Sara Michalik über ukrainische Flüchtlinge, die bei Schweizern wohnen
«Kinder reagieren eher mit Bauchweh»

Sara Michalik (47) vom Aargauer Verein Psy4Asyl hilft traumatisierten Flüchtlingen, sich selbst zu helfen. Auch für Schweizer, die Ukrainer beherbergen, sind ihre Tipps hilfreich.
Publiziert: 07.05.2022 um 15:34 Uhr
Jonas Dreyfus

Sie arbeitet hauptberuflich als Psychotherapeutin, daneben behandelt Sara Michalik in ihrer Praxis in Aarau ehrenamtlich traumatisierte Flüchtlinge, die im Aargau leben. Die Arbeit gehört zu ihrer Tätigkeit als Geschäftsleiterin des Vereins Psy4Asyl, den sie 2016 gegründet hat. Er setzt sich mit 35 Fachpersonen für die Verbesserung der psychischen Gesundheit von Asylsuchenden im Kanton ein. Zum Angebot des Vereins gehört auch die Schulung von Betreuerinnen, Betreuern und Freiwilligen. Das macht seine Arbeit in Zeiten des Ukraine-Kriegs, wo viele Privatpersonen Flüchtlinge aufnehmen, doppelt relevant.

Frau Michalik, Sie geben mit Ihrem Verein traumatisierten Flüchtlingen Selbsthilfe-Tipps. Was gehört dazu?
Sara Michalik: Sie können bei Angstattacken und Stress zum Beispiel in Gedanken langsam auf fünf zählen und dabei tief durch die Nase einatmen, dann den Atem kurz anhalten und geräuschvoll und langsam durch den Mund ausatmen. Nacheinander kleine Schlucke von einem Glas Wasser zu nehmen, ist auch eine gute Übung.

Warum nützt das?
Es hilft den Betroffenen, die körperlich oft angespannt sind und zu rasch atmen, sich zu entspannen.

Psychotherapeutin Sara Michalik behandelt in ihrer Praxis ehrenamtlich traumatisierte Flüchtlinge, die im Aargau leben.
Foto: Philippe Rossier
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Bereits Kleinigkeiten können Traumatisierte in Panik versetzen. Warum ist das so?
Das Hirn speichert schlimme Erlebnisse anders ab als andere. Der Körper reagiert deshalb zum Beispiel beim Knall eines geplatzten Velopneus nochmals genauso wie im Moment, als neben einem eine Granate explodierte. Herzrasen, flache Atmung, Verspannung oder starke Schmerzen können einsetzen.

Was für Schmerzen?
Kopfschmerzen zum Beispiel. Sie können auch chronisch werden. Viele Flüchtlinge aus Afghanistan, die Schlimmes erlebt haben, haben Kopfschmerzen oder Rückenprobleme. Kinder reagieren eher mit Bauchweh.

Sie behandeln seit vielen Jahren Flüchtlinge aus den unterschiedlichsten Ländern mit Psychotherapie. Haben die Ukrainer, die zu uns kommen, andere Traumata als die Afghanen?
Das kann man so nicht sagen, denn ein Trauma ist sehr individuell. Nicht jeder verarbeitet ein schlimmes Erlebnis schlecht. Ich behandelte in den letzten Jahren vor allem unbegleitete minderjährige Asylsuchende, die zum Teil über Jahre auf der Flucht waren oder übers Meer fliehen mussten und Menschen haben ertrinken sehen. Das heisst aber nicht, dass sie generell stärker traumatisiert sind als jemand aus der Ukraine, der einen kürzeren Fluchtweg hinter sich hat.

Die Arbeit mit ukrainischen Flüchtlingen beginnt erst. Was erwarten Sie?
Ukrainer, die mit der ersten Flüchtlingswelle zu uns gekommen sind, waren vielleicht noch keinen Kriegsgräueln ausgesetzt. Sie leiden vor allem unter der Sorge um Angehörige: Ehemänner, Väter oder Söhne, die zurückbleiben mussten. Doch schon ein Luftangriff, den jemand erlebt hat, kann zum Beispiel Schlafstörungen auslösen. Nachts, wenn die Aussenreize abnehmen, kommen das Gefühl der Hilflosigkeit und die Angst wieder auf, nie wieder aus dem Bunker herauszukommen.

Was empfehlen Sie einem Flüchtling, der deswegen nicht schlafen kann?
Entspannende Einschlafrituale lohnen sich. Für manche mag das Beten sein, für andere Yoga, Achtsamkeitsübungen, Meditation, Lesen, Teetrinken oder Schäfchenzählen.

Das klingt banal.
Vielleicht liegt es daran, dass die meisten von uns diese Techniken kennen. Wir wissen aber auch: Je mehr Stress man hat, desto weniger macht man Dinge, die einem guttun. Traumatisierte verlernen das zum Teil komplett. Sie müssen lernen, dass sie dem Opfer-Gefühl nicht ausgeliefert sind.

Vor zwei Wochen war Vesta Brandt noch in Kryvyi Rih am Tanzen. Sie unterrichtet Samba, Cha-Cha-Cha und Rumba. Dann musste sie flüchten.
Foto: Thomas Meier
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Wie lassen sich Traumata langfristig behandeln?
Eine Psychotherapie ist essenziell. Sehr hilfreich sind auch Kunsttherapien oder Körpertherapien. Trommeln hilft zum Beispiel bei der Traumabewältigung, weil beide Hirnhälften stimuliert werden. So können – vereinfacht gesagt – traumatisierende Erlebnisse neu abgespeichert werden.

Der Verein Psy4Asyl berät auch Schweizerinnen und Schweizer, die Flüchtlinge aus der Ukraine beherbergen. Was ist dort die Herausforderung?
Es wird sehr unterschätzt, was es zum Beispiel heisst, mit jemandem zusammenzuleben, der den ganzen Tag weinend mit zurückgelassenen Verwandten telefoniert. Die negativen Gedanken und Gefühle – und damit auch das Trauma – können sich auf die Gastgeber übertragen. Deshalb gebe ich auch ihnen den Rat, Dinge zu machen, die ihnen guttun.

Wie bedenklich ist es, wenn die Gastgeber kleine Kinder haben?
Kinder haben mit den Eltern wichtige Bindungspersonen an ihrer Seite. Sie sind auch meist resilienter als Erwachsene, weil sie automatisch Dinge machen, die ihnen guttun. Einem Kind muss man selten sagen: Gönn dir mal wieder eine Auszeit.

Es gibt Gastgeber, die Flüchtlinge wieder loswerden. Können Sie das nachvollziehen?
Leider ja. Man beobachtet das vor allem bei Menschen, die mit grossem Idealismus an die Sache herangehen. Sie verausgaben sich bis zur Erschöpfung und merken dann, dass sie nicht so viel bewirken können, wie sie gerne würden. Diese Frustration überträgt sich auf die Flüchtlinge, die dann plötzlich an allem schuld sind. Und so schnell wie möglich wegmüssen.

Was wäre die Voraussetzung, dass dieses Zusammenleben über längere Zeit funktioniert?
Es braucht sehr viel Toleranz und Wohlwollen von beiden Seiten. Eigentlich würde man ja niemals mit einer Person, die man überhaupt nicht kennt, eine WG gründen. Was ist, wenn ich mit dem Erziehungsstil einer ukrainischen Mutter, die ich mit ihren Kindern beherberge, nicht einverstanden bin? Oder sie jeden Tag Fisch brät und die ganze Wohnung danach riecht?

Kann man das nicht einfach nett ansprechen?
Es ist nicht sicher, wie es ankommt, wenn man die Sprache des anderen nicht beherrscht. Hinzu kommen kulturelle Unterschiede. Ich habe zum Beispiel von einem ukrainischen Flüchtling gehört, der den Platz vor dem Haus, in dem er aufgenommen wurde, aus Dankbarkeit reinigte. Der Gastgeber reagierte gereizt, weil er dachte, der Flüchtling wolle Geld dafür. Klar ist für mich: Wenn die Schweizer bereit sind, in dieses Zusammenleben zu investieren, kann unsere Gesellschaft stark daran wachsen.

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