Magersucht: Chefärztin Bettina Isenschmid erklärt, was Eltern tun können
«Sprechen Sie Ihr Kind an!»

Bettina Isenschmid, Chefärztin vom Kompetenzzentrum Adipositas, Essverhalten und Psyche (KEA) des Spitals Zofingen AG, rät: «Sagen Sie Ihrem Kind, dass Sie sich Sorgen machen. Nicht: Hör auf damit.»
Publiziert: 31.01.2018 um 19:37 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 22:55 Uhr
Christiane Binder

Zehn Jahre hat SRF-Moderatorin Rosanna Grüter (33) mit ihrer Krankheit gerungen, mit und gegen ihre Essstörung gekämpft. Und sie hat gewonnen! Ihre Erfolgsgeschichte hat sie gestern im BLICK erzählt. Heute erklärt die Fachärztin Bettina Isenschmid, wie man Essstörungen vorbeugt – und wie man sie rechtzeitig erkennt.

Bettina Isenschmid, Chefärztin vom Kompetenzzentrum Adipositas, Essverhalten und Psyche (KEA) des Spitals Zofingen AG.
Foto: zVg

Frau Isenschmid, wie schätzen Sie den Fall Grüter ein?
Bettina Isenschmid: Vom Verlauf her scheint der Fall typisch. Allerdings schaffen es längst nicht alle Frauen, in eine Behandlung zu kommen.

Ist Magersucht eine typische Krankheit junger Frauen?
Es kommen heute auch vermehrt Frauen zwischen 40 und 50 zur Behandlung. Sie haben in jungen Jahren keine Therapie in Anspruch genommen und leiden unter Restsymptomen wie exzessivem Kalorienzählen oder einer extremen Fixierung auf ihr Gewicht. Viele dieser Frauen sind durch die Essstörung körperlich und psychisch sehr belastet. In der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen ist die Magersucht eine der gefährlichsten Erkrankungen. Einer von zehn Betroffenen ist männlich. Insgesamt leiden in der Schweiz etwa vier Prozent der Bevölkerung unter Essstörungen.

SRF-Moderatorin Rosanna Grüter hungerte sich zehn Jahre lang krank. Den Kampf gegen die Magersucht hat sie gewonnen.
Foto: Valeriano Di Domenico

Woher kommt die Magersucht?
Auch hier ist der Fall Grüter typisch. Es geht um den Wunsch nach Zuwendung und um Selbstkontrolle. Am Anfang steht ein grosses Ohnmachtsgefühl. Gerade in der Pubertät, wenn sich der Körper verändert und alles scheinbar durcheinandergerät, sind viele junge Menschen überfordert. Kommen dann andere Belastungen hinzu – Mobbing, Hänseleien, die Scheidung der Eltern oder Missbrauchs- und Gewalterfahrungen –, entwickeln Betroffene das Gefühl, das Einzige, was sie noch kontrollieren können, sei ihr Körper.

Warum sind mehr Frauen magersüchtig als Männer?
Frauen sind gefährdeter, weil sie geltende Schönheitsideale  – in diesem Fall Schlankheit – mehr verinnerlichen. Heute sind aber auch junge Männer von Essstörungen betroffen. Beim männlichen Pendant zur Bulimie, der Bigorexia, trainieren sich junge Männer einen muskulösen Körper an.

Angeblich sind die schlanken Models schuld daran, wenn Mädchen magersüchtig werden. Stimmt das?
Sie sind nicht die Ursache – ursächlich ist die Angst vor Kontrollverlust. Aber sie können ein Auslöser sein. Die Betroffenen wollen dem gültigen Schönheitsideal entsprechen, das die Models verkörpern.

Alle Frauen zählen Kalorien. Wann merken sie, dass es krankhaft wird?
Keine Frau sagt, meine Figur ist mir egal. Aber wenn sich alles ums Gewicht dreht, wenn Abnehmen als einziger Problemlöser gesehen wird und Kontrollzwänge einen immer grösseren Raum einnehmen, wenn Hobbys und Beziehungen vernachlässigt werden, dann ist das nicht mehr im normalen Rahmen.

Was können Eltern tun?
Sie müssen das Kind ansprechen, wenn es immer dünner wird und andere Lebensbereiche aus seinem Leben verschwinden. Aber nicht, indem sie sagen: Hör auf damit. Sagen Sie lieber: Es macht mir Sorgen. Suchen Sie eine Anlaufstelle auf. Wenn das Kind nicht will, bleiben Sie unbedingt am Ball. Eltern können auch selbst eine Fachstelle aufsuchen.

Wie sind die Erfolgschancen?
Je früher die Behandlung einsetzt, desto besser die Prognose. Besteht die Magersucht weniger als zwei Jahre, können zwei Drittel bis drei Viertel der Betroffenen gesund werden. Nach mehreren Jahren erholen sich die meisten leider nicht mehr, Anteile der Krankheit bleiben lebenslang bestehen. Zehn Prozent der schwer Erkrankten sterben schliesslich an den Folgen ihrer Magersucht.

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