28 Mitbewohner in einer Gross-WG
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Sie teilen Haus und Lohnkonto:28 Mitbewohner in einer Gross-WG

Sie teilen Haus und Lohnkonto
«Wir haben nie über Geld gestritten»

Corona fördert neue Formen der Solidarität. Teilen ist das Gebot der Stunde. Christoph Trummer und 27 andere wagen nahe Bern ein Experiment: Sie teilen das Zuhause und manche sogar das Konto. Andere testen eine Art Grundeinkommen.
Publiziert: 10.01.2021 um 13:15 Uhr
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Aktualisiert: 29.01.2021 um 17:50 Uhr
In der riesigen Hausgemeinschaft leben 28 Leute. Es sind Alleinlebende, Familien und Grosseltern. Christoph Kummer (42), Esther Greter (37) und Tom Böni (53) (v.l.) sprachen im Gemeinschaftswohnzimmer über ihre Erfahrungen.
Foto: Thomas Meier
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Rebecca Wyss

Christoph Trummers (42) neues Zuhause liegt nördlich von Bern, eingebettet in einen alten Dorfkern mit Häusern, die älter sind als der Schweizer Bundesstaat. Hinter verwitterten Brettern eines stattlichen Bauernhauses steigt er eine Holztreppe hoch in sein Wohnzimmer. Ein Baby krabbelt auf dem Boden herum, sein Vater hebt es immer mal wieder hoch, Trummers Nachbar. Er ist durch eine Verbindungstür eingetreten, um Hallo zu sagen. Und dann stakst auch noch Trummers Dreijährige die Treppe hoch, hinter ihr die Mutter.

Solche Szenen gehören zum Alltag in diesem Haus. Im Herbst sind Trummer und seine Familie mit zwei Dutzend anderen eingezogen. Und bilden nun zusammen eine Hausgemeinschaft mit Paaren, Singles, Familien. Generationenübergreifend. Die meisten sind nicht verwandt, einige waren bis vor kurzen nicht einmal miteinander bekannt. So wie Esther Greter (37) und Tom Böni (53). Sie und Christoph Trummer sprachen an einem Abend im Dezember mit uns über ihre Beweggründe. Sie alle verbindet der Wille zu einer neuen Form des Zusammenlebens. Einer neuen alten Form. Früher lebten unter diesem Dach Bauern mit Kindern, Gross- und Schwiegereltern sowie Knechten und Mägden. Eine Grossfamilie.

«Ich kann mir für mich keine andere Wohnform mehr vorstellen», sagt Trummer. Gerade für ihn als Vater sei es wertvoll, wenn eine der Seniorinnen als Hüti einspringen könne. «Wir helfen uns gegenseitig.»

Wegen Covid: Neue Ideen des Zusammenlebens

Solche Ideen für eine Neuorganisation des Zusammenlebens sind jetzt populärer denn je. Der Staat steht uns zwar mit Milliarden bei, für Kurzarbeit, für Überbrückungsleistungen. Trotzdem halten Existenz- und Zukunftsängste viele nachts wach. Das Bedürfnis nach Sicherheit ist gestiegen. Doch das vergangene Jahr hat gezeigt, dass der Staat alleine diese Sicherheit nicht garantieren kann. Deshalb organisieren jetzt einige ihre Zukunft selber – mit revolutionären Formen der Kooperation.

So wie Flurin Hess (30) in Zürich. Der Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme seien auf den tief greifenden strukturellen Wandel nicht vorbereitet, der durch die Digitalisierung auf unsere Gesellschaft zukomme, sagt er. «Dieser Wandel wird durch die Pandemie vermutlich noch beschleunigt werden.»

Zusammen mit Gleichgesinnten testet er seit Sommer einen neuen Ansatz: das Projekt «Ting». Die Mitglieder zahlen in einen Fonds ein, um bei Bedarf über eine bestimmte Zeit Geld zu beziehen. «Die Menschen sichern sich bei uns gegenseitig ab und kaufen sich Zeit, um sich weiterzuentwickeln», sagt Hess. Sei es durch eine Firmengründung, eine Weiterbildung, ein soziales Engagement oder durch eine nötige Auszeit als Burnout-Prophylaxe. Die Idee kommt gut an. Der Förderfonds «Engagement Migros» unterstützt das Projekt. Und 65 Leute zahlen bis jetzt ein. Buchhändler, Anwälte, Software-Entwickler – Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Einer von ihnen bezieht auch schon.

Mathias Stalder (43) sitzt in der Stadt Biel BE an seinem Computer. Der zweifache Vater ist Sekretär bei der Bauerngewerkschaft Uniterre. Jetzt fliessen sechs Monate lang je 2500 Franken auf sein Konto. Damit kann er sein eigenes Projekt vorantreiben: die langfristige Sicherung von Bauernbetrieben. Er und Kollegen wollen eine nachhaltige Landwirtschaft fördern und der jungen Generation den Einstieg in die Landwirtschaft ermöglichen. «Die Idee hat schon lange in mir gearbeitet», sagt er. Bis vor kurzem habe er aber weder die Zeit noch die Mittel dafür gehabt. Viel Arbeit steht an: In den nächsten Monaten will er das Projekt skizzieren, ein Budget entwerfen und die Rechtslage abklären.

Zu «Ting» ist er durch eine Freundin gekommen. Und wegen seiner Überzeugungen. «Es braucht einen Dialog darüber, wie wir unsere Sozialwerke umgestalten können.»

Grundeinkommen interessiert jetzt auch Bürgerliche

Trummer, Stalder und Hess stehen für eine Debatte, die sich jetzt anbahnt. Es geht um Solidarität. Um Umverteilung. Um das bedingungslose Grundeinkommen.

Einige Unterschriftensammlungen dazu sind im Gange. Den Anfang machten im Frühling die Jungen Grünen mit einer Petition, um die Folgen der Corona-Krise abzufedern. Im November 2020 lancierte ein Komitee aus SP, FDP, GLP und Juso-Politikern eine Volksinitiative in der Stadt Zürich. Forscher sollen anhand eines Pilotversuchs mit rund 500 Einwohnern herausfinden, was ein monatliches Grundeinkommen auf Stadtebene mit den Menschen macht. Es sieht gut aus. Die Hälfte der nötigen Unterschriften ist bereits eingegangen. Eingabefrist ist im Mai.

Die erste und letzte Volksabstimmung zum bedingungslosen Grundeinkommen liegt vier Jahre zurück. Ihre Forderung: 2500 Franken pro Monat für jede und jeden ohne Wenn und Aber. Nur 23 Prozent sagten Ja.

Daniel Häni (54), einer der Initianten, rechnet mit einer zweiten Volksinitiative nach der Corona-Krise. Konkret ist noch nichts. Er sei aber mit vielen Leuten im Gespräch. «Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen wären die Menschen in dieser Krisenzeit ihren Existenzängsten weniger ausgeliefert. Sie wären souveräner», sagt der Basler Unternehmer.

Bedingungsloses Grundeinkommen: So siehts im Ausland aus

In Deutschland sollen ab kommendem Frühling 120 Menschen 1200 Euro monatlich erhalten. Dies während drei Jahren. Initiiert hat dies der Verein Mein Grundeinkommen, finanziert wird es über Spenden. Wissenschaftler untersuchen zudem, wie sich der Alltag der Teilnehmer durch das Geld verändert. Spaniens Regierung führte wegen der Corona-Krise ein Grundeinkommen ein. Armutsbetroffene erhalten wischen 450 und 1000 Euro monatlich. Finnland zahlte von 2016 bis 2018 rund 2000 Langzeitarbeitslosen als Test ein Grundeinkommen. Die Forschung zeigte: Die Menschen waren zwar zufriedener, aber nicht unbedingt produktiver.

In Deutschland sollen ab kommendem Frühling 120 Menschen 1200 Euro monatlich erhalten. Dies während drei Jahren. Initiiert hat dies der Verein Mein Grundeinkommen, finanziert wird es über Spenden. Wissenschaftler untersuchen zudem, wie sich der Alltag der Teilnehmer durch das Geld verändert. Spaniens Regierung führte wegen der Corona-Krise ein Grundeinkommen ein. Armutsbetroffene erhalten wischen 450 und 1000 Euro monatlich. Finnland zahlte von 2016 bis 2018 rund 2000 Langzeitarbeitslosen als Test ein Grundeinkommen. Die Forschung zeigte: Die Menschen waren zwar zufriedener, aber nicht unbedingt produktiver.

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Die Volksabstimmung von 2016 hat trotz Niederlage den Boden gelegt. Das, was damals als Utopie verschrien war, ist jetzt in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das zeigt das breit abgestützte Komitee in Zürich. Der Sinneswandel hat mit den Jungen zu tun, so der Ökonom Thomas Straubhaar (63). Der Schweizer Professor an der Universität Hamburg hat ein Buch zum Thema Grundeinkommen veröffentlicht. Er sagt: «Unabhängig davon, ob links oder rechts – die Jüngeren erkennen gerade, dass die Bedingungen von heute oft das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen.» Die Anforderungen an sie ändern heute ständig. Unter anderem wegen der Digitalisierung.

Auch Frauen interessieren sich mehr für das Thema, sagt Straubhaar. Weil der Schweizer Sozialstaat von einem traditionellen Familienmodell ausgeht, bei dem der Mann für das Einkommen und die Frau für die Kinder sorgt. Frauen ziehen bei einer Trennung oft den Kürzeren: Alleinerziehende Mütter führen mitunter die Armutsstatistiken an. Frauen und junge Leute spüren laut Straubhaar nun am meisten, «dass das heutige Sozialsystem von völlig veralteten Lebenswirklichkeiten ausgeht».

Hausgemeinschaft: Weniger Ich, mehr Wir

Auf dem Grossbauernhof nahe Bern tritt die Hausgemeinschaft dem entgegen. In ihrem Kosmos macht die Ich-AG zugunsten des Wir auch mal Pause. Seit Monaten arbeiten die Bewohner gemeinsam am Umbau des Hofs. Überall riecht es nach frischer Farbe und verarbeitetem Holz. Wo früher die Scheune war, ist heute Familie Trummers Wohnung. Eine von vielen im Haus, die durch Türen miteinander verbunden sind. Gemeinschaftlich geteilt werden eine Grossküche, ein Aufenthaltsraum oder ein Garten mit Umschwung.

Esther Greter wohnt in einer Vierer-WG. «Ich brauche viel Zeit für mich», sagt sie. Und das ist kein Widerspruch. Will sie unter Leute kommen, muss sie sich nicht mehr verabreden. Sie setzt sich ins Gemeinschaftswohnzimmer. Ihr Partner wohnt in Bern. «Wenn ich mal kurzfristig Hilfe brauche, weil ich krank bin, kann ich im Haus immer auf jemanden zählen», sagt die Yogalehrerin.

Was es heisst, wenn es an Zusammenhalt fehlt, bekommen jetzt gerade viele Alleinstehende zu spüren. Sie sitzen isoliert in ihren Wohnungen, fühlen sich einsamer als je zuvor. Zwar halten auch die Bewohner der Hausgemeinschaft Abstand. Doch packt man gemeinsam an, wechselt sich ab im Putzen, Waschen, Einkaufen und Kinderhüten. Wer nicht jeden Abend kochen muss, spart viel Zeit. Doch Gemeinschaft verpflichtet: Nur zurücklehnen und nichts tun geht nicht.

Eine Gruppe von neun Bewohnern, teils mit Kindern, geht noch weiter: Sie legen ihr Geld zusammen. Gemeinschaftsökonomie nennt sich das. Alle Löhne kommen auf ein gemeinsames Konto – egal, wer wie viel verdient. Davon werden alle Ausgaben bezahlt: Miete, Generalabonnement, Ferien, Kleider oder Naturkosmetik-Schminkzeug. Und einiges wird auf die Seite gelegt. Ausgaben von über 400 Franken muss man anmelden. «Nicht um einander zu kontrollieren», sagt der Musiker Trummer. «Wir versuchen so, Löcher im Budget zu verhindern.»

Die Gruppe wird weiter wachsen. Tom Böni (53) will mitmachen. Der RAV-Berater ist mit seiner 17-jährigen Tochter kürzlich ins Haus gezogen. Davor lebte er in Bern. Weil seine beiden Töchter älter und teils flügge wurden, machte er sich Gedanken. «Ich kann mir nicht vorstellen, im Alter alleine zu leben.»

Manche seiner Freunde sind skeptisch: Ich könnte das nie, hört er oft. Nie nur in einem Zimmer wohnen. Nie mit so vielen Leuten zusammenleben. «Ich kann das gut», sagt er. «Ich gewinne so viel gemeinschaftlich genutzten Raum und spannende Leute dazu, wie ich es davor nie hatte», sagt Böni.

Die meisten, die aufs gemeinsame Konto einzahlen, verdienen weniger als 5000 Franken im Monat. Böni wird zu den Besserverdienenden gehören. Ärgert es ihn nicht, wenn andere künftig auf seine Kosten leben? Böni winkt ab: «Wir können so im kleinen Rahmen eine Umverteilung und einen Ausgleich schaffen, von dem letztlich alle profitieren.» Er habe schon immer ein unverkrampftes Verhältnis zu Geld gehabt.

Christoph Trummer teilt sein Einkommen schon länger mit anderen, seit der Zeit in seiner vorherigen WG. «Wir haben nie über Geld gestritten.» Wohl auch, weil keiner und keine eine Vorliebe für Gucci und Champagner hat. Wenn jemand jeden Monat nach Barcelona fliegen wolle, sei das nicht enkeltauglich, räumt der Musiker ein. «Es braucht gemeinsame Ideale.»

Ökonom: Argumente für Grundeinkommen

Diese Ideale teilen auch ausserhalb von Trummers Kosmos immer mehr Menschen, mehr noch wegen der Pandemie. «Mit jedem Tag gibt es neue und bessere Argumente für ein Grundeinkommen», sagt der Ökonom Straubhaar. Der Kosmetiksalon, die Kneipe um die Ecke und das Reisebüro, die jetzt alle pleitegingen, seien nicht an bestimmten marktwirtschaftlichen Bedingungen gescheitert, die sie nicht erfüllt hätten. «Sondern an nicht planbaren Ereignissen, die alle treffen können.»

Ein bedingungsloses Grundeinkommen zur Absicherung gegen Not – vielleicht sorgt Corona dafür, dass das einmal mehrheitsfähig ist. Das Leben in der Hausgemeinschaft dämpft jedenfalls die ärgsten Zukunftsängste. «Ich fühle mich hier aufgehoben», sagt die Yogalehrerin Greter. Und Trummer fügt hinzu: «In Krisenzeiten verhebt unser Modell umso mehr, weil die, die temporär kein Einkommen haben, von den anderen getragen werden.»

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