«Eigentlich fehlen mir die Worte»
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Antisemitismus in der Schweiz:So erlebte Thomas Meyer Hass in seiner Kindheit

Thomas Meyer über den alltäglichen Antisemitismus in der Schweiz
«Eigentlich fehlen mir die Worte»

Antisemitismus ist auch in der Schweiz weitverbreitet. Schriftsteller und SonntagsBlick-Kolumnist Thomas Meyer hat schon als Kind darunter gelitten und seine Erfahrungen nun in einem Buch verarbeitet. Wir publizieren einen exklusiven Erstabdruck.
Publiziert: 20.03.2021 um 19:05 Uhr
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Aktualisiert: 30.04.2021 um 15:54 Uhr

Ich bin an verschiedenen Orten aufgewachsen: Erst am nördlichen Ende der Stadt Zürich, dann in Mellingen, einem putzigen Städtchen im Kanton Aargau, und schliesslich in Wädenswil, einer Gemeinde am Zürichsee, die schon damals weit über ihren historischen Kern hinaus auf die umliegenden Hügel geklettert war und diese heute fast vollständig bedeckt. Meine Mutter ruft mir regelmässig in Erinnerung, wie unser Umzug dorthin meine Sprache auf einen Schlag verdorben habe; schon nach dem ersten Tag an der neuen Schule sei ich mit einem ganzen Bündel von Obszönitäten nach Hause gekommen. Sie sagt das mit solcher Empörung, als wäre es nicht die Entscheidung meiner Eltern gewesen, den Wohnort zu wechseln, sondern meine, einzig zum Zweck der verbalen Verrohung. Eigentlich sagt meine Mame alles so, als hätte ihre Mischpuche* es nur darauf abgesehen, ihr das Leben schwer zu machen. Das ist immer sehr lustig, und wenn wir lachen, fühlt sie sich in ihrem Verdacht bestätigt und guckt noch geknickter.

«Wie bei den Juden»

In der Sache traf ihre Beobachtung allerdings zu. Im Zürcher Umland war der Ton in der Tat rauer als im beschaulichen Kanton Aargau, zumindest nach meinem Empfinden: Meine neuen Mitschüler führten sich auf wie kleine Filmschurken, denen ein bleicher, dünner Junge mit Brille wie gerufen kam, und meine neue Lehrerin war eine dürre, bösartige, schon ältere Frau, die militärischen Gehorsam forderte, einen beim geringsten Fehler an den Haaren riss und leidenschaftlich gern aus dem Hinterhalt Kopfnüsse verteilte.

Alltäglicher Antisemitismus – das Buch von Thomas Meyer

In einem radikal subjektiven Essay beschreibt der Autor und SonntagsBlick-Magazin-Kolumnist seine Erfahrung mit dem alltäglichen Antisemitismus. Das Buch ist ab dem 22. März im Verkauf.

Thomas Meyer, «Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein? Über den Antisemitismus im Alltag», Salis Verlag

Joan Minder

In einem radikal subjektiven Essay beschreibt der Autor und SonntagsBlick-Magazin-Kolumnist seine Erfahrung mit dem alltäglichen Antisemitismus. Das Buch ist ab dem 22. März im Verkauf.

Thomas Meyer, «Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein? Über den Antisemitismus im Alltag», Salis Verlag

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Glücklicherweise wechselte ich bald von der dritten in die vierte Klasse und damit zu einem anderen Lehrer; einem rundlichen, freundlichen und gerechten Mann mit dicker Hornbrille. Eines Tages erzählte er, wie seine Frau in einer Metzgerei eingekauft und über die hohe Rechnung gestaunt habe, mit den Worten, das seien ja Preise «wie bei den Juden». «Das sagt man so», ergänzte mein Lehrer obenhin. Der Metzger habe seiner Frau darauf kühl geantwortet, sie stehe tatsächlich gerade in einer jüdischen Metzgerei. Ich weiss nicht mehr, warum mein Lehrer die Anekdote vortrug, ob es zuvor um die Juden oder um seine Frau gegangen war, aber indem er es als etwas Normales und Harmloses darstellte, hohe Preise als jüdische Preise zu bezeichnen, erteilte er seinen Schülerinnen und Schülern die unausgesprochene Erlaubnis, es selbst auch so zu sehen und zu sagen. Sogar ich fragte mich, ob mein Gefühl, dass man «das» eben gerade nicht so sagen sollte, womöglich unberechtigt sei. Schliesslich hielt ich grosse Stücke auf den Mann.

In seinem neuen Essay setzt sich Erfolgsautor Thomas Meyer mit dem alltäglichen Antisemitismus auseinander.
Foto: Elster & Salis
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Einige Zeit später empfahl mir ein Nachbar, ich solle den Inhaber des Photogeschäftes in unserem Dorf, bei dem ich eine bestimmte Kamera kaufen wollte, doch einfach «runterjuden», dann bekäme ich sie bestimmt günstiger. Er wusste, dass meine Mutter jüdisch ist, und war offenbar überzeugt, dass dadurch auch mir, mit meinen zwölf Jahren, die Fähigkeit gegeben war, vorteilhafte Konditionen auszuhandeln. Vielleicht sagte er es auch einfach nur so, wie die Frau meines Lehrers. Im Gegensatz zu diesem fand ich unseren Nachbarn zwar nie sympathisch, aber auch er irritierte mich mit seiner Wortwahl: Wie kommt man dazu, so zu reden? So grob und verächtlich? Ich kapierte es nicht.

Was ist lustig an vergasten Juden?

Die Witze meiner Mitschüler verstörten mich noch viel mehr. Sie handelten von vergasten und verbrannten Juden. Was sollte daran lustig sein? Aber meine Kameraden lachten sich kaputt, während ich still danebenstand und Bauchschmerzen hatte. Jedes Mal, wenn jemand etwas gegen die Juden sagte, verspürte ich diesen glühend heissen Stich. Es reichte sogar, wenn jemand etwas über die Juden sagte. Meist machte es sowieso keinen Unterschied.

Irgendwann hatte ich begriffen, dass meine nichtjüdische Umgebung ein ziemlich genaues und obendrein ziemlich schlechtes Bild von den Juden hatte und dass jederzeit mit Hinweisen zu deren Verschlagenheit zu rechnen war. Während meiner ganzen Kindheit und frühen Jugend sagte ich jedoch nie etwas dazu. Ich wusste nicht, was. Eigentlich fehlen mir bis heute die Worte.

* jiddisches Wort für Familie

Prüfen Sie Ihre Vorurteile – der Fragebogen von Thomas Meyer

1. Sind Sie Antisemit?
Falls ja: Warum?
Falls nein: Warum nicht?

2. Wer und was kommt Ihnen spontan in den Sinn, wenn Sie an «die Juden» denken?

3. Glauben Sie, dass Juden bestimmte Eigenschaften haben?
Falls ja: Welche?

4. Wie erklären Sie es sich, wenn eine jüdische Person über keine dieser Eigenschaften verfügt?
a) Sie ist eine Ausnahme.
b) Sie versteckt es gut.
c) Ich habe nicht richtig hingeschaut.
d) Sie ist vielleicht gar nicht jüdisch.
e) Ich hinterfrage meine Denkweise.

5. Was ändert sich für Sie, wenn Sie von einem Menschen erfahren, dass er jüdisch ist? Und was erwarten Sie nun von ihm?

6. War die Tatsache, dass ein bestimmter Mensch jüdisch ist, für Sie schon mal eine Erklärung oder ein Beweis?
Falls ja: Wofür?

7. Wie viele Juden kennen Sie persönlich? Gibt es Erfahrungen, die Sie mit ihnen wiederholt gemacht haben?

8. Wie viele Vertreter einer bestimmten Bevölkerungsgruppe muss man Ihrer Meinung nach persönlich kennen, um ein allgemeingültiges Urteil über sie fällen zu können?
a) einen
b) zehn
c) hundert
d) alle

9. Glauben Sie, Sie seien ein besserer Mensch, wenn Sie sich positiv über Juden äussern?

10. Wie bezeichnen Sie jemanden, der in der Schweiz aufgewachsen ist und eine jüdische Mutter hat?
a) Ju... äh ... Mitbürger jüdischer ... äh ... Herkunft
b) Schweizer Halbjude
c) Jude in der Schweiz
d) Schweizer
e) Ich nenne diesen Menschen einfach bei seinem Namen.

1. Sind Sie Antisemit?
Falls ja: Warum?
Falls nein: Warum nicht?

2. Wer und was kommt Ihnen spontan in den Sinn, wenn Sie an «die Juden» denken?

3. Glauben Sie, dass Juden bestimmte Eigenschaften haben?
Falls ja: Welche?

4. Wie erklären Sie es sich, wenn eine jüdische Person über keine dieser Eigenschaften verfügt?
a) Sie ist eine Ausnahme.
b) Sie versteckt es gut.
c) Ich habe nicht richtig hingeschaut.
d) Sie ist vielleicht gar nicht jüdisch.
e) Ich hinterfrage meine Denkweise.

5. Was ändert sich für Sie, wenn Sie von einem Menschen erfahren, dass er jüdisch ist? Und was erwarten Sie nun von ihm?

6. War die Tatsache, dass ein bestimmter Mensch jüdisch ist, für Sie schon mal eine Erklärung oder ein Beweis?
Falls ja: Wofür?

7. Wie viele Juden kennen Sie persönlich? Gibt es Erfahrungen, die Sie mit ihnen wiederholt gemacht haben?

8. Wie viele Vertreter einer bestimmten Bevölkerungsgruppe muss man Ihrer Meinung nach persönlich kennen, um ein allgemeingültiges Urteil über sie fällen zu können?
a) einen
b) zehn
c) hundert
d) alle

9. Glauben Sie, Sie seien ein besserer Mensch, wenn Sie sich positiv über Juden äussern?

10. Wie bezeichnen Sie jemanden, der in der Schweiz aufgewachsen ist und eine jüdische Mutter hat?
a) Ju... äh ... Mitbürger jüdischer ... äh ... Herkunft
b) Schweizer Halbjude
c) Jude in der Schweiz
d) Schweizer
e) Ich nenne diesen Menschen einfach bei seinem Namen.

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