In diesem Kindergarten spricht man Deutsch
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Schlüssel zur Integration:In diesem Kindergarten spricht man Deutsch

Sprache als Schlüssel zur Integration
Mit drei muss man in Basel Deutsch können – oder es lernen

Wenn dreijährige Kinder in Basel-Stadt nicht gut Deutsch sprechen, sind sie dazu verpflichtet, eine Spielgruppe oder Kita zu besuchen. Das Modell könnte schweizweit Schule machen.
Publiziert: 18.04.2022 um 10:11 Uhr
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Aktualisiert: 19.04.2022 um 15:06 Uhr
Jonas Dreyfus

«Osterhaas, weisst du was – ich hab dich gesehen im grünen Gras», singen die Kinder, die an diesem Mittwochvormittag im Kindsgi Glaibasel mit zwei Pädagoginnen im Kreis stehen. Die Spielgruppe, geleitet von Ulrike Sturm (63) und Cornelia Knöpfli (62), befindet sich in einer Altbauwohnung in Basel-Matthäus – einem Quartier mit 55,8 Prozent Ausländeranteil.

Kinder in der Spielgruppe Kindsgi Glaibasel beim Zeichnen. Ein Teil von ihnen ist hier, um besser Deutsch zu lernen.
Foto: Thomas Meier

Die Kleinen machen die Gesten nach, die ihnen die Grossen vormachen. Kinderhände formen Hasenohren. Dann kommt die Stelle des Liedes, an der es ums Hüpfen geht. Die Kinder tun es mit viel Karacho. Es sei eine von vielen Möglichkeiten, wie sich Sprache spielerisch vermitteln lässt, wird Ulrike Sturm später sagen. «Wenn die Kinder verinnerlichen, dass wir immer beim Wort ‹hüpfen› in die Höhe springen, lernen sie die Bedeutung des Wortes.»

Der Kanton Basel-Stadt verfolgt seit 2013 ein Deutschfördermodell, das einzigartig ist für die Schweiz. Eltern von zweijährigen Mädchen und Jungen geben mit Hilfe eines Fragebogens über die Deutschkenntnisse ihrer Kinder Auskunft. Kann der Nachwuchs die Sprache zu wenig gut, müssen die Eltern ihn ein Jahr vor Beginn des Kindergartens für zwei halbe Tage pro Woche in eine Spielgruppe oder eine Kita schicken. Pädagogen, die über ein Zertifikat für Sprachförderung verfügen, betreuen die sogenannten Förderkinder dort gemeinsam mit Kindern ohne sprachliche Defizite. 681 Kinder wurden fürs aktuelle Schuljahr zur frühen Deutschförderung verpflichtet. Das entspricht mehr als 40 Prozent aller Basler Kinder im Vorkindergartenalter.

Kinder in der Spielgruppe Kindsgi Glaibasel beim Zeichnen. Ein Teil von ihnen ist hier, um besser Deutsch zu lernen.
Foto: Thomas Meier
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Ulrike Sturm spielt mit einem Kind und erklärt laufend, was sie sieht. Das Kind lernt dabei die Sprache.
Foto: Thomas Meier

Den Fragebogen gibts auch auf Tigrinisch

Von den fünf Kindern, die heute in den Kindsgi Glaibasel gekommen sind, haben drei eine Sprachförderung nötig. Zu ihnen gehört ein Mädchen, das zu Hause italienisch spricht, ein Junge mit albanischen und einer mit türkischen Wurzeln. Der Fragebogen ist in zwölf Sprachen erhältlich, inklusive Tigrinisch, gesprochen in Äthiopien und Eritrea, und mit Zeichnungen illustriert. Sie zeigen zum Beispiel ein Mädchen beim Ballspielen. Die Eltern müssen angeben, ob ihre Tochter oder ihr Sohn das deutsche Wort «werfen» kennt und verwendet.

«Ohne Sprachkompetenz gibt es keine Integration», sagt Alexander Grob (64), Professor für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Basel. Er begleitet das Basler Modell als Forscher. Unter anderem beobachtete er mit einem Team vier Jahre lang den Lernprozess der Kinder. Am meisten habe ihn erstaunt, wie viele der Kinder mit Deutsch als Zweitsprache einen Förderbedarf hatten, nämlich 75 Prozent. «Und 50 Prozent verstanden und sprachen praktisch kein Wort Deutsch.» Wenig überraschend sei für ihn der Befund gewesen: «Je früher und je öfter ein Kind eine ausserfamiliäre Betreuungseinrichtung besuchte, desto besser waren seine späteren Deutschkenntnisse.»

Im Kindsgi Glaibasel ist jetzt Spielen angesagt. Cornelia Knöpfli lässt sich in einer Ecke von einem Jungen imaginären Kaffee und Pralinen in Form von Kastanien servieren. «Ich brauche einen Löffel», sagt sie – und wartet vergeblich darauf. Eines der Förderkinder will zeichnen und sucht seinen Lieblingsstuhl, der auf der Sitzfläche einen Hick hat, den die Pädagoginnen als Diamant bezeichnen. «Wo ist meine?», fragt das Kind. «Du meinst, wo dein Stuhl ist?», sagt Ulrike Sturm. Was spielerisch wirkt, ist in Wirklichkeit Sprachförderung nach Lehrbuch.

Das Znüni ist ein Schlüsselmoment

Das korrekte Wiederholen von sprachlich mangelhaften Sätzen ist zum Beispiel eine sogenannte Modellierungstechnik. Mit ihrer Hilfe lassen sich Fehler korrigieren, ohne dass die Pädagogin die Kommunikation unterbrechen muss. Ganz wichtig auch: Sie benennen alles, was sie tun und beobachten. Das beginnt bereits am Morgen, wenn die Kinder ankommen. «Jetzt ziehen wir deine Pelerine aus.» – «Oh, du hast ja Regentropfen auf deinem Gesicht!»

«Willst du Wasser oder willst du Tee?» Beim Znüni lernen die Kinder, sich auszudrücken.
Foto: Thomas Meier

Ein Schlüsselmoment für die Sprachförderung ist das Znüni. Die Pädagoginnen fragen jedes Kind einzeln: «Willst du Wasser oder willst du Tee?» Einige geben mit dem Finger zu verstehen, was sie wollen. Andere sagen «Bitte Tee» oder «Bitte Wasser». Ein Bub sagt: «Wassertee.» Er möchte beides. Es sei wichtig, sagt Sturm, im richtigen Moment die Gestik herunterzufahren. «Erst wenn ich ein Kind bitte, mir einen Bauklotz zu bringen, ohne dass ich in die Ecke zeige, in der er liegt, kann ich sicher sein, dass es das Wort wirklich gelernt hat.»

Die Gründe für die Entstehung des Basler Modells gehen bis in die 2000er-Jahre zurück. Dem Politik-Urgestein Christoph Eymann (71), damals Regierungsrat für die Liberal-Demokratische Partei Basel-Stadt und Vorsteher des Erziehungsdepartements, gaben die Sprachprobleme von Kindergärtnern und Primarschülern zu denken. «Wer auf dieser Stufe Sprachdefizite hat, kann sie während der ganzen Bildungskarriere nicht mehr aufholen», sagt er. Argumente wie diese führten dazu, dass der Grosse Rat von Basel 2012 fast einstimmig dafür stimmte, das Schulgesetz so abzuändern, dass die Behörden die frühe Deutschförderung finanzieren konnten.

Der Kindsgi Glaibasel befindet sich in einem Altbau in Basel-Matthäus – einem Quartier mit 55,8 Prozent Ausländeranteil.
Foto: Thomas Meier

Die Förderung kostet 2 Millionen pro Jahr

Für verpflichtete Kinder ist der Besuch einer Sprachförder-Spielgruppe kostenlos für zwei halbe Tage pro Woche. Das Erziehungsdepartement bezahlt pro verpflichtetes Kind hingegen 3600 Franken pro Jahr an die jeweilige Spielgruppe – das sind rund 15 Franken pro Stunde. Bei den Kitas, die Sprachförderung anbieten, übernimmt das Erziehungsdepartement nur einen Teil der Kosten. Die Eltern bezahlen für die restliche Zeit einen einkommensabhängigen Tarif.

Alleine die Sprachförderung vor Ort kostet die Steuerzahler des Kantons rund zwei Millionen Franken pro Jahr. Hinzu kommt die Finanzierung eines speziell für Basel-Stadt konzipierten Lehrgangs. Ihn müssen Pädagoginnen und Pädagogen absolvieren, wenn die Spielgruppe oder Kita, in der sie arbeiten, frühe Sprachförderung offiziell anbieten will. Der Unterricht findet an der Berufsfachschule Basel statt, ist berufsbegleitend und dauert zwei Jahre. Inwiefern lohnen sich diese Investitionen?

Die Kinder sollen Sprache auf spielerische Art lernen. In ihrem Alter lernen sie schnell.
Foto: Thomas Meier

«Je früher sozial benachteiligte Gruppen beim Spracherwerb gefördert werden, desto weniger Probleme haben später Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht und desto tiefer fallen die sozialen und ökonomischen Folgekosten für die Gesellschaft aus», sagt Alexander Grob von der Universität Basel. Sprich: Wenn Menschen aufgrund schlechter Sprachkenntnisse zum Beispiel keine Arbeit finden und allenfalls Deutschkurse besuchen müssen, um sich wenigstens einigermassen verständigen zu können, kostet das die Steuerzahler viel mehr.

«Kinder können brutal sein»

Fast so verheerend seien die sozialen Folgekosten von schlechten Sprachkenntnissen, sagt Grob. «Kinder können brutal sein zu Gleichaltrigen, die ihre Sprache nicht beherrschen. Sie schliessen sie aus.» Das führe dazu, dass es Kinder mit Sprachförderbedarf schon von klein auf nicht aus ihren Milieus herausschaffen würden.

Deshalb sehe das Basler Modell Sprachförderung schon im frühen Alter vor, sagt Grob. Bis zum Alter von etwa sechs Jahren lerne ein Kind eine Sprache ohne Aufwand. Für einen Dreijährigen sei es in der richtigen Umgebung prinzipiell sogar möglich, Deutsch in drei Monaten zu lernen – ohne Vorkenntnisse zu besitzen. «Kleine Kinder kriegen Sprache einfach mit.»

Mehr als 40 Prozent aller Basler Kinder im Vorkindergartenalter haben Sprachförderbedarf.
Foto: Thomas Meier

«S Zwölfi-Glöggli lütet scho, jetzt isch Zyt zum Heimego», singen die Kinder zum Abschluss der Spielgruppe. Sie haben heute unter anderem einen Wurm gezeichnet, der aus einem Apfel herauskriecht, haben intensiv eine tote Ameise betrachtet, die offenbar aus einem Osternestchen aus Kresse gekrabbelt war. Sie sind vom Fenstersims auf Matratzen gesprungen und haben einen Monstertruck in Spielzeuggrösse bestaunt, den ein Bub von zu Hause mitgebracht hat. Sie sassen auf Schaukelpferden und haben der Geschichte des Bilderbuches «Karni und Nickel» gelauscht, in dem sich zwei benachbarte Hasen wegen einer Kleinigkeit in die Haare geraten. Wie viel Deutsch sie dabei gelernt haben, lässt sich von aussen schwer feststellen.

Auch Kinder aus der Ukraine profitieren

Willkommen heissen und rasch sowie möglichst niederschwellig integrieren, laute die Devise bei der Aufnahme von Schülerinnen und Schülern, die mit dem Flüchtlingsstrom in den Kanton Basel-Stadt gelangen. Das sagte der Basler Erziehungsdirektor Conradin Cramer (43, LDP) bei einem Medienrundgang durch die Sekundarschule Holbein Anfang April gegenüber Telebasel. Über 200 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine –vom Kindergarten- bis zum Sekundarschulalter – sind in Basel-Stadt bereits gemeldet, 155 bereits in der Volksschule untergebracht.

Auch Spielgruppen mit Sprachförderangebot nehmen Flüchtlingskinder aus der Ukraine auf. Gemäss Angaben des Erziehungsdepartements profitieren im laufenden Spielgruppenjahr bislang zwölf Kinder vom Angebot. Fürs kommende Schuljahr wurden neun angemeldet. Familien mit Schutzstatus S, die aus der Ukraine geflüchtet sind, müssen – Stand heute – keinen Fragebogen ausfüllen. Sie werden schriftlich auf Deutsch und Ukrainisch kontaktiert und können sich entweder direkt in einer Spielgruppe beziehungsweise einer Kita anmelden oder bei einer Vermittlungsstelle Unterstützung suchen.

Willkommen heissen und rasch sowie möglichst niederschwellig integrieren, laute die Devise bei der Aufnahme von Schülerinnen und Schülern, die mit dem Flüchtlingsstrom in den Kanton Basel-Stadt gelangen. Das sagte der Basler Erziehungsdirektor Conradin Cramer (43, LDP) bei einem Medienrundgang durch die Sekundarschule Holbein Anfang April gegenüber Telebasel. Über 200 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine –vom Kindergarten- bis zum Sekundarschulalter – sind in Basel-Stadt bereits gemeldet, 155 bereits in der Volksschule untergebracht.

Auch Spielgruppen mit Sprachförderangebot nehmen Flüchtlingskinder aus der Ukraine auf. Gemäss Angaben des Erziehungsdepartements profitieren im laufenden Spielgruppenjahr bislang zwölf Kinder vom Angebot. Fürs kommende Schuljahr wurden neun angemeldet. Familien mit Schutzstatus S, die aus der Ukraine geflüchtet sind, müssen – Stand heute – keinen Fragebogen ausfüllen. Sie werden schriftlich auf Deutsch und Ukrainisch kontaktiert und können sich entweder direkt in einer Spielgruppe beziehungsweise einer Kita anmelden oder bei einer Vermittlungsstelle Unterstützung suchen.

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Oftmals würden Kinder, die nur wenig Deutsch sprechen, die Sprache trotzdem schon sehr gut verstehen, sagt Sturm, nachdem die Kinder gegangen sind. Das sei eine Typ-Frage. «Manche Kinder plappern einfach drauflos, andere haben Angst davor, Fehler zu machen.»

Sie erinnert sich an ein Mädchen mit Eltern aus Myanmar, das während der Spielgruppenzeit kein einziges Mal etwas gesagt hat. «Ich habe mir Sorgen gemacht, wenn ich daran dachte, dass sie demnächst in den Kindergarten kommt.» Dann stand Sturm am letzten Tag mit Eltern auf der Strasse und hörte das Mädchen aus Myanmar zu einem Kind, das in einen Busch geklettert war, sagen: «Was machst du denn da in den Bäumen?»

Dass es Sinn macht, in die frühe Kindheit zu investieren, ist mittlerweile weit über Fachkreise hinaus und in der Politik breit akzeptiert. Ein vom Basler Modell inspiriertes Pendant soll deshalb bald auch im Kanton Basel-Landschaft umgesetzt werden. In Luzern betreiben bereits 19 Gemeinden frühe Sprachförderung und lassen sich von Mitarbeitern der Universität Basel bei der Spracherhebung unterstützen. Städte wie Schaffhausen, Zürich, Bern und St. Gallen, aber auch Bündner Gemeinden wie Domat/Ems, Thusis oder Davos haben das Basler Modell adaptiert. In den Kantonen Solothurn, Aargau und Thurgau sind ähnliche Projekte in Planung. Das Modell könnte schweizweit Schule machen: Der Bundesrat wird in den kommenden Monaten auf einen entsprechenden parlamentarischen Vorstoss antworten, wie das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung auf Anfrage mitteilt.

Nur Basel-Stadt und Chur haben Obligatorium

In allen Städten, Gemeinden und Kantonen, die bereits frühe Sprachförderung durchführen, ist sie bis jetzt freiwillig. Ein Obligatorium gibt es neben Basel-Stadt nur noch in Chur. Es sei noch nie vorgekommen, dass Eltern sich geweigert hätten, ihr Kind in eine Sprachförder-Spielgruppe oder -Kita zu bringen, sagt Fabienne Schaub vom Basler Erziehungsdepartement. «Seit Einführung des selektiven Obligatoriums musste noch nie eine Busse ausgesprochen werden.»

Für die Eltern sei es nicht nur eine Pflicht, sondern auch ein Recht, sagt Schaub. «Sie wissen, dass das eine ganz tolle Sache ist für ihre Kinder.» Vielleicht liegt die Akzeptanz, die das Obligatorium geniesst, auch daran, dass die Nutzniesser nichts davon mitkriegen. Sie wollen einfach nur spielen.

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