Presseschau
Die Suche nach Schuldigen und Verlierer nach dem Brexit

Nach dem Ja Grossbritanniens zum Austritt aus der EU machen sich Kommentatoren der Schweizer Zeitungen auf die Suche nach den Gründen dafür. Schuld auf sich nehmen müssen demnach David Cameron, Angela Merkel, die Personenfreizügigkeit und andere mehr.
Publiziert: 25.06.2016 um 06:04 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 22:40 Uhr
Das Ja zum Nein zur EU: So sehen Kommentatoren und Karikaturisten der Schweizer Tageszeitungen den Brexit.
Foto: zvg

«Tages-Anzeiger»:

«Wie kam es, dass aus dem Hoffnungsprojekt Europa ein dermassen ungeliebter Moloch wurde? Der Hauptgrund: Mit der Einführung des Euro und der unbegrenzten Personenfreizügigkeit wurde hoffnungslos an den EU-Bürgern vorbeiregiert. Der Brexit war ein Plebiszit gegen die Personenfreizügigkeit.»

«Berner Zeitung»:

«Ganz offenbar ist die EU vielen Europäern fremd geblieben. Warum das so ist, zeigte sich gestern unfreiwillig beim Auftritt von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Seine Hauptbotschaft war, dass der britische Premier David Cameron am Dienstag mit einem Austrittsersuchen in Brüssel zu erscheinen habe. Befehlston und kühle Abwicklungsmentalität statt Demut und Selbstreflexion darüber, was die EU sein soll - und was nicht.»

«Neue Luzerner Zeitung»/«St. Galler Tagblatt»:

«Das Integrationstempo der EU wurde zwar in den letzten Jahren gedrosselt. An der Personenfreizügigkeit hat sie aber strikt festgehalten. Das empfanden viele zunehmen als Belastung. (...) Die Personenfreizügigkeit ist eine zentrale Errungenschaft der EU. Doch manchmal muss man bereit sein, von Prinzipien abzuweichen, um das Projekt zu retten. Jean-Claude Juncker und seine Kommission haben die Lage falsch eingeschätzt. Man darf sich fragen, ob er noch der richtige Mann in Brüssel ist.»

«Bund»:

«Die Personenfreizügigkeit lässt sich wohl nur retten, wenn die EU den beteiligten Ländern eine gewisse Steuerung der Zuwanderung erlaubt. So könnte sie ihren Gegnern Wind aus den Segeln nehmen - im britischen Referendumskampf war die Zuwanderung das Hauptargument der Austrittsbefürworter.»

«Zürcher Oberländer»:

Dass die Inselbewohner sich für diesen Weg entschieden haben, ist nicht nur auf diffuse Migrationsängste zurückzuführen, sondern hängt auch mit der schlechten Verfassung der EU zusammen. (...) Zudem rächt sich jetzt auch, dass das Problem des Demokratiedefizits in der EU nie wirklich angegangen worden ist. Die Mitbestimmung des Volks in EU-Angelegenheiten wird kleingeschrieben. (...) Wenn die EU aber die Zentrifugalkräfte eindämmen und weitere Absatzbewegungen unterbinden will, kommt sie nicht umhin, sich Reformen zu unterziehen. Zu diesen wird auch die Frage gehören, ob die umstrittene Personenfreizügigkeit wirklich so absolut gelten muss.«

»Schaffhauser Nachrichten«:

»Ein Auseinanderbrechen der EU kann nur verhindert werden, wenn sie sich neu erfindet: Im Zentrum muss die Frage stehen, wie die demokratische Legitimation und die Mitsprache erhöht werden können. Denn genau daran krankt die EU: Die Menschen in den Mitgliedstaaten haben längst den Anschluss an die stramm voranschreitende politische Verschmelzung verloren. Inzwischen verlangen sie aber das zurück, was ihnen zusteht: Kontrolle über die Politik.«

»Der Landbote«:

»Die EU weiss spätestens jetzt, das sie die Personenfreizügigkeit als absolut geltendes Prinzip überdenken muss, will sie nicht Austrittsdiskussionen in weiteren Mitgliedsländern riskieren. (...) Die Schweiz ist gut beraten, die durch den Brexit geschaffene Situation zu nutzen, um in der verknorksten Masseineinwanderungsfrage endlich Klarheit zu schaffen.«

»Südostschweiz«:

»Optimisten hoffen, dass der Brexit einen Impuls für eine EU-Reform in Richtung Bürgernähe und mehr Demokratie nach sich zieht, manche hoffen sogar auf eine stärkere Integration. Pessimisten dagegen beschwören nicht weniger als den Anfang vom Ende der europäischen Einigung. Es könnte aber auch sein, dass nichts von alledem eintritt.«

»Neue Zürcher Zeitung«:

»Cameron hat das EU-Referendum anberaumt, um dem internen Zwist in der Konservativen Partei ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Das Ergebnis aber war das genaue Gegenteil: Die Partei präsentierte sich im Abstimmungskampf so gespalten wie nie zuvor, und das Referendum wurde zum Ventil für alle möglichen Formen der Unzufriedenheit und der Protesthaltung. (...) Der Volksentscheid demonstriert einmal mehr, dass in Europa der Nationalstaat zwar ständig an Handlungsfreiheit verlieren mag, dass er aber für breite Bevölkerungskreise eben doch der zentrale politische Bezugsrahmen bleibt.«

»Blick«:

»Der Brexit wurde von der älteren Landbevölkerung durchgesetzt, die es den Gurkennormierern in Brüssel zeigen wollte. Ihr ist die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel überhaupt nicht willkommen. 'Stiff upper lip' riskieren sie mit Blick auf ihre gloriose Vergangenheit die Zukunft der urbanen Jugend, die den Brexit nicht wollte. Der grösste Verlierer ist aber David Cameron (...) Provoziert ohne Not den Exit, spaltet Grossbritannien wegen der EU-Fans Schottland und Nordirland und verliert seinen Job.«

»Walliser Bote«:

»Nicht mehr am Verhandlungstisch ist Premier David Cameron. Er gehört zu den ganz grossen Verlierern. Ohne politische Not hat er in einer kolossalen Fehleinschätzung das Referendum auf die Agenda gesetzt. Im Stile eines abgebrühten Pokerspielers warf er zusammen mit seiner Karriere auch die Zukunft des Landes auf den Spieltisch und hat alles verloren. Seinem Nachfolger hinterlässt er ein tief gespaltenes Land.«

»Basler Zeitung«:

»Wenn aber jemand für den Brexit verantwortlich ist, dann Angela Merkel (....): Als es darum ging, das vertrackte Verhältnis zwischen Grossbritannien und der EU neu zu verhandeln, fuhr Cameron eigens nach Berlin, in der Absicht, die Deutschen auf seine Seite zu bringen. Zu den Reformen und Zugeständnissen, die er erreichen wollte, gehörten natürlich wirksame Mittel gegen die ungesteuerte Immigration, unter welcher die Briten ächzten. Merkel lehnte dies in Bausch und Bogen ab.«

»Nordwestschweiz«:

»Man kann mit Recht an vielem in der EU herummäkeln. Bedauerlich ist, dass ihr historisches Verdienst mehr und mehr negiert wird: Nie zuvor in der Geschichte gab es eine derart lange Friedensphase im Gebiet der heutigen EU-Mitglieder. Partnerschaftliche Beziehungen, offene Grenzen, freier Handel - das alles war noch vor zwei Generationen undenkbar.«

»L'Hebdo«:

»Welches Europa wollen wir?«, fragt die Westschweizer Zeitung »L'Hebdo« und gibt zu bedenken, dass nach wie vor in Sachen Steuern, Budget und Sozialem nicht ein »Europa« existiere: »Das Geld ist der Spiegel der Gesellschaft, aber nicht ihr Horizont. Der Karren wurde vor die Ochsen gespannt.«

»Le Courrier«:

Die Zeitung »Le Courrier« zieht eine Parallele zwischen den Gründen, welche die Briten zum Alleingang bewegt haben, und dem Schweizer Isolationismus: »Eine Verweigerung gegenüber der überbordenden Bürokratie und der Freiheitsbedrohung.«

»La Liberté«:

»Die Bürger Grossbritanniens haben eine Art Weckruf gestartet: Sie sagten es laut und deutlich, dass sie sich nicht mehr in jenem Europa wiedererkennen können, zu dem es seit der Osterweiterung geworden ist: Ein zusammengewürfelter Club mit Motorschaden und ohne gemeinsame Geschichte.«

»Le Matin«:

»Das Hauptproblem Europas ist, dass es auf einem Ideal beruht, welches nicht immer mit dem Volkswillen vereinbar ist. (...) Das Vereinigte Königreich verkörpert diese Ambivalenz gut. (...) An diesem 24. Juni 2016 hat Europa eines seiner Schwergewichte verloren. Während Frankreich und Italien nicht in der Lage sind, Gegengewicht zu sein, wird Deutschland bald als alleiniger Leader eines nicht mehr nur bleifüssigen, sondern amputierten Kolosses dastehen."

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