«Die Arbeitsbedingungen sind unaushaltbar!»
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Gewerkschaftsvorsteherin:«Die Arbeitsbedingungen sind unaushaltbar!»

Pflegende flüchten in Temporär-Jobs!
1000 Franken mehr Lohn und weniger Arbeit

Jeden Monat kehren über 300 Pflegende dem Beruf den Rücken. Für viele, die bleiben, scheint der Ausweg temporäres Arbeiten zu sein. Der Grund? Mehr Lohn und Flexibilität trotz geringerem Pensum. Doch das geht zulasten der Festangestellten – und der Spital-Finanzen.
Publiziert: 12.10.2022 um 07:25 Uhr
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Aktualisiert: 18.10.2022 um 19:04 Uhr
Carla De-Vizzi

Personalnotstand, unregelmässige Arbeitszeiten und Dauerstress – die Defizite des Pflegeberufs sind spätestens seit der Corona-Pandemie jedem ein Begriff. Es herrscht ein wahrer Pflege-Exodus, umgangssprachlich auch Pflexit genannt.

Die Situation im Gesundheitswesen verschlechtere sich laut dem Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner rasant. «Während die einen dem Beruf den Rücken ganz kehren – circa 300 Pflegende monatlich –, wandern viele ins temporäre Arbeiten ab», sagt Pierre-André Wagner (61), Leiter des Rechtsdienstes des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, zu Blick.

Statt festangestellt zu sein, helfen die Pflegenden also tage-, wochen- oder gar monatsweise in unterschiedlichen – von ihnen gewählten – Spitälern oder Pflegeheimen aus. Dabei werden sie nicht nur besser bezahlt, sondern können auch ihre Arbeitszeiten selber bestimmen.

Die Situation im Gesundheitswesen verschlechtert sich laut dem Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) rasant.
Foto: imago images/Panthermedia
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Eine von ihnen ist die diplomierte Pflegefachfrau Fabienne Kunz (27) aus Zürich. «Seit ich temporär arbeite, bin ich viel flexibler. Ich kann die Dienste, die mir zusagen, übernehmen und sogar auch einmal ein paar Tage aneinander freinehmen», so Kunz zu Blick. Für die Zürcherin, die seit zwölf Jahren in der Pflege arbeitet, ein Luxus, den sie sich vorher nie hätte träumen lassen.

Höherer Lohn von bis zu 1000 Franken

Auch vom Lohn her sei temporäres Arbeiten lukrativ. «Alles in allem verdiene ich circa 1000 Franken mehr – und das bei einem tieferen Arbeitspensum», so Kunz. Man müsse jedoch bedenken, dass der 13. Monatslohn da schon inbegriffen sei und man weniger in seine Pensionskasse einbezahle. Ähnlich sieht es der diplomierte Pflegefachmann Helder Gomes (28) aus Dübendorf ZH: «Am Ende des Monats bleibt mir immer noch mehr Geld übrig, als wenn ich fix gearbeitet hätte.»

Das Modell scheint anzukommen: Der Temporärmarkt boomt. Gemäss einer noch nicht veröffentlichten Umfrage des Verbands der Pflegedienstleistungen, Swiss Nurse Leaders, haben Temporäreinsätze seit vor der Pandemie um 60 Prozent zugenommen. Pierre-André Wagner vom Pflegeverband ist über diese Entwicklung wenig überrascht: «Nach dem Ja zur Pflege-Initiative haben viele Pflegefachpersonen Sofortmassnahmen erwartet. Passiert ist kaum etwas. Jetzt ziehen die Pflegenden die Konsequenzen und gehen temporär arbeiten», sagt er zu Blick.

Alarmierende Zahlen für Schweizer Spitäler

Wie eine am Sonntag veröffentlichte Studie des Wirtschaftsprüfungsunternehmens PWC zeigt, sieht es für die Schweizer Spitäler auch in den nächsten Jahren düster aus: Der Fachkräftemangel im Schweizer Gesundheitswesen werde sich «gnadenlos zuspitzen». Laut Berechnungen von PwC Schweiz werden im Jahr 2040 fast 40’000 Pflegekräfte und rund 5500 Ärzte fehlen.

Auch werde es an ausgebildetem Personal in wichtigen Bereichen wie Finanzen, IT oder HR mangeln. Die grosse Lücke könne einerseits durch das Bevölkerungswachstum erklärt werden und andererseits durch die Häufung von chronischen Erkrankungen, die mit der Alterung der Gesellschaft einhergehen. Zudem werde die Situation dadurch verschärft, dass das Pflegepersonal bereits seit der Pandemie am Anschlag sei.

Die PWC-Studie «Schweizer Spitäler» entstand im September 2022 auf der Basis von Geschäftsberichten von 43 Akut-Spitälern und 12 Psychiatrien.

Wie eine am Sonntag veröffentlichte Studie des Wirtschaftsprüfungsunternehmens PWC zeigt, sieht es für die Schweizer Spitäler auch in den nächsten Jahren düster aus: Der Fachkräftemangel im Schweizer Gesundheitswesen werde sich «gnadenlos zuspitzen». Laut Berechnungen von PwC Schweiz werden im Jahr 2040 fast 40’000 Pflegekräfte und rund 5500 Ärzte fehlen.

Auch werde es an ausgebildetem Personal in wichtigen Bereichen wie Finanzen, IT oder HR mangeln. Die grosse Lücke könne einerseits durch das Bevölkerungswachstum erklärt werden und andererseits durch die Häufung von chronischen Erkrankungen, die mit der Alterung der Gesellschaft einhergehen. Zudem werde die Situation dadurch verschärft, dass das Pflegepersonal bereits seit der Pandemie am Anschlag sei.

Die PWC-Studie «Schweizer Spitäler» entstand im September 2022 auf der Basis von Geschäftsberichten von 43 Akut-Spitälern und 12 Psychiatrien.

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Wäre das Spital eine Baustelle, die Suva stünde vor der Tür

Kunz ist ob der Entwicklung keineswegs erstaunt: «Es ist immer noch gang und gäbe, dass Pflegende teilweise sieben Tage am Stück arbeiten oder nach der Spätschicht direkt die Frühschicht schieben.» Kunz kennt deshalb inzwischen praktisch keine Leute mehr, die fix angestellt sind. «Die, die ich kenne, arbeiten entweder temporär oder haben ganz gewechselt», sagt sie.

Davon, dass die Arbeitsbedingungen teilweise unzumutbar sind, kann auch die diplomierte Pflegefachfrau Claudia Hartmann (31) aus Eschenbach SG ein Lied singen: «Wenn ein Spital eine Baustelle wäre, wäre die Suva schon lange gekommen und hätte sie geschlossen. Aber in der Pflege macht es einfach niemand.»

«Wir haben schweizweit einen dramatischen Exodus»
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Wenn der Job gefällt, die Bedingungen aber untragbar sind

Über den Exodus im Pflegebereich sollte man sich also nicht wundern. «Das Gesundheitswesen ist mehr als selber schuld, dass es so weit gekommen ist. Man hätte Jahrzehnte Zeit gehabt, um die Bedingungen zu verbessern», sagt Hartmann.

Die Schlussfolgerung sei einfach: «Wenn der Job für festangestellte Pflegefachpersonen nicht attraktiver gemacht wird, werden ihn die Leute weiterhin an den Nagel hängen», sagt Pflegefachmann Gomes. Und das sei schade, denn: «Die meisten sagen, der Beruf an sich würde ihnen gefallen, jedoch stimmen die Bedingungen einfach nicht.»

Temporäre kosten Spitäler mehrere Tausend Franken mehr

Pierre-André Wagner zufolge ist die Zunahme von Temporär-Mitarbeitenden problematisch. Wenn deren Anteil nämlich ein bestimmtes Mass übersteige, werden die Festangestellten zu Lückenbüssern: «Die Temporären wählen aus, wann sie arbeiten, und die Festangestellten müssen den Rest übernehmen – das könnte zu einer weiteren Frustration führen.»

Ein weiterer Nachteil seien die Finanzen. «Temporäre sind viel teurer als Festangestellte. Das Spital muss nicht nur die Temporärfirma bezahlen, sondern auch für das höhere Gehalt aufkommen.» Dies verursache für den Betrieb schnell Mehrkosten von mehreren Tausend Franken, und das monatlich pro temporären Mitarbeitenden.

Dass die Anzahl temporärer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zunimmt, bestätigen auch zwei der grössten Schweizer Spitäler. «Der Anteil von temporären Anstellungen steigt auch im USZ seit einiger Zeit», schreibt Manuela Britschgi vom Universitätsspital Zürich (USZ) auf Anfrage von Blick. Auch im Inselspital Bern habe man in den letzten Monaten etwas mehr Temporärpersonal eingestellt, wie das Spital Blick schreibt.

Obwohl man aufgrund des schweizweiten Fachkräftemangels nicht auf die Temporären verzichten könne, sei die Situation für die Teams teilweise belastend. «Die häufigen Wechsel bedeuten Mehraufwand, kurzfristig auf der Abteilung tätige Pflegefachpersonen fügen sich zudem nicht gleichermassen ins Team ein und übernehmen kaum Zusatzaufgaben», so das USZ. Zudem fehle teilweise das Spezial- und Prozesswissen für die komplexen Pflegesituationen in einem Unispital.

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