«Bin hässig auf alle, die keine Ahnung haben»
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Pflegepersonal erschöpft:«Bin hässig auf alle, die keine Ahnung haben»

Medizinisches Personal geht erschöpft in die zweite Welle
«Bin hässig auf alle, die keine Ahnung haben»

Pflegende sind wütend und am Anschlag. Jetzt wollen sie kommende Woche protestieren. Betroffene und Leidgeplagte erzählen.
Publiziert: 25.10.2020 um 17:05 Uhr
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Aktualisiert: 25.10.2020 um 20:09 Uhr
Nicolas Lurati

Letzten Frühling taten sie es, jetzt müssen sie es wieder tun: Das medizinische Personal appelliert in den sozialen Medien an die Bevölkerung. Sie schildern die prekäre Situation in ihrem Job und fordern die Menschen eindringlich dazu auf, die Corona-Massnahmen zu befolgen.

Gerade wird auf Facebook ein Post einer Schweizer Notärztin fleissig geteilt: Die Medizinerin berichtet von ihrer Schicht am Samstag. «Ich bin heute von 8 bis 20.56 Uhr unterwegs gewesen. Der allergrösste Teil der Fälle war Covid. Junge Leute, 23-jährig, nach Luft ringend.»

Sie fährt fort: «Eine Ältere, 64-jährig, deren Zustand sich beim Warten auf den Transport ins Spital unter meinen Händen so verschlechtert, dass sie direkt auf die IPS (Intensivpflegestation, die Red.) muss. Jedoch ist im Spital auf Stadtzürcher Boden, wo ich sie angemeldet hatte, die Intensivstation unterdessen schon voll.»

Das Pflegepersonal ist am Anschlag. Hier medizinische Angestellte in der Intensivstation des Kantonsspitals Freiburg Ende März 2020. (Symbolbild)
Foto: Keystone
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Sie habe am Samstag 10 Minuten Pause während der ganzen Schicht gehabt, schreibt die Notärztin. «Beim Warten auf den Zug zum Heimfahren.» Ihr Fazit: «Arbeiten, arbeiten, arbeiten, und die Flut der Fälle liess nicht nach.»

Sie sei nach diesem Tag «ehrlich gesagt hässig». Und zwar «auf all jene, die dermassen keine Ahnung haben, oder haben wollen, was hier gerade abläuft – und sich verhalten, als wäre nichts geschehen. Und wir arbeiten am Limit unserer Kräfte. Ich mag langsam nicht mehr.»

Am Sonntag stand sie um 5.20 Uhr auf. Für die nächste Schicht.

«Wir konnten über Stunden nicht aufs WC»

Auch das Pflegepersonal ist sauer: ausgelaugt, Lohnkürzungen, keine WC-Pausen. Jetzt gehen die Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner auf die Strasse. Ab Montag startet der Berufsverband eine Protestwoche. Am Samstag folgt zum Abschluss ein Aktionstag auf dem Bundesplatz.

Die «SonntagsZeitung» hat den Weg der Verzweiflung der Pflegenden in der Corona-Krise nachgezeichnet. Es herrsche Personalmangel. Und es sei über die Jahre versäumt worden, den Beruf des Pflegenden attraktiver zu gestalten. Die Jungen im Beruf hätten gekündigt. Die anderen seien stets am Anschlag.

Zuerst war die erste Welle im Frühling. Zwei Pflegerinnen erzählen von den enormen Strapazen von damals. Margrit *, eine Intensivpflegerin, berichtet etwa, dass man nur ein- oder zweimal pro Schicht aus der Covid-Station rausgekommen sei. «Sonst steckten wir immer in Vollmontur.» Und: «Oft konnten wir über Stunden nicht einmal aufs WC. Denn dafür musste man alles ausziehen, dazu reichte die Zeit nicht.»

«Pflegende, die sitzt, ist Pflegende, die streikt»

Sylvie* berichtet der «SonntagsZeitung» aus einem Genfer Spital: «Man hat uns gesagt, eine Pflegende, die sitzt, ist eine Pflegende, die streikt.» Mittlerweile hat Sylvie gekündigt.

Im Sommer gingen die Corona-Fallzahlen zurück. Doch die Pflegenden seien von der Politik ignoriert worden. In Genf und im Waadtland wird gespart. Und in Neuenburg fühlt sich Spital-Mitarbeiterin Corinne* von den Behörden nicht beachtet: «Das Frustrierendste ist das Gefühl der Verlassenheit. Die Menschen haben uns vergessen. Ich habe das Gefühl, geopfert worden zu sein», wird sie zitiert.

Jetzt ist Oktober. Die zweite Welle da. Die Pflegenden haben die Nase voll.

Intensivpflegerin Margrit meint, dass nicht nur die Anzahl Beatmungsgeräte und Betten wichtig sei, sondern das verfügbare Personal. Wegen Personalmangel müsste ihr Spital hoffen, dass keine weiteren Eintritte kommen. «Wenn niemand die Geräte bedient, kann man gleich den Stecker ziehen.»

* Namen geändert

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