Solidarität, Verunsicherung, Social Distancing
Wie das Virus unsere Gesellschaft verändert

Unser aller Alltag wird gerade komplett durchgerüttelt. Wir müssen unsere Gewohnheiten ändern und unnötigen Kontakt vermeiden. Was macht das mit uns? (Im Moment gibt es eine grosse Welle der Solidarität. Aber das könnte sich ändern.)
Publiziert: 14.03.2020 um 23:47 Uhr
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Aktualisiert: 17.12.2020 um 13:59 Uhr
Alexandra Fitz

Gleich beim Aufwachen heute Morgen haben wir es gemerkt: Die Schweiz ist eine andere. Wir fragen uns: Geschieht das gerade wirklich? Dieser Erreger war doch mal weit weg in China. In Italien. Oder zumindest im Tessin. Doch jetzt ist er vor unserer Haustüre: zwischen uns. Wir sind uns solche Ausnahmesituationen nicht gewohnt. Krisen? Das haben die anderen.

Seit Wochen sprechen wir nur über Corona. Die eigene Einstellung gegenüber dieser weltweiten Krise wird täglich neu definiert – so, wie die Massnahmen. Die Schweiz gehört zu den vom Coronavirus stark betroffenen Ländern. Am Freitag informierten die Bundesräte die Öffentlichkeit. Auch den Letzten wurde klar: Es ist ernst.

Händewaschen und «Social Distancing»

Bis vor ein paar Tagen waren es vor allem die Hygienemassnahmen, die uns beschäftigten. Niesen und Husten wurden in Zeiten von Corona zu etwas Bedrohlichem. Leute straften einen in der Öffentlichkeit mit passiv-aggressiven Blicken oder setzten sich gar weg.

Am Freitag traten gleich vier Bundesräte (Guy Parmelin, Karin Keller-Sutter, Simonetta Sommaruga und Alain Berset) vor die Medien und sprachen über die aktuellen Corona-Massnahmen: Die Lage sei ernst.
Foto: Karl-Heinz Hug
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Auf dem Tischchen im Zug steht morgens kein Kafi to go, sondern ein durchsichtiges Fläschchen. Desinfektionsmittel überall: im Büro, im Restaurant, in der Handtasche. Vorher interessierten sich nur Spitalmitarbeiter oder Zwangsneurotiker für diese ätzende Flüssigkeit. Nun schmieren sich alle ein, und völlig verunsichert gibt man alle paar Minuten einen Gutsch auf die Hände. Haben wir jemals so eine innige Beziehung zur Seife gepflegt? «Ein Land reibt sich die Hände», hat kürzlich jemand gesagt.

Oder die Massnahme: «Fassen Sie sich nicht ins Gesicht!» Ein Ding der Unmöglichkeit. Der Psychologe Simon Hardegger wundert sich darüber, was der Bund von uns verlangt: «Wer glaubt, dass ein Mensch es schafft, sich nicht ins Gesicht zu fassen, hat sich getäuscht.»

Alle müssen sich daran halten

Die Seife und das Desinfektionsmittel können wir in unseren Alltag integrieren. Händewaschen fällt leichter als «Social Distancing». Ist ja auch ein seltsames Wort. Zwei Meter Abstand sind viel – wir merken plötzlich, wie nah wir uns im Alltag körperlich sind. Dieser Sicherheitsabstand, er verunsichert uns.

Vor zwei Wochen gaben wir uns noch die Hand, um dann verlegen zu sagen: «Oh das sollten wir ja nicht mehr!» Seit wir die dargebotene Hand verweigern, entschuldigen wir uns dafür. Wir sind ja Schweizer. Höflichkeit hält uns zusammen. Die Umarmung von Geschwistern, Eltern und guten Freunden fehlt uns. Dabei ist gerade das Nichtumarmen in diesen Tagen eine Form der Zuneigung: Ich schütze dich. Aber vor wem eigentlich? Die Antwort ist hart: vor mir. Für uns alle.

Auch Bundesrat Berset spricht am Freitag alle an. Alle müssten sich an die Weisungen halten. Auch die, die nicht betroffen sind. Den Alten zuliebe, den Schwachen zuliebe. «Ohne die Mithilfe der gesamten Gesellschaft funktionieren die Massnahmen nicht», sagt er.

Humor ist ein Ventil

«Wie ist dein Corona Vibe so?», fragen wir. Keiner weiss, wie viel Besorgnis angebracht ist; das gemeinsame Herantasten mit den anderen schafft Orientierung. Psychologe Hardegger sagt: «Wir können es nicht einordnen, das Reden hilft. Es baut Unsicherheit ab und schafft Relation.»

Das tun auch all die Corona-Witze. «Unsicherheit und Angst können mit Humor weggespült werden. Humor ist ein Ventil», sagt Borwin Bandelow, Angstforscher und Professor für Psychologie an der deutschen Universität Göttingen.

Eine weitere Massnahme ist, das öffentliche Leben beinahe stillzulegen. Den ÖV meiden, nicht ins Büro gehen, nicht in die Schule, Grossvater nicht besuchen, nichts anfassen, niemanden umarmen: All das sind radikale Einschnitte: «Die Krise verändert unser Miteinander», sagt Katja Rost, Soziologieprofessorin an der Uni Zürich. Auch Bundesrat Berset ruft am Freitag dazu auf: «Wir müssen den Rhythmus der Gesellschaft verlangsamen» und sagt den historischen Satz: «Wir werden in den nächsten Wochen eine Art neue Gesellschaft.»

Psychologe und Psychotherapeut Andi Zemp macht sich Sorgen um diejenigen, die zu Hause bleiben müssen. «Quarantäne schlägt auf die Psyche», sagt er. In seiner Praxis melden sich derzeit vermehrt verunsicherte Menschen. Einige davon seien psychisch vorbelastet, viele aber auch nicht. Homeofficer klagen bereits über das zwangsverordnete Daheimbleiben. Man vermisst das Miteinander. Man vermisst den Alltag.

Eine Welle der Solidarität

Trotz Unsicherheit und Social Distancing – oder vielleicht gerade deswegen – wird die Welle der Solidarität täglich grösser. Seit Freitag solidarisieren sich Freiwillige mit Menschen, die der Risikogruppe angehören und bieten ihre Hilfe an.

Eine der ersten Gruppen auf Facebook war «Gärn gschee – Basel hilft» vom Onlinemedium «Bajour». In Zürich vernetzt auch das Stadtmagazin «Tsüri.ch» Menschen miteinander auf Facebook. «Die Corona-Pandemie ist genau wie der Klimawandel eine ernst zu nehmende Krise.» Sogar die Klimajugend solidarisiert sich und baut ein Corona-Solidaritätsnetzwerk auf, «um auf lokaler Ebene Unterstützung zu bieten», schreibt sie. In Krisenzeiten müssten wir als Gesellschaft kollektive Verantwortung übernehmen. «Bei der Überwindung der Klimakrise sind wir auf die Unterstützung der älteren Generation angewiesen. Jetzt, in Zeiten der Corona-Pandemie ist es an uns jungen Menschen, Verantwortung zu übernehmen und Unterstützung zu leisten,» reflektiert die Bewegung.

Privatpersonen hängen im Quartier Zettel auf und bieten älteren Menschen an, für sie einzukaufen oder Kinder in der Nachbarschaft zu hüten. Auch Hazel Brugger will auf fremde Kinder aufpassen. «Das klingt zwar creepy, aber ich meine das ernst», schreibt die Comedian auf Twitter.

Krisen machen uns solidarisch. «Wenn es nicht mehr möglich ist, einem gesellschaftlichen Grossereignis wie einem Krieg oder eben einer Pandemie zu entgehen, bringt das die Menschen zusammen. Und zwar mit einer gewissen Klassenindifferenz,» erklärt der deutsche Soziologe Heinz Bude.

Angstforscher Bandelow sieht das genauso. Er betont aber auch, dass Krisensituationen in zwei Phasen ablaufen. Nach der ersten, der solidarischen, käme die zweite. Wenn es schlimm werde, etwa die Nahrung ausgehe, würden Menschen unmoralisch: erst das Fressen, dann die Moral. Eigentlich sind wir davon weit entfernt. Eigentlich. Denn seit Freitag haben Hamsterkäufe massiv zugenommen. Gestern waren die Regale in den Geschäften teilweise leer. Doch die Detailhändler versichern: Die Lager sind gut gefüllt.

Jeder Einzelne hat es in der Hand, dass die zweite Phase nicht eintritt. Darum geben wir uns bis auf weiteres nicht die Hände – helfen uns aber trotzdem. Dass das geht, zeigt die Solidaritätswelle. Einander anlächeln ist übrigens auch ansteckend – aber komplett ungefährlich. Und überwindet erst noch mühelos den Sicherheitsabstand von zwei Metern.

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