit spezifischen Programmen für sexistisches Verhalten. Bren appelliert aber auch an die Vorbildfunktion der Eltern. «Unvorstellbar, wie viele ihre Kinder schlagen.» Nicht verwunderlich, wenn sich die Kinder als Erwachsene ebenfalls gewalttätig und respektlos zeigen. Die Schweiz müsse zwingend gesetzlich festlegen, dass Kinder nicht geschlagen werden dürfen, sagt Bren.

Gewalt kann viele Formen haben. Auch darauf sollen die Mädchen vorbereitet sein. Die Kursleiterin fragt, was die Mädchen tun, wenn sie allein zu Hause sind, das Telefon klingelt und am anderen Ende jemand ist, der nichts sagt, aber laut ins Telefon schnauft und stöhnt. Unschuldig antwortet ein Mädchen: «Wenn ich das Gefühl hätte, er stirbt gleich, würde ich fragen, ob ich ihm helfen kann.» Eisenring rät den kleinen Teilnehmerinnen aufzuhängen, falls möglich die Telefonnummer aufzuschreiben und die Eltern anzurufen.

Der Kurs ist vorbei und Lili froh, ihn gemacht zu haben. In dieser Woche sei sie selbstbewusster geworden. Ihre Kollegin Sarina (10) sagt, sie wisse nun, dass sie sich wehren dürfe und das Recht habe, Stopp zu sagen. Eisenring steht daneben. Aufrecht, den Körper unter Spannung, so wie sie es die Mädchen gelehrt hat. Man sieht ihr an, dass es sie glücklich macht, das zu hören.

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