Nestlé-Präsident Peter Brabeck (70) über den besiegten Krebs, Nespresso, Facebook und Flüchtlinge
«Halt! Ich bin noch hier»

Publiziert: 15.11.2015 um 00:23 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 07:42 Uhr
Hebt in zwei Jahren nur noch privat ab: Fliegerfan Peter Brabeck-Letmathe in der Nestlé-Teppichetage.
Foto: Nicolas Righetti
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Interview: Peter Röthlisberger, Fotos: Nicolas Righetti

SonntagsBlick: Herr Brabeck, wie geht es Ihnen heute?
Peter Brabeck:
Mir geht es wirklich gut. Ich bin aus meinen gesundheitlichen Problemen erfolgreich herausgekommen. Es hat etwas länger gedauert als vorgesehen. Aber jetzt ist alles abgeschlossen.

Wie hat denn damals das Unternehmen reagiert? 340'000 Mitarbeiter, und der Präsident ist krank ...
Wir haben im Verwaltungsrat offen darüber gesprochen. Dass es eine Behandlung gibt, der Krebs also heilbar ist. Mir war auch wichtig, dass die Krankheit keinen Einfluss auf meine Tätigkeit hatte, mit Ausnahme der Tage im Krankenhaus. Das waren aber nicht mehr, als ich in anderen Jahren in die Ferien fuhr. Eine spezielle Art des Urlaubs.

Es gab aber schwierige Momente.
Natürlich. Die Nestlé-GV 2014 etwa, weil ich da direkt aus der Behandlung kam und dieses rote Auge hatte.

Wie sind die Menschen in dieser Situation mit Ihnen umgegangen?
Ich wollte ganz normal behandelt werden. Sowohl in der Firma wie im Privatleben. Ich habe die Situation nur einmal mit meiner Familie besprochen. Ich habe versprochen, dass ich mich darum kümmere und mich melde, wenn irgendetwas schlecht läuft. In einer solchen Situation darf man auf keinen Fall zum Opfer werden. Viele Leute wollten mich beraten. Sie wollten ihr Mitleid ausdrücken, wie wenn ich schon tot wäre. Ich musste ihnen dann sagen: Halt! Ich bin noch hier.

Was raten Sie Menschen mit demselben Schicksal?
Man muss im Rahmen seiner Kräfte unbedingt weiterarbeiten. Sich auch privat Ziele setzen. Ich wollte unbedingt den Helikopterpilotenschein machen, weil ich wusste, dass das nicht nur geistig, sondern auch physisch eine Herausforderung ist. Und es zeigte mir, dass ich wieder voll da bin.

Wars auch ein Zeichen an das Umfeld?
Gesetzlich hätte ich ja das Recht gehabt, nicht zu arbeiten. Das wäre ein grosser Fehler gewesen.

Wie ist die Vorstellung, dass man den Börsenkurs eines ­Weltunternehmens mit etwas beeinflusst, das man gar nicht im Griff haben kann?
Wenn man eine ordentlich strukturierte Firma hat, dann ist die Wirkung des Einzelschicksals nicht mehr so gross. Wir haben bei Nestlé immer die Politik gehabt, dass jeder innerhalb von 24 Stunden ersetzt werden kann. Damit der Börsenkurs gerade nicht tangiert ist.

Für Sie war immer klar weiter­zumachen?
Ja.

Hilft Gelassenheit, die Sie als erfahrener Bergsteiger gut kennen, eine Krankheit zu bewältigen?
Ich glaube schon. Das ist jetzt keine Übertreibung, aber ich hatte wirklich keinen Stress, als mir die Diagnose gestellt wurde. Ich nahm es als weitere Herausforderung. So ähnlich wie ein schwierigerer Berg.

Lief der Aufstieg glimpflich ab?
Wir glaubten, dass wir die Krankheit nach sechs Monaten geregelt haben würden. Das hat nicht funktioniert. Dann mussten wir was Neues ausprobieren, das half auch noch nicht. Bei der dritten Behandlung hat es dann endlich geklappt. Wichtig ist, daran zu glauben, dass man auf diesen Berg raufkommt.

Nestlé engagiert sich stark an der Schnittstelle von Wissenschaft, Gesundheit und Ernährung. Im Januar haben Sie in Seres Therapeutics investiert: Die Biotech-Firma entwickelt eine neue Klasse von Medikamenten zur Behandlung gestörter Darmbakterien. Was verspricht sich Nestlé davon?
Das muss man im grösseren Zusammenhang sehen. Wir haben vor fünf Jahren die Nestle Health Science gegründet. Sie konzentriert sich auf die Ernährung von Personen mit allgemeinen gesundheitlichen Beschwerden oder spezifischen Erkrankungen. Die Bakterien spielen dabei eine grosse Rolle. Nicht nur bei der Verdauung oder dem Stoffwechsel. Sie könnten den Krankheits- bzw. Gesundheitszustand eines Menschen beeinflussen.

Kann damit in zehn Jahren jedermann geheilt werden?
Es ist ein neues Forschungsgebiet, das man sich genau anschauen muss. Dort liegen innovative Lösungen.

Ist das Kerngeschäft von Nestlé nicht mehr wichtig?
Unsere Hauptaufgabe in den letzten 200 Jahren bestand darin, die Menschen mit den nötigen Kalorien zu versorgen. Mit positivem ­Effekt. 1800 lag die Lebenserwartung in Europa bei 30 Jahren. Unvorstellbar. Heute sind wir bei 86 Jahren. Bis in die 90er-Jahre gab es eine direkte Verbindung zwischen Kalorienversorgung und Lebenserwartung. Danach stieg die Lebenserwartung nicht mehr an, obwohl mehr Kalorien zur Verfügung standen. Das war ein Paradigmenwechsel für unsere Industrie. Plötzlich verkürzt sich das Leben, wenn man zu viel isst. Will Nestlé weiter wachsen, müssen wir Lebensmittel produzieren, die die Lebensqualität steigern.

Fettleibigkeit wird zum grossen Thema.
Die Welt ist zweigeteilt. Wir haben immer noch viele, die zu wenige Kalorien bekommen. Die sind uns ganz und gar nicht egal. Eine Milliarde leidet noch immer Hunger. Dem wohlhabenden Teil der Welt müssen wir aber bessere Kalorien anbieten.

Sie müssen sich von Ihrer Pizza- und Glace-Sparte verabschieden.
Nein. Aber wir müssen uns fragen, ob Nestlé für Allerweltsprodukte die richtige Firma ist. Ich glaube es nicht. Wir haben viel zu hohe Entwicklungsausgaben, als dass wir in einem reinen Geschäft mit Produkten, die praktisch jeder herstellen kann, wettbewerbsfähig sind. Nestlé soll dort aussteigen, wo wir dem Kunden keinen ­Mehrwert bieten und deshalb auch keinen höheren Preis ver­langen können.

Wo ist Nestlé ausgestiegen?
Wir waren der grösste Dosentomaten­hersteller der Welt. Heute haben wir nicht mal mehr eine ­Fabrik, die das macht. Wir haben alle Trockenpasta-Fabriken verkauft. Wir sind nicht mehr im Weingeschäft.

Dafür sorgt Nestlé mit Nespresso für eine Re-Industrialisierung der Schweiz.
Wir sind sicherlich die Firma, die in den letzten Jahren am meisten in die Industrialisierung der Schweiz investiert hat: zwischen 2005 und 2014 3,5 Milliarden Franken. Bis heute wird jede ­Kapsel hier produziert und in die Welt exportiert.

Aber weshalb? Die Schweiz produziert teuer.
Aber auch sehr präzise. Und in hoher Qualität. Deshalb entstand die erste Fabrik hier. Die Schweiz profitiert von ihrer grossen Feinmechaniktradition in der Uhrenindustrie. Ausserdem war hier unser erster grosser Nespresso-Markt. Klar hätte man die zweite Fabrik auch in Frankreich oder Deutschland bauen können.

Was gab den Ausschlag?
Die Einstellung der Schweiz zur Arbeit. Das Volk hat 2002 gegen die 36-Stunden-Woche gestimmt.

So ein unmittelbarer Zusammenhang?
Ja. Klar sind die Stundenkosten höher, aber dafür bekommen wir Flexibilität und eine gute Arbeitseinstellung. Diesen Wettbewerbsvorteil der Schweiz muss man anerkennen.

Alle wollen heute ein Stück vom Kaffeekapselmarkt.
Wir haben insgesamt über 100 Mitbewerber. Alle Kaffeefirmen sind in diesem Feld engagiert. Sogar unser lieber Mitkonkurrent Unilever hat jetzt Teekapseln entwickelt, die in Nespresso-Maschinen funktionieren.

Wie viel kostet es, das Nespresso-Patent zu schützen?
Die europäische Patentpolitik ist alles andere als motivierend. Man zwingt uns heute, neue Patente vier Monate vor Markteinführung unseren Konkurrenten im Detail zu zeigen. Das klingt fast unglaublich. Aber wir sind erfolgreich, weil wir unsere Kunden emotional an Nespresso binden. Solange wir für die Konsumenten und für die Kleinbauern, die etwa im Südsudan Kaffee produzieren, Gutes tun, brauchen wir den Patentschutz gar nicht.

Die Digitalisierung schüttelt die ganze Gesellschaft durch. Auch Nestlé?
Selbstverständlich. Früher waren die Massenmedien einer der wichtigsten Kanäle, um mit den Konsumenten Kontakte zu pflegen. Heute will der Kunde eins zu eins angesprochen werden. Wir haben 340 Millionen Facebook-Freunde weltweit und durchschnittlich 240'000 für eine Marke.

Und den Detailhandel lassen Sie auch gleich aus.
Wir haben die neue Cailler-Schokolade – abgesehen von ein paar Flughafen-Shops – international nahezu exklusiv über Amazon und E-Commerce lanciert. Nespresso macht 50 Prozent des Umsatzes im Internet. In China er­zielen wir bald zehn Prozent des Umsatzes über ­E-Commerce.

Das kostet ­Arbeitsplätze.
Wir erleben die vierte industrielle Revolution, in der Wirtschaftswachstum ohne neue Jobs entsteht. Das birgt soziale Spannungen.

Wie stark beschäftigt Sie das Flüchtlingsproblem?
Wir haben zwei Flüchtlingsströme. Einen aus Irak, Afghanistan, Syrien. Den zweiten aus Nord­afrika. Die sollten unterschiedlich betrachtet werden. Alleine aus ­Syrien kommen zwölf Millionen Kriegsflüchtlinge. Viele bestens ausgebildete, intelligente Menschen, die alles verloren haben. Dieser Flüchtlingsstrom kann für Europa positiv sein, wenn Europa intelligent ist. Deutschland kann dadurch ein zusätzliches Wirtschaftswachstum gewinnen.

Sprechen Sie jetzt für Ihr Unternehmen?
Es ist doch besser und wichtiger, 500'000 Menschen in einer Not­situation zu helfen, als noch eine Schönheitsreparatur vorzunehmen, die keiner braucht. Wenn die dann später Grundnahrungsmittel kaufen und an unserem Konsum teilhaben, umso besser.

Merkel ist also schlauer als Orban?
Das müssen andere beurteilen.

Gibts den Begriff Wirtschaftsflüchtling für Sie gar nicht?
Der Flüchtlingsstrom aus Nord­afrika beunruhigt mich mehr. Er wird nicht versiegen. Die Bevölkerung in Tschad, Niger, Nigeria wächst in den nächsten Jahren zwischen 300 und 800 Prozent. Sie haben dort aber keine Lebensbasis. Sie müssen sich nach Norden bewegen. Wie man mit diesen Menschen umgeht, wird eine riesige Herausforderung sein. Wir können noch so viele Zäune bauen, das nützt nichts. Diese sozialen Spannungen müssen wir aushalten können.

Was machen Sie nach Ihrer Pensionierung 2017?
Dann bin ich mit den öffentlichen Ämtern durch. Ich habe das vor zwei Jahren angekündigt. Nestlé, L’Oréal, Exxon – das geht alles zu Ende. Dann bin ich frei.

Frei für Ihre Hobbys.
Ich bin im Rahmen einer Private-Equity-Firma der Präsident der ­Formel-1-AG. Dieses Investment dauert zehn Jahre. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen wird die Gletscherfliegerei bleiben, oder das Helikop­terfliegen. Ich freue mich sehr auf den PC-24-Jet. Ich werde auch für dieses Modell meinen ­Pilotenschein machen und ein bisschen in der Welt herumfliegen. Die Berge sind ein Teil meines Lebens und werden das auch bleiben. Und ich freue mich, mehr Zeit auf der Riederalp verbringen zu können. Das Geschäftliche mit dem Privaten verbinden. Und unsere neue Kaviarfarm ist ein schönes Projekt mit Entwicklungspotenzial. Mein Sohn kümmert sich um das Family Business. Die Ideen gehen mir eigentlich nicht aus.

Ihr Lebensmittelpunkt wird die Schweiz bleiben?
Gerne, solange mich die Schweizer akzeptieren.

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