Regionalgericht entscheidet
Todkranke Mutter darf ihre vier Kinder nicht mehr sehen

Eine Frau leidet an Brustkrebs im Endstadium. Ihre Kinder darf sie trotz ihrer schweren Erkrankung nicht sehen. Das hat ein Regionalgericht entschieden.
Publiziert: 16.08.2023 um 19:31 Uhr
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Aktualisiert: 16.08.2023 um 19:32 Uhr

«Wieso soll man in so einer Situation weiterleben?», fragt sich die Frau (38) im Gespräch mit dem «Beobachter». Sie hat Brustkrebs im Endstadium, ihr Oberkörper ist von Metastasen befallen. Selbst eine Chemotherapie wird sie nicht mehr gesund machen. 

Der einzige Grund zu leben seien ihre Kinder, sagt die vierfache Mutter. Diese darf die Frau aber nicht mehr sehen. Das soll das zuständige Regionalgericht Anfang Mai entschieden haben. «Ich lebe in der Hölle auf Erden, mit der Aussicht auf nichts», wird die Vierfach-Mama vom «Beobachter» zitiert.

Wie kam es dazu? Alles beginnt 2015, als die Frau ihren Partner heiratet, von dem sie heute getrennt lebt. Ihr Partner hat das Asperger-Syndrom, eine Form von Autismus. Betroffenen fällt es schwer, die Empfindungen und Vorstellungen anderer nachzuempfinden. «Ich fühlte mich oft unverstanden, emotional und physisch», erzählt die 38-Jährige. Ihre Gefühle blendet sie für die Kinder und den Familienfrieden aus.

Der einzige Grund zu leben seien ihre Kinder, sagt eine vierfache Mutter dem «Beobachter». (Symbolbild)
Foto: Keystone
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Im Sommer 2021 kommt das vierte gemeinsame Kind zur Welt. Die Kleine schreit viel, die Nerven liegen blank. Im Januar 2022 ist die Mutter am Ende. Kinder, Haushalt, nebenbei noch ein Heilpädagogik-Studium – alles ist zu viel. Sie lässt sich in eine psychiatrische Klinik einweisen. Die Diagnose lautet Erschöpfungsdepression. Doch schon am nächsten Tag kehrt sie nach Hause zurück. Jemand muss sich um die Kinder kümmern, der Vater arbeitet im Vollzeitpensum.

Mann aus dem Haus geworfen

Sie macht eine Psychotherapie und bittet die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) um Hilfe. «Ein wenig Hilfe bei der Betreuung, mehr hätte ich nicht gebraucht.» Doch die Kesb ordnet psychiatrische Hilfe an.

Im Mai 2022 bemerkt die Mutter einen Knoten in der Brust. Sie will zum Arzt gehen, doch weil ihr Mann die Kinder nicht übernehmen kann oder will, schiebt sie den Arztbesuch immer weiter auf. «Wenn ich gehen wollte, konnte ich mich nicht darauf verlassen, dass er da war», sagt sie. 

Die Unstimmigkeiten zwischen Mutter und Vater nehmen immer weiter zu. Schliesslich wirft sie ihren Mann aus dem gemeinsamen Haus. Es folgen gegenseitige Schuldzuweisungen: Man sorge nicht ausreichend für die Kinder.

Als sich die beiden im gemeinsamen Haus treffen, um zu reden, eskaliert die Situation. Die Frau will das Gebäude verlassen, ihr Mann stellt sich ihr in den Weg. Sie schlägt zu und flüchtet über die Balkontür.

Brustkrebs im Endstadium

Ihr Mann ruft die Polizei. Ein Verfahren wird eröffnet, der Aktenberg wird grösser und grösser. Eine Familienbegleitung und Beistandschaft für die Kinder sollen zur Beilegung des Konflikts beitragen. Die Mutter reagiert skeptisch. Zu viele Besprechungen, zu wenig praktische Hilfe, argumentiert sie.

Sie sucht weiterhin einen Ausweg, geht mit zwei Kindern eine Zeit lang in ein Frauenhaus. Danach herrscht für kurze Zeit Ruhe. Von Sommer bis Winter 2022 sind die Kinder in ihrer Obhut. Ihr Mann zieht in ein Studio. Jedes zweite Wochenende besuchen ihn die Kinder, zwei Tage in der Woche werden sie zudem fremdbetreut.

Ab dem Winter teilen sich die Eltern dann die Obhut. Just zu diesem Zeitpunkt erhält sie die Diagnose Brustkrebs im Endstadium. «Als ich endlich leben konnte, machte meine Gesundheit nicht mehr mit», erzählt sie.

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Die aggressive Chemotherapie, für die sie sich entscheidet, raubt ihr die neugewonnene Kraft. «Ich war erschöpft, konnte kurzzeitig kaum mehr lesen oder richtig denken», sagt sie. Die Kinder leben noch immer bei ihr. Der Vater habe zwar seine Hilfe angeboten, behauptet sie. Aber: «Er tat nur das Nötigste, ohne viel Rücksicht auf mich und meine Gesundheit zu nehmen», klagt sie an.

Entscheid des Regionalgerichts

Es folgen Zusammenbrüche, Klinikaufenthalte und gemäss «Beobachter» auch ein Suizidversuch. Mittlerweile leben die Kinder beim Vater, täglich telefonieren sie mit der Schwerkranken. Zweimal pro Woche kommt es in Begleitung einer Sozialpädagogin zu Treffen.

Irgendwann erklärt sie ihren Kindern, dass sie sterben wird. Während der Frühlingsferien 2023 findet sie einen Gerichtsentscheid im Briefkasten. Der Vater soll die Kinder fortan vollständig betreuen. Die Behörden halten die Mutter emotional für zu instabil, als dass sie sich angemessen um die Kinder kümmern könne.

Anfang Juli entscheidet das Regionalgericht laut «Beobachter», dass sie ihre Kinder gar nicht mehr sehen darf. Trotz Verbots hatte sie Kontakt zu ihnen aufgenommen. «Ich hatte ihnen sagen wollen, dass ich sie liebe und für sie da sein will», gibt sie an. Bald könne sie das vielleicht nicht mehr. (nad)

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