Sie war die Strippenzieherin des Adoptionsskandals
Alice Honegger exportierte Schweizer Babys in alle Welt

Die St. Galler Adoptionsvermittlerin Alice Honegger vermittelte Säuglinge von «gefallenen Müttern» ins Ausland – teils mit Wissen der Behörden.
Publiziert: 13.10.2023 um 09:57 Uhr
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Otto Hostettler
Beobachter

Ein «uneheliches» Kind brachte Frauen in den 1950er- und 1960er-Jahren oft in grosse Not. Sie gerieten in den Fokus der Behörden, sie wurden in Heime, Anstalten und ins Frauengefängnis gesteckt und «administrativ versorgt». Gleichzeitig drängte man sie dazu, ihre Babys zur Adoption freizugeben. Jetzt belegen Recherchen des Beobachters erstmals, was mit den Babys passierte: Eine unbekannte Anzahl wurde an kinderlose Paare im Ausland verschachert. Strippenzieherin war auch da die umstrittene Adoptionsvermittlerin Alice Honegger.

Bekannt und von verschiedenen Forschungsarbeiten bestätigt ist, dass die St. Gallerin 50 Jahre lang den Kinderwunsch von Schweizer Ehepaaren erfüllte – mit ethisch fragwürdigen Methoden. Das weisen verschiedene Forschungsarbeiten nach. Ab den 1970er-Jahren brachte sie Hunderte Babys unter illegalen Umständen aus Sri Lanka in die Schweiz. Die Einträge auf den Adoptionsurkunden waren oft frei erfunden, Frauen in Sri Lanka unterschrieben sie gegen Bezahlung, obschon sie gar nicht die leiblichen Mütter waren (siehe «Fragwürdige Adoptionen werden untersucht», unten).

Sie vermittelte Kinder von «gefallenen» Schweizer Müttern ins Ausland: Alice Honegger
Foto: SRF Rundschau

Jetzt kommt ans Licht: Bevor Honegger Kinder aus dem Ausland in die Schweiz holte, exportierte sie Schweizer Babys in alle Welt. Dokumente zeigen, dass die Adoptionsvermittlerin damals direkt von Frauenspitälern kontaktiert wurde, wenn ein Baby fremdplatziert werden sollte. Sie nutzte ein Netz von Familien, bei denen sie die Neugeborenen unterbringen konnte, bis sie die nötigen Papiere für die Ausreise der Säuglinge besorgt hatte.

Später verschwanden viele von ihnen: Pflegekinder, die von Erika H. (links im Bild) aufgenommen worden waren.
Foto: Joël Hunn

53 Pflegekinder bei einer Familie

Erika und Paul H. waren eine solche Pflegefamilie. Innerhalb von 15 Jahren hatte das Ehepaar aus Schaffhausen 53 Pflegekinder. Das erzählt die Tochter der beiden, Erica B., heute 75 Jahre alt. Das erste Baby kam 1956 zur Familie, noch am früheren Wohnort in Erstfeld UR. Vater Paul H., SBB-Lokomotivführer, führte genau Buch, welches Kind zu welchem Zeitpunkt zur Familie stiess und wann es der Adoptivfamilie übergeben wurde. Von der Liste der Babys ist nur die erste Seite erhalten, sie dokumentiert das Schicksal von 38 Kindern.

Die erste Seite der Liste ist noch erhalten: Kinder, die von Erika und Paul H. aufgenommen wurden.
Foto: Joël Hunn

Mindestens 16 dieser Kinder wurden an Familien im Ausland vermittelt. Drei Babys kamen nach Holland, zwei nach Südafrika (Johannesburg), andere kamen nach Frankreich (Paris), Bahrain, Saudi-Arabien, Spanien (Madrid), Indien (Mumbai), Pakistan (Karatschi) oder Mexiko.

Sieben Franken pro Tag und Kind

Wie die Familien rund um den Globus von Alice Honegger erfahren haben, geht aus den Dokumenten nicht hervor. Zu einigen dieser Adoptionen liegen im Staatsarchiv Zürich noch Akten, die aber aufgrund der gesetzlichen Schutzfrist noch bis mindestens 2035 unter Verschluss bleiben.

Artikel aus dem «Beobachter»

Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch

Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch

Pro Tag und Kind erhielt die Familie in Schaffhausen von Alice Honegger sieben Franken, erzählt die Tochter. Aus Unterlagen des Staatsarchivs Zürich geht hervor: Das nötige Geld trieb Alice Honegger bei der Mutter ein, bei Angehörigen oder der Amtsvormundschaft, bei der Heimatgemeinde oder der Wohngemeinde der leiblichen Mutter.

In den Akten fehlt jede Spur

Erica B. erzählt, wie sie mit ihrer Mutter in verschiedenen Spitälern die Neugeborenen abholte. Die leiblichen Mütter hätten sie nie getroffen. «Meine Mutter erhielt jeweils von Alice Honegger einen Anruf, wir könnten das Kind in diesem oder jenem Spital abholen.» Sie erinnert sich an das Spital Luzern, Dokumente liegen dem Beobachter zu zwei Fällen aus dem Frauenspital Basel vor. In einem anderen Fall ist klar, dass auch die Frauenklinik des Unispitals Zürich involviert war.

Ihre Eltern nahmen 53 Pflegekinder auf: Erica B.
Foto: Joël Hunn

In den beiden Basler Fällen kontaktierte die Sozialarbeiterin des Spitals – damals Fürsorgerin genannt – die Adoptionsvermittlerin und bot ihr die Neugeborenen an. In einem dieser Fälle, so belegen Akten der damaligen Fremdenpolizei, wurde die Basler Vormundschaftsbehörde nicht informiert, und es wurde auch kein Beistand eingesetzt. Gemäss Auskunft des Einwohneramts wurde dieses Baby auf der Registerkarte der Mutter nicht eingetragen.

In den Schaffhauser Vormundschaftsakten ist kein einziges der 53 Pflegekinder erwähnt. Und auch die Pflegefamilie H. ist nicht aktenkundig.

Die Babys am Flughafen Zürich abgegeben

Ihre Mutter habe in der Kinderbetreuung so etwas wie ihre Lebensaufgabe gefunden, erzählt Erica B. «Mit fast jedem Kind ist meine Mutter am Bahnhof in den Fotoautomaten gesessen und fotografierte sich gemeinsam mit dem Baby.» Diese Fotos habe die Mutter zu Hause in der Küche an den Schrank gehängt. Dort blieben sie, bis sie 2011 starb und ihr Mann ins Altersheim zog. Dann nahm die Tochter die Kinderfotos zu sich.

Während die Babys in Schaffhausen waren, besorgte Alice Honegger Reisepapiere und organisierte mit der Adoptivfamilie die Übergabe. Erica B. erinnert sich, wie sie mehrmals mit ihrer Mutter und den Babys zum Flughafen Zürich-Kloten fuhr. Dort trafen sie die neuen Eltern und übergaben ihnen das Kind. Das seien keine einfachen Momente gewesen, meint Erica B. «Für uns war es sehr traurig, wenn die Kinder nach so kurzer Zeit schon wieder gehen mussten.»

«Systematischer Babyhandel»

«Honeggers Tätigkeit war systematischer Babyhandel, bei dem die Akteure auch daran verdient haben», sagt Thomas Gabriel, der an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zu Adoptionen forscht. Der Leiter des Instituts für Kindheit, Jugend und Familie fragt sich: «Wer hat diese Adoptionen ins Ausland von Seiten der Behörden eigentlich überwacht, wie erhielten diese Babys Identitätspapiere für ihre Ausreise?»

Die neuen Erkenntnisse passen für Historiker Thomas Huonker ins Bild der damaligen Zeit. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Kindswegnahmen und Fremdplatzierungen durch die Behörden. «In den 1960er-Jahren wurden ledige Frauen in grosser Anzahl dazu gedrängt, ihre Kinder zur Adoption freizugeben.»

Aufgrund dieser fürsorgerischen Zwangsmassnahmen habe es in der Schweiz zeitweise ein grosses Angebot an Kindern gegeben, die adoptionswilligen Eltern vermittelt wurden. Aufgrund des gesellschaftlichen Wandels seien Anfang der 1970er-Jahre Mädchenheime und Anstalten für «liederliche» Frauen geschlossen worden. So sei es dann zu einem Überhang an adoptionswilligen Ehepaaren in der Schweiz gekommen. Die Folge: Adoptionen aus dem Ausland, vor allem Sri Lanka, nahmen sprunghaft zu.

«Bedenken und unkorrekte Abrechnungen»

Hinweise, dass Alice Honegger Schweizer Kinder im Ausland platzierte, gab es bereits 2018. In einem Bericht im Auftrag des Kantons St. Gallen zu den fragwürdigen Adoptionen aus Sri Lanka schreibt die Studienautorin Sabine Bitter: Mit ihrer «privaten Mütter- und Kinderfürsorge» habe Honegger Kinder nicht nur «an Ehepaare in der Schweiz, sondern auch an Familien im Ausland» vermittelt. Und: «Ende der 1950er-Jahre sah sie sich deswegen zunehmender Kritik ausgesetzt.» Die Studienautorin bezieht sich dabei auf den Präsidenten der Vermittlungsstelle, der angeblich auf Wunsch von Alice Honegger 1958 das Amt übernahm und einen Ausschuss bildete, «um die Auslandsplatzierungen zu überwachen».

Aktenkundig wurden die Aussagen des Vereinspräsidenten, weil die Kantonspolizei 1966 dem Kanton über die Vermittlertätigkeit von Alice Honegger Bericht erstatten musste und ihn deshalb befragte. Der Präsident sprach im Zusammenhang mit den Auslandsplatzierungen von «Bedenken und unkorrekten Abrechnungen». Es hiess, Honegger habe sich bei Auslandsplatzierungen «unrechtmässig» bereichert, und ihre Arbeitsweise «grenze an Kinderhandel». Alice Honegger bestritt «solche Machenschaften» stets.

Die Vermittlerin betrieb ihr Geschäft weiter

Im März 1964 wurde Alice Honegger vom Verein «suspendiert» und fünf Monate später entlassen. 1965 versicherte der Verein dem zuständigen St. Galler Regierungsrat, Platzierungen ins Ausland würden in Zukunft nur noch äusserst selten und nur in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Sozialdienst stattfinden.

Alice Honegger hingegen eröffnete im August 1964 in Bollingen SG das Mütterheim «Haus Seewarte». Hier nahm sie ledige schwangere Frauen bis nach der Geburt ihrer Kinder auf. Das Vermittlergeschäft ging weiter. Zum Beispiel am 14. Februar 1965, als der zwei Monate alte Martin nach Südafrika gebracht wurde. Oder am 29. Juli 1966. An diesem Tag holte ein holländisches Paar in Schaffhausen ein knapp vier Monate altes Mädchen ab. Es hiess Susanne.

Mitarbeit: Alessia Cerantola, Leslie Knott 

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