«Es ist schön, wenn man seinen Job wieder machen darf»
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Reportage vom Zmittagstisch:«Es ist schön, wenn man seinen Job wieder machen darf»

Reportage vom Zmittagstisch
Mittags um halb eins in der Schweiz

Langsam öffnen die Restaurants. Erst nur für Büezer, mit den Terrassen nun für alle. Wir wollten wissen, wie es an den Mittagstischen ausschaut. Und setzten uns zu Menschen in der Büezer-Beiz, auf der Terrasse, an den Familientisch und in der Schulkantine.
Publiziert: 24.04.2021 um 12:12 Uhr
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Aktualisiert: 25.04.2021 um 18:43 Uhr
Seit Februar dürfen die Restaurants langsam wieder öffnen. Wir setzten uns zu Menschen in der ganzen Schweiz an den Mittagstisch.
Foto: Thomas Meier
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Rebecca Wyss, Anna Uebelhart und Alexandra Fitz

Flawil SG, Gasthaus Steinbock

«Katastrophe.» Das fällt Qashif Ismaili (57) als Erstes ein, wenn er an die letzten Monate denkt. «Ich will aber nicht jammern.» Gerade eilt er zwischen der Terrasse und dem Tresen hin und her, in der Hand hat er immer wieder eine neue Stange, ein neues Glas Wein. Als hätte es Corona nie gegeben. Und ein bisschen fühlt es sich auch so an. Seine Familie sei gesund, und sie können wieder arbeiten. «Schaffen ist für uns wie Therapie!»

Qashif und seine Frau Hanife Ismaili (49) sind seit 25 Jahren zusammen, haben fünf Töchter. Vor fast so langer Zeit kamen die beiden aus Nordmazedonien, zuerst nach Lenzerheide GR, ihre «zweite Heimat». Jetzt wirten sie in Flawil SG im Gasthaus Steinbock, ihrer «dritten Heimat», sagt er.

In der Küche kocht Hanife Ismaili gerade das Mittagessen. Es ist kurz vor 12 Uhr, auf dem Herd stehen Pfannen mit Rüeblicremesuppe und Pouletgeschnetzeltem, die Pizokel hält sie im Ofen warm.

Bei ihrem Mann bestellt derweil ein Nachbar ein «Tschumpeli», ein Glas Weisswein, und setzt sich kurz auf die Terrasse zum «Pappnasen-Treffen», wie der Nachbar die Stammgästerunde nennt. Hinein dürfen die «Pappnasen» nur zum Pinkeln. Sie sind keine Büezer.

Der «Steinbock» ist in Corona-Zeiten eine Büezer-Beiz. Und Qashif Ismaili eine Art Türsteher. «Jetzt muss ich Gäste, die ich nicht kenne, am Eingang immer fragen, was sie schaffen.» Zu Beginn war nicht allen klar, was Büezer-Beiz heisst. Ein Bürolist im Anzug, eine Gruppe von Lehrern – alle mussten am Eingang wieder umkehren.

Im Februar erlaubte der Bund Restaurants, sich bei den Kantonen als «Betriebskantine» für Büezer zu registrieren. Schutzkonzept inklusive. 60 Gäste haben bei den Ismailis Platz. Normalerweise. Wegen der Abstandsregeln ist der Platz nun begrenzt. Heute ist für zwölf Leute gedeckt.

Jetzt, kurz nach 12 Uhr, geht die Tür auf, draussen rattert ein Teenager mit seinem Puch-Töffli vorbei, hinein stapfen die ersten vier Gäste, Männer in warnwestenorangen Überkleidern. Sie sind vom Strassenverkehrsamt. Minustemperaturen, Schnee – im Winter blieb ihnen nichts erspart. Oft büezten sie über Mittag durch, um schneller fertig zu werden. Sie konnten ja nirgends ins Warme. Dominik Wiederkehr denkt ungern daran zurück. «Das war nicht schön.» Der Körper habe sich nie recht aufwärmen können. «Wenn du einmal kalte Füsse hast, ist der Tag gelaufen», sagt er und schiebt einen Löffel dampfender Suppe in den Mund.

Ähnlich klingt es bei Zef Shala ein paar Tische weiter. Der Chefmonteur musste im «Buden-Auto» essen, bei laufendem Motor. Und sein Mittagsritual kam zu kurz. Im «Steinbock» liest er nach jedem Essen den Blick – wie viele hier. Wie Ismaili sagt er: «Es war eine Katastrophe, aber hässig sein nützt nichts.»

Wieder geht die Tür auf. Markus Gämperle, die Schuhe voller Farbflecken, setzt sich an seinen Stammplatz. Er war der erste Büezer, den die Familie Ismaili vor ein paar Wochen bewirtete. Der Maler gehörte schon vor Corona zum Inventar. Er grinst, sagt: «Jetzt haben die, die ein Übergwändli anhaben, für einmal Schwein.» Mit «Büetzer» traf der Mundartrocker Gölä offenbar einen Nerv, mit Zeilen wie:

«Si lugä mi a i dr Beiz
Wöu i dräckigi Hudle ha
U kene seit ‹sälü wie geit s›
U kene fragt, was i äch hüt gmacht ha.»

Anders im «Steinbock». Wenn Maler Gämperle kommt, liegt der Blick schon an seinem Platz. Wenn der Wirt Zeit habe, setze er sich dazu und frage, wie es gehe, sagt Stammgast Gämperle. Familiär sei es. Das hat viel mit dem Ehepaar Ismaili zu tun. Qashif Ismaili sagt es so: «Meine Frau und ich sind wie Künstler. Wir lieben es, Gastgeber zu sein. Wir brauchen die Bühne, das Publikum.»

Zürich, Biergarten Bauschänzli

Martin Mannes grinst, wenn er vom vergangenen Montag erzählt. «Es ist brutal gewesen», sagt er. «Brutal erfreulich.» Weil in Zürich Sechseläuten war und auch noch wunderbares Frühlingswetter, habe es einen Ansturm gegeben. Es sei voll gewesen. Fast 650 Plätze besetzt. Voll bestuhlt, ohne Abstände und Vierer-Regel bietet das «Bauschänzli», wie die kleine künstliche Insel auf der Limmat heisst, 800 Plätze.

Am Montag gingen die Terrassen in der Schweiz wieder auf. Lang ersehnt, viel diskutiert. So auch der Biergarten Bauschänzli mit seinem Grill, der von der Candrian-Gruppe geführt wird und dessen Betriebsleiter der 40-jährige Mannes ist: «Die Leute sind einfach mega happy, dass sie kommen können.»

Nach 12 Uhr schlendern immer mehr Gäste auf die Insel, sie stellen sich vor dem Holzkiosk an und ordern die Klassiker. Würste, Flammkuchen, Fischchnusperli. Gestartet ist man mit einem «gestrafften Sortiment». Das Essen soll nicht kaputtgehen, wenn es drei Tage regnet. Eine Tatsache, mit der Mannes jedes Jahr konfrontiert ist – unabhängig vom Virus.

Die Gartentische füllen sich nach und nach. Die Plätze nah am Wasser sind als erste besetzt. An den meisten Tischen wird Schweizerdeutsch gesprochen. Vor Corona war die Insel auch beliebt bei Touristen, jetzt sitzen hier vor allem Einheimische. Geschäftsleute oder Kollegen. So wie Barbara Wanner. Vor dem Halb-Lockdown war sie oft hier, nach der Musikprobe auf ein Glas Wein oder spontan mit der Familie. «Das habe ich vermisst.» Die Sonne streichelt sanft ihre blonden Haare, sie lächelt. «Hier auf der Terrasse zu essen, fühlt sich an wie ein bisschen Ferien.» Das feiert sie. Sie zeigt auf die Bratwurst mit Pommes frites auf ihrem Teller. «Heute sündige ich, ist ja ein besonderer Tag.»

An einem Tisch sitzen Andreas Hammer und Michael Wiget, beide in der Kommunikationsabteilung der Beratungsfirma Deloitte tätig. Hammer ist Wigets Chef. Seit Januar arbeiten sie im Homeoffice und haben sich nicht mehr persönlich getroffen. Jetzt essen sie Flammkuchen und Fischchnusperli, sprechen übers Geschäft, Privates, Politik und die Pandemie. Wenn man als Team gut zusammenarbeiten wolle, brauche es auch mal ein persönliches Treffen, sagt Hammer, der Chef. «So erfahre ich auch, wo der andere steht und wenn es irgendwo nicht so gut läuft.» Wiget schätzt das, er sagt: «Bei einem solchen Mittagessen nimmt man sich mehr Zeit, sich über Informelles auszutauschen, als bei einer Videokonferenz.»

Ein Rentner, Lesebrille auf der Nasenspitze, ein halb volles Glas Bier auf dem Tisch, ein gelöstes Sudoku, sitzt an einem Hochtisch. Er ist zum ersten Mal hier, ist vorbeispaziert, und weil ihm die Terrasse gefallen hat, gönnt er sich jetzt «das happig teure Bierli».

Martin Mannes findet: «Das hier ist die schönste Insel Europas!» Er korrigiert: «Mal sicher Zürichs!» Er ist vor allem froh, dass er seinen Job wieder ausüben kann. Das Einzige, was ihm und seinem Team einen Strich durch die Rechnung machen könnte, ist das Wetter. «Ich schaue jeden Tag zehn Mal auf dem Smartphone den Wetterbericht an», sagt Mannes lachend.

Hölstein BL, Familie Meyer

Die Corona-Pandemie und die Massnahmen haben den Alltag vieler auf den Kopf gestellt. So auch von Familie Meyer aus Hölstein BL. Fabian Meyer (28) ist IT-Engineer bei der Firma Computer Trend IT-Solution und arbeitet normalerweise im Büro in Basel. Dort ist er zurzeit aber nur an zwei Tagen pro Woche, weil durch die Homeoffice-Pflicht jeweils nur eine Person vor Ort sein darf. Fabienne Meyer (28) ist gelernte Pflegefachfrau und macht ein paar Tage im Monat Wochenbettpflege im Geburtshaus in Pratteln BL. An den restlichen Tagen kümmert sie sich um zwei Kinder (elf Monate und drei Jahre) und erledigt alles, was zu Hause anfällt.

Dass der Familienvater seit Monaten meistens zu Hause arbeitet, bringt Vorteile mit sich. Er kann mehr Zeit mit seinen Kindern Larina und Jaron verbringen. Besonders der Dreijährige freut sich darüber. «Jaron ist in den letzten Monaten sehr papianhänglich geworden», sagt Fabienne Meyer, während sie ein Blech mit Kartoffelspalten und Wienerli in den Ofen schiebt. An diesem Mittag muss Jaron aber auf seinen Vater verzichten, weil dieser bei einem dreitägigen Kaderkurs des Zivilschutzes ist. Bevor es Essen gibt, muss Fabienne aber noch ihren Sohn in der Spielgruppe abholen. Normalerweise macht sie das mit dem E-Bike, doch heute nimmt sie das Auto. Während der Rückfahrt schaltet sie für Jaron das Hörspiel «Feuerwehrmann Sam» ein.

Fabienne erzählt, dass sie auch am Mittagstisch froh um die zusätzliche Unterstützung ist. Denn bei der elf Monate alten Larina rollt schnell einmal ein Becher weg, oder es landet gar ein Teller auf dem Boden, wenn man kurz nicht aufmerksam ist. Wenn Fabian Meyer zu Hause ist, hilft er Jaron beim Schneiden und Essen, während sich Fabienne um Larina kümmert. Auch das anschliessende Zähneputzen geht zu zweit einfacher.

Homeoffice wirkt sich auch auf den normalerweise 45-minütigen Arbeitsweg von Fabian Meyer aus. Der fällt nämlich einfach weg. Diese eingesparte Zeit kann der IT-Engineer mit seiner Familie verbringen.

Der veränderte Alltag bringt aber auch Herausforderungen mit sich. Fabienne Meyer kann sich in der Wohnung weniger frei bewegen und bemüht sich, ihren Mann bei der Arbeit nicht zu stören. Mit zwei kleinen Kindern keine leichte Aufgabe: «Wenn ich schnell im Büro etwas holen will, muss ich aufpassen, dass ich nicht ein Kundengespräch unterbreche, und die Kinder hört man auch, wenn die Tür zu ist», sagt sie.

Trotz Kinderlärm kann sich der Vater vorstellen, mindestens einen Tag in der Woche von zu Hause aus zu arbeiten. Das Homeoffice ist nicht die einzige Konsequenz, von der die Familie betroffen ist. «Wir freuen uns am meisten darauf, wenn die Hallenbäder wieder öffnen», so Fabienne Meyer. Als im letzten Sommer die Aussenbäder geöffnet waren, war Larina noch zu klein, um ins Wasser zu gehen. Und auch Sohn Jaron würde sich gern wieder einmal beim Schwimmen austoben. «Ein weiterer toller Schritt wäre die Aufhebung der Maskenpflicht. Doch das wird wohl noch eine Weile dauern», sagt sie, während es klirrt. Larinas Teller und Gabel sind vom Mittagstisch verschwunden.

Winterthur ZH, Kantine der Berufsbildungsschule BBW

Rindsstroganoff mit Hörnli und Ofenfenchel oder lieber vegetarisch? Käsetoast nach Art des Hauses mit rotem Krautsalat? Oder den Wochenhit Chicken Nuggets mit Pommes frites? Fritten-Nachschlag, so erzählen die Schüler später, kann man für nur 1 Franken haben!

Pünktlich um 11.55 Uhr bildet sich eine Schlange bei der Essensausgabe. Die Schüler der Abteilung Berufsmaturität in Winterthur haben Mittagspause. Manche Klassen kamen schon um 11 Uhr in die Kantine, andere werden erst gegen 13 Uhr essen. «Zur Entlastung», erklärt Beat Deola (58), Leiter der Berufsmaturitätsschule. Nicht nur die Mittagspausen, auch die Unterrichtsstruktur wurde angepasst. Bloss 50 Prozent der Schüler sind anwesend, die andere Hälfte macht Homeschooling. Im Wochenwechsel. Wie die Berufsmaturanden das finden, erfahren wir später.

Annina Gerla macht die Berufsmatura, sie sitzt mit zwei Kollegen an einem Tisch. Maximal vier Personen! Die 20-Jährige bringt das Essen oft von daheim mit. «Ich mache Vollzeit die BMS und verdiene nichts», erklärt sie. Ihr Kollege erzählt, dass er zu Hause für seinen Vater und sich kocht. Es sei stressig, jeden Tag frisch zu kochen. Auch er hat Resten dabei. Dafür stehen mehrere Mikrowellen zur Verfügung. BMS-Leiter Deola sagt, es sei wichtig, dass die Schüler ihr Essen mitbringen dürfen. Schülerin Jeneh (24) hat sich gerade Tomatenspaghetti und Broccoli aufgewärmt.

In der Mensa im Anton-Graff-Schulhaus ist es auffallend still und so gar nicht, wie man es von einer Schulkantine erwarten würde. Das liegt wohl an den fehlenden Schülern, die gerade zu Hause essen, am vernünftigen Alter der Berufsmaturanden, die alle schon eine Lehre absolviert haben, und auch daran, dass viele zwischen Tellern und Tabletts in ihre Bücher und Hefte «gügseln».

Sie haben es streng. Viele sprechen über die Aufteilung von Präsenzunterricht und Homeschooling. Annina sagt: «Zu Hause ist es chillig, in der Schule stressig.» In der Schulwoche werden alle Prüfungen hineingedrückt. Ihr Kollege zählt auf: «Diese Woche haben wir Mathe, Physik, Englisch und noch Präsentationen. Das ist anstrengend!» Seine Gschpänli nicken. Sie empfinden es alle gleich.

Einen Tisch weiter sitzt Klaus Römer (22) vor einer schwarzen Plastikschale. Bündner Spätzli vom Coop. «Sie haben mich gar nicht überzeugt», sagt er lachend und schaut auf die noch halb volle Schale. Daheim werde frisch gekocht, das sei schon besser. Sein Tischgschpänli Dominik Erb (19) spricht auch vom Zmittag daheim: «Meine Familie isst immer um 12 Uhr. Das schaffe ich mit der Schule nicht immer.»

Zu Hause müssen die meisten Schüler mithelfen, hier in der Kantine übernimmt Jan Salm (30) die Menüzubereitung. Salm ist von der SV Group, die zahlreiche Mitarbeiterrestaurants und Mensen in der Schweiz führt. Im Mai hat er sein neuntes Jahr in dieser Mensa. «Es kommen viel weniger Schüler, wir geben nur etwa einen Drittel der Portionen raus», sagt Salm. Und die externen Gäste der umliegenden Firmen dürfen derzeit nicht hier essen. Das merke man. Aber es sei schön, dass sie überhaupt offen haben können. Ab dem ersten Lockdown bis zum Sommer blieb die Mensa nämlich zu.

Auch Schüler Fabian Meier (21) ist froh: «Daheim sehe ich immer die gleichen Personen. Meine Eltern sind seit letztem Frühling im Homeoffice.» In der Welt draussen hingegen erfahre man etwas.

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