«Putin opfert Hunderttausende, um an der Macht zu bleiben»
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Russen-Demo in Zürich:«Putin opfert Leben, um an der Macht zu bleiben»

Schweizer Russen gegen Krieg
Jetzt müssen ihre Freunde für Putin kämpfen

Die russische Bevölkerung ist in Panik. Seitdem die Bürger teilweise mobilisiert werden, gehen Tausende auf die Strasse. Auch in der Schweiz wehren sich Russen gegen den Krieg, der ohne ihre Zustimmung geführt wird.
Publiziert: 26.09.2022 um 00:12 Uhr
Jenny Wagner

Die grösste Angst vieler Russen seit Beginn des Krieges in der Ukraine ist wahr geworden: Präsident Wladimir Putin (69) mobilisiert einen Teil der Bevölkerung. Trotz Furcht vor den Konsequenzen überwiegt jetzt die Verzweiflung und treibt russische Bürger auf die Strassen, um zu protestieren. Sie riskieren dabei ihr Leben. Denn verhaftete Demonstranten, die wehrpflichtig sind, werden unter Umständen direkt in den Krieg geschickt.

Das Echo von Putins Teilmobilmachung hallt über die Landesgrenzen hinaus. Der Verein Russland der Zukunft organisierte in der Schweiz mehrere Demonstrationen von Russinnen und Russen gegen den Krieg. «So viele Menschen sind noch nie zu unseren Protesten erschienen», sagt Polina Sommer (39), Organisatorin des Vereins. Sie erlebte, wie die Stimmung ihrer Landsleute kippte, als am vergangenen Mittwoch die Teilmobilmachung ausgerufen wurde. «Die Russen, die hier leben, spüren seither die pure Verzweiflung», erklärt die Organisatorin. «Es betrifft sie jetzt alle.»

Polina Sommer kennt die russische Mentalität und weiss, dass viele es nicht wagen, auf die Strasse zu gehen. «Viele glauben, sie hätten eh keine Chance gegen die Regierung.» Sie erlebe auch, dass einige Russen den Krieg befürworten, weil sie Putin glauben wollen. «Wenn die eigene Welt zerfällt, ist die Propaganda der letzte Strohhalm, an den man sich klammert.»

Am Bürkliplatz in Zürich versammelten sich Russinnen und Russen, die gegen den Krieg in der Ukraine und gegen die Teilmobilmachung demonstrierten.
Foto: Thomas Meier
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Die russische Bevölkerung erwacht

Putin genoss lange Zeit das Vertrauen seiner Landsleute. Jahrelang akzeptierten und befürworteten die Menschen, was der Kreml entschied. Viele tun es noch immer. Doch ein anderer, immer grösser werdender Teil scheint aufzuwachen. Es ist eine neue Wendung, sich gegen das Regime zu wehren.

Seit dem Krieg ist es laut Sommer immer schwieriger geworden, den Verwandten in Russland zu helfen. Russische Staatsbürger erhalten für die EU kein vereinfachtes Visum mehr. Wegen der Sanktionen fliegen auch keine Flugzeuge von Russland in die Schweiz oder andere europäische Länder. Bekommt ein Verwandter den Marschbefehl, bleibt ihm fast nichts anderes übrig, als diesem Folge zu leisten.

Die Russinnen und Russen, die am vergangenen Freitag auf dem Bürkliplatz in Zürich protestierten, riskierten zwar nicht wie die Demonstranten in Russland ihr Leben. Still zusehen, wie ihre geliebte Heimat zerstört wird, können sie aber auch nicht mehr. Und so sind die Proteste auf den Schweizer Strassen vielleicht ihre einzige Möglichkeit, sich gegen die russische Regierung zu positionieren.

Wut, Angst und Gefühl von Machtlosigkeit

Marina Minikus (40) hat schon länger mit einer Mobilmachung gerechnet. Dennoch nahm die Bekanntgabe sie sehr mit. «Plötzlich war es Realität», sagt sie mit Tränen in den Augen. «Es ist furchtbar genug, dass Putin Ukrainer und russische Berufssoldaten in den Tod schickt. Jetzt opfert er weitere hunderttausend Leben für seine Wahnvorstellung.» Sie fühle sich wie schon am 24. Februar, als der Angriff auf die Ukraine begann, machtlos, wütend, endlos traurig. Es breche ihr das Herz, nichts tun zu können.

«Als ich am Mittwoch aufwachte und von der Mobilmachung las, war das ein Schock», erzählt Polina Petuschkowa (36). Ihre Stimme zittert vor Wut. «Putin sitzt alleine auf seinem Thron und macht mit unserem Land, was er möchte.» Petuschkowa liebt ihre wunderschöne Heimat – und hat Angst. «Ich habe Freunde, die in die Armee einberufen werden können. Sie wissen einfach nicht weiter», sagt die Russin.

Auch Polina Sommer betrifft die Situation persönlich. «Putin hat mir die Möglichkeit genommen, meine Heimat zu besuchen, und dafür gesorgt, dass mein Sohn seine Wurzeln nicht kennenlernt», sagt sie. «Es macht mich wütend, dass in unserem Namen Krieg geführt wird. Ich denke, das geht vielen Russen so.» Am Ende der Demonstration ruft ein Mann zuversichtlich ins Megafon: «Wir alle haben eine Zukunft!» Danach verlassen die Russen den Bürkliplatz, während in ihrer Heimat Hunderttausende in den Krieg ziehen.

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