Prominenten-Anwalt Christian Schertz kritisiert «Verdachtsberichterstattung»
«Diese Entwicklung ist verheerend»

Er ist der Rockstar unter den Medienjuristen: Wer etwas auf sich hält, ruft Christian Schertz an, wenns brennt – wie kürzlich Rammstein-Sänger Till Lindemann. Ein Gespräch über #MeToo, Pressefreiheit und Privatsphäre.
Publiziert: 09.07.2023 um 10:44 Uhr
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Aktualisiert: 10.07.2023 um 10:48 Uhr
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Christian Schertz: Ein Name, der in vielen Redaktionen Bibbern auslöst. Wenn Berühmtheiten mit Medien streiten, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass er zur Stelle ist. Im harmloseren Fall flattert eine Unterlassungserklärung mit dem Absender seiner Berliner Kanzlei Schertz Bergmann herein, im ungünstigeren sieht man sich vor dem Richter wieder.

Der 57-Jährige gilt als der Medienanwalt schlechthin, er hat das Presserecht im deutschsprachigen Raum und den Umgang der Vierten Gewalt mit Protagonisten wesentlich mitgeprägt – der ARD-Anwaltsserie «Legal Affairs» diente er als Vorbild für die Hauptfigur.
In der Öffentlichkeit bekannt ist er vor allem seiner glamourösen Kundschaft wegen: Dazu gehören Schlagerqueen Helene Fischer (38), Fussballstar Cristiano Ronaldo (38), Operndiva Anna Netrebko (51), Talkmaster Thomas Gottschalk (73), die heutige deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock (42), TV-Moderator Günther Jauch (66) oder die Volkswagen-und-Porsche-Dynastie Piëch. Schertz betreut auch Schweizer Klienten wie aktuell den geschassten Tamedia-Journalisten Finn Canonica (57), der gegen den «Spiegel» klagt.

Das grösste Aufsehen erregt derzeit sein Mandant Till Lindemann (60), der Sänger der deutschen Hardrock-Band Rammstein, dem sexuelle Vergehen mit Groupies vorgeworfen werden. Grund genug für SonntagsBlick, mit dem Juristen ein Interview zu führen, der in druckreifen Sätzen spricht.

«Wir sind nur ein kleines Korrektiv»: Christian Schertz, Anwalt und Rechtsprofessor.
Foto: imago/tagesspiegel
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SonntagsBlick: Sie haben Ihren Arbeitsplatz einmal mit der «Notaufnahme» für Klienten verglichen. Wie muss man sich Ihre Erste Hilfe vorstellen?
Christian Schertz:
Den Vergleich führe ich immer wieder mal ins Feld, weil Notärzte körperlich verletzte Personen betreuen, die sofort versorgt werden müssen. Wir machen praktisch das Gleiche für die persönliche Reputation und Ehre eines Menschen, wenn seine Privatsphäre verletzt wurde, Unwahrheiten oder falsche Vorwürfe verbreitet wurden.

Dann geht es um Tempo?
Wenn man nicht sofort handelt, ist die Reputation möglicherweise für immer beschädigt. Kommt ein Fall rein – etwa der Bericht über eine private Beziehung, der nicht stimmt, oder über eine Erkrankung – und man reagiert nicht umgehend, ist der Flurschaden gross und die Zerstörung eines Menschen medial möglicherweise nicht mehr zu verhindern. Sie wissen am besten, wie schnell Medien heute funktionieren. Die epochalen Veränderungen mit dem Internet wirken sich auch auf den Persönlichkeitsschutz aus.

Inwiefern?
Früher sagte ich: Wir haben nur wenige Stunden. Heute sage ich: Wir haben manchmal nur eine Stunde, um zu gucken, was man tun kann.

Und was tun Sie konkret?
Wir machen sozusagen eine Anamnese, wir schauen uns den Sachverhalt an, ob ein Bericht veröffentlicht worden ist oder eine Veröffentlichung droht. Wenn diese rechtswidrig ist, gehen wir dagegen vor und versuchen, die Übernahme durch andere Medien durch entsprechende Informationsschreiben zu verhindern. In manchen Fällen kommen wir auch einer Berichterstattung zuvor und gehen selbst mit einer Presseerklärung an die Öffentlichkeit – es kommt immer auf den Einzelfall an. In jedem Fall versuchen wir, Schaden von dem Betroffenen abzuwenden. Wenn die Menschen in einer derartigen Krisenlage zu uns kommen, sind sie auch nicht selten in einer schwierigen psychischen Verfassung oder stehen unter enormem Druck.

Christian Schertz, der Seelentröster?
Sie brauchen Empathie, um zu wissen, was Sie in einem solchen Moment tun müssen. Sie brauchen Ihren Mandanten in so einem Fall ja auch weiter, der muss also stabil bleiben. Ich habe über 30 Jahre Erfahrung, ich weiss, was ich sagen muss – zum Beispiel oft, was es braucht, damit eine Berichterstattung nicht erfolgt. Was ich meinen Mandanten auch immer wieder sage: Es wird jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben, die Geschichte wird in einem Jahr anders gesehen oder bereits vergessen sein.

Es heisst doch, es bleibe immer etwas hängen.
Das hat sich ein wenig verändert. Wir haben heute eine sehr schnelllebige Medienwelt, es braucht jeden Tag eine neue Schlagzeile, jeden Tag gibts einen neuen Menschen, gegen den neue Vorwürfe erhoben werden – Politiker, Sportler, Popstars, Schauspieler, Moderatoren, Chefredakteure, Chefärzte, Starköche und so weiter. Die Empörungsgesellschaft muss ständig gefüttert werden. Und weil das so schnelllebig geworden ist, vergisst das Publikum auch schneller.

Was ist heute anders in Ihrem Beruf als vor 30 Jahren?
Als ich Anfang der Neunziger Jahre als Anwalt in Hamburg anfing, betrafen Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch Medien immer nur Prominente. Der potenzielle Mandant war der Prominente, weil er Gegenstand öffentlicher Berichterstattung war. Durch das Internet hingegen besteht die Möglichkeit einer Persönlichkeitsrechtsverletzung für jeden Bürger. Für jeden von uns besteht das Risiko, dass morgen in den sozialen Medien oder auf anderen Plattformen unsere Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Heute kann jeder jeden heimlich fotografieren und die Bilder weltweit publizieren. Jeder kann über seinen Nachbarn anonym unwahre Behauptungen verbreiten. Und im Unterschied zu den gedruckten Zeitungen in den Neunzigern – von denen man sagte, dass sie am nächsten Tag Fischpapier sind – bleiben im Netz die Sachen weiter drin.

Gerade durch die sozialen Medien gefährden sich die Menschen doch selber. Viele stellen ins Netz, was sie essen, wie sie feiern, wo sie Ferien verbringen.
Das ist genau das, was ich immer wieder sage: Die Hauptgefährdungslage wird durch die Menschen selber geschaffen. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg hat als erster erkannt, dass jeder Mensch öffentlich stattfinden will – oder, wie Andy Warhol sagte, jeder für 15 Minuten berühmt sein. Aus dieser Sucht der Menschen, stattzufinden, hat Zuckerberg ein Milliardengeschäft gemacht. Er nannte die Privatsphäre ein Ding von gestern und sprach von der Post-Privacy-Gesellschaft. Heute stellen Leute Fotos ihrer Kinder und ihres Aufenthaltsorts ins Netz. Was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann.

Haben Sie dafür eine Erklärung?
Vielleicht können diese Leute nur auf diese Weise etwas von sich preisgeben, weil sie halt keinen Song komponiert, keinen Roman geschrieben haben, nicht schnell schwimmen oder Politiker sind, sondern normale Bürger. Eines muss klar sein: Wenn sie das tun, öffnen sie eine Tür, die sie nicht mehr zukriegen. Ich habe ja dann die Fälle auf dem Tisch, und die sind oft tragisch.

Einer Ihrer Erweckungsmomente war «Die verlorene Ehre der Katharina Blum», Heinrich Bölls Roman von 1974 über ein Medienopfer.
Ich habe das mit 14, 15 Jahren gelesen. Da geht es um eine unbescholtene Frau, die eine Nacht mit einem Terroristen verbringt, ohne zu wissen, dass er ein Terrorist ist, und dann von den Medien kaputt gemacht wird. Es war eine fiktive Zeitung, aber gemeint war natürlich «Bild». Der Roman hat mich geprägt. Mich hat das wütend gemacht, wie wehrlos ein Mensch ist, wenn er erst einmal in solche Schlagzeilen gerät. Auch Günter Wallraff mit seinen Büchern über den Springer-Verlag hat mich geprägt, mit denen bin ich in meiner Jugend in Berlin sozialisiert und politisiert worden. Daraufhin wurde ich Jurist.

Mit dem Springer-Verlag verbindet Sie bis heute – um es mal so zu sagen – ein spezielles Verhältnis. Empfinden Sie Schadenfreude wegen des Romans «Noch wach?» von Benjamin von Stuckrad-Barre, der mit Springer-Chef Mathias Döpfner und Ex-«Bild»-Chef Julian Reichelt abrechnet?
Zunächst einmal darf und will ich hierzu gar nicht viel sagen. Es ist ja kein Geheimnis, dass ich der Anwalt von Herrn von Stuckrad-Barre bin. Ich habe unabhängig davon die Situation im Springer-Verlag nicht mit Schadenfreude zur Kenntnis genommen, aber ich fühlte mich in meiner Haltung zu Springer bestätigt. Wenn man ein Blatt wie «Bild» macht, das praktisch jeden Tag Persönlichkeitsrechtsverletzungen begeht, verwundert es nicht, welche charakterlichen Eigenschaften man haben muss, um in dieser Redaktion in führender Position zu sein.

Die Medien sind nicht einfach nur Täter. Es gibt auch die andere Seite: Die Pressefreiheit gerät immer mehr unter Druck, Journalisten stehen einer wachsenden Kommunikationsindustrie gegenüber – da spielen Sie munter mit.
Die Pressefreiheit ist weder in der Schweiz noch in Deutschland in Gefahr, weil wir dort einen Rechtsstaat haben. Meine Sorge um die Pressefreiheit hält sich in Grenzen: In Deutschland stehen ein paar Anwaltskanzleien milliardenschweren Medienkonzernen mit riesigen Rechtsabteilungen gegenüber. Sie können die Kanzleien, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz hochspezialisiert Betroffene gegen Berichterstattung vertreten, an zwei Händen abzählen. Verlage wie Burda oder Bauer geben Klatschmagazine heraus, die davon leben, dass sie auf der Titelseite irgendetwas zusammenbauen, damit die Menschen das am Kiosk kaufen. Wir sind nur ein kleines Korrektiv – eher David gegen Goliath. Wir haben übrigens auch Mandanten, die keine Stars mit grossem Vermögen sind und sich über Jahre andauernde Prozesse gar nicht leisten können.

Sie vertreten Rammstein-Frontmann Till Lindemann, dem Sexualdelikte mit weiblichen Fans vorgeworfen werden, die er ausnahmslos bestreitet. Auf der anderen Seite stehen Youtuberinnen, die knapp 20 sind. Da sind Sie Goliath.
Ich möchte den konkreten Fall nicht kommentieren, das sind laufende Verfahren. Abstrakt formuliert: Auch der Youtuber, auch die Bloggerin muss die Rechtslage beachten. Wenn von denen Behauptungen aufgestellt werden, für die es keinen Beweis gibt, dann haften sie. Das ist geltendes Recht, und so ist es auch richtig, so ist es nun mal.

In der Rammstein-Debatte macht der Begriff Opfervermutung die Runde. Was halten Sie davon?
Sie meinen, dass die Unschuldsvermutung nicht mehr gilt?

Es geht darum, dass man seit #MeToo jemandem grundsätzlich glauben sollte, wenn er oder sie sagt: Ich bin ein Opfer.
Wir haben immer wieder Fälle, in denen eine Person einseitig und ohne Belege Vorwürfe erhebt und die Medien das übernehmen. Dann kommt jeweils der Alibi-Satz: Es gilt die Unschuldsvermutung. Ich finde diese Entwicklung, diese Form von Verdachtsberichterstattung, verheerend. Denn ein einseitig erhobener Vorwurf bringt den Betroffenen bereits in die Lage, dass er öffentlich stigmatisiert wird und sich faktisch nicht mehr öffentlich wehren kann. Wenn er redet, öffnet er den anderen Medien Tür und Tor, darüber zu berichten. Und wenn er schweigt, heisst es: Warum sagt er nichts dazu? Das ist eine Entwicklung der letzten Jahre, die nicht gut ist und Menschen ungebremst öffentlich vorführt.

In vielen Bereichen hat die Gesellschaft lange weggeschaut. Es ist doch positiv, wenn sich hier etwas bewegt.
Ich selbst stand als Anwalt sehr oft auf Seiten von #MeToo-Opfern. Ich habe etwa den Dieter-Wedel-Fall mit öffentlich gemacht, ich habe die SPD-Politikerin Sawsan Chebli gegen rechte sexistische Hetze vertreten. Ich habe beide Seiten kennengelernt. Natürlich: Wenn ein dringender Tatverdacht besteht oder sogar nachweisbar eine Tat begangen wurde wie im Fall Harvey Weinstein, dann muss darüber berichtet werden. Unbedingt. Aber es kann nicht sein, dass jeder einseitige Vorwurf ohne ausreichende Beweise zu einer öffentlichen Vernichtung führt.

Hat diese Polarisierung – hier die Guten, da die Bösen – Ihrer Meinung nach zugenommen?
Absolut! Wir haben inzwischen eine ziemlich schwierige Debattenkultur: einerseits den Hass im Netz, andererseits einen moralischen Standard in den Medien und in der Politik, dem kaum jemand gerecht werden kann. Viele meiner Gesprächspartner aus Gesellschaft und Politik sagen mir inzwischen: Ich darf dies und das öffentlich gar nicht mehr sagen. Sonst geht sofort die Empörungswelle über mich drüber.

Hören Sie das heute häufiger als früher?
Auf jeden Fall. Das ist eine ungute Entwicklung.

Ist der Medienkonsument Christian Schertz eigentlich völlig über jeden Zweifel erhaben? Oder haben Sie sich auch schon dabei ertappt, dass Sie Ihre Neugierde in der Klatschpresse befriedigen?
Der Drang, durchs Schlüsselloch zu gucken, ist doch jedem Menschen eigen. Ich bin Hardcore-Beatles-Fan. Wenn ich in London bin, pilgere ich regelmässig zu den Abbey-Road-Studios und gehe über den berühmten Zebra-Streifen, dann immer noch ein paar Strassen weiter und am Haus von Paul McCartney vorbei. Einfach, weil ich neugierig bin. Ich lese aus beruflichen Gründen auch regelmässig Boulevardmedien, in denen ich dann irgendwelche Hochzeitsberichterstattungen aufschnappe. So etwas ist auch mir nicht fremd.

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