«Unsere Familie braucht jetzt Sicherheit und Frieden»
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Zoya flüchtete bereits zweimal:«Unsere Familie braucht jetzt Sicherheit und Frieden»

Ukraine-Flüchtlinge
Kateryna kehrte zurück – Svetlana will bleiben

Rund 4600 Ukrainerinnen haben die Schweiz verlassen. Kateryna Potapenko fühlt sich in Kiew sicherer als hier.
Publiziert: 23.10.2022 um 01:32 Uhr
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Aktualisiert: 23.10.2022 um 13:00 Uhr
Camilla Alabor

Wenn dieser Tage, wie so oft, der Raketenalarm heult, eilt Kateryna Potapenko (28) in den Flur und bringt sich dort in Sicherheit. Ihre Mutter Svitlana hingegen bleibt im Wohnzimmer sitzen. Sie zieht lediglich die Vorhänge zu. Und dreht den Ton des Fernsehers etwas lauter. «Wir haben alle unseren eigenen Weg gefunden, mit der Gefahr umzugehen», kommentiert die Tochter trocken.

Kateryna Potapenko ist Journalistin. Sie lebt mit ihrer Familie in einem Hochhaus in Kiew. Nicht weit von da, wo die russischen Truppen am 24. Februar ihren Angriff lancierten. «Während der ersten Tage hörten wir permanent den Beschuss und die Bombenangriffe der Russen», erinnert sich die junge Frau. Butscha, Irpin, Hostomel: Die Orte des Grauens liegen keine zehn Kilometer von ihrem Wohnquartier entfernt.

Flucht Anfang März

Anfang März flüchtet Kateryna mit ihrer Mutter und dem kleinen Bruder in die Schweiz, nach Winterthur ZH. Wenig später findet sie eine Stelle als Gastkolumnistin beim «Beobachter», in ihrer Freizeit organisiert sie Treffen für Ukrainerinnen in der Bibliothek. Sie bringt die Leute zusammen wie schon immer: In Kiew leitet sie einen Bücherklub.

Kateryna Potapenko flüchtete mit ihrer Familie in die Schweiz. Im Juli ist sie nach Kiew zurückgekehrt. Sie fühlt sich zu Hause wohler.
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Zoya Miari (23), Pflegefachfrau, Zollikon ZH

«Ich hatte bisher kein richtiges Zuhause. Aufgewachsen bin ich in einem Flüchtlingslager im Libanon – meine Mutter ist Ukrainerin, mein Vater Palästinenser. Ich studierte in Beirut, doch weil ich keinen libanesischen Pass habe, darf ich dort trotz Uni-Abschluss nicht arbeiten. Als sich die Lage im Land zusehends verschlechterte, beschloss meine Mutter 2021, mit meinen kleinen Geschwistern in die Ukraine zu ziehen. Ich folgte wenig später, dann brach der Krieg aus. Ich würde mit meiner Familie gerne in der Schweiz bleiben. Wir haben hier – und überhaupt auf unserer Flucht – so viele nette Menschen getroffen, die uns geholfen haben. Meine Mutter tut sich etwas schwer mit der Idee, in der Schweiz zu bleiben, weil unser Grossvater immer noch in der Ukraine ist. Aber sie sieht auch, dass wir Kinder eine Chance haben, hier ein Zuhause zu errichten. Hier können wir in Sicherheit leben und etwas aufbauen.»

SIGGI BUCHER

«Ich hatte bisher kein richtiges Zuhause. Aufgewachsen bin ich in einem Flüchtlingslager im Libanon – meine Mutter ist Ukrainerin, mein Vater Palästinenser. Ich studierte in Beirut, doch weil ich keinen libanesischen Pass habe, darf ich dort trotz Uni-Abschluss nicht arbeiten. Als sich die Lage im Land zusehends verschlechterte, beschloss meine Mutter 2021, mit meinen kleinen Geschwistern in die Ukraine zu ziehen. Ich folgte wenig später, dann brach der Krieg aus. Ich würde mit meiner Familie gerne in der Schweiz bleiben. Wir haben hier – und überhaupt auf unserer Flucht – so viele nette Menschen getroffen, die uns geholfen haben. Meine Mutter tut sich etwas schwer mit der Idee, in der Schweiz zu bleiben, weil unser Grossvater immer noch in der Ukraine ist. Aber sie sieht auch, dass wir Kinder eine Chance haben, hier ein Zuhause zu errichten. Hier können wir in Sicherheit leben und etwas aufbauen.»

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An die vier Monate in Winterthur erinnert sich Kateryna Potapenko gerne. «Die Schweiz ist ein Land wie eine Postkarte», sagt sie, «ich liebe die Natur dort.» Auch die Pünktlichkeit von Bus und Bahn beeindruckte sie.

Und doch: «Ich wusste immer, dass ich nach Kiew zurückkehre. Ich habe hier ein gutes Leben.» Im Juli packen sie, ihre Mutter und der Bruder ihre Koffer und reisen via Deutschland und Polen zurück nach Hause, wo ihr Vater auf sie wartet.

Minderheit kehrt bisher zurück

Kateryna Potapenko gehört zu einer kleinen Minderheit von Rückkehrern. Seit Februar haben rund 66'000 Flüchtlinge den Schutzstatus erhalten, wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) mitteilt. 1800 von ihnen nahmen seither die Rückkehrhilfe in Anspruch und kehrten in die Ukraine zurück – das sind weniger als drei Prozent aller Geflüchteten.

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Die Fälle, in denen das SEM den S-Status aufgehoben hat, sind allerdings mehr als doppelt so häufig. Für 4600 Personen wurde der Schutzstatus beendet. Darunter dürften auch Ukrainer sein, die ohne Rückkehrhilfe nach Hause gefahren sind; andere reisten wohl in andere Länder weiter.

Potapenko ist in Kiew weniger gestresst

Potapenko fühlt sich in Kiew wohler als in der Schweiz. Mehr noch, sie fühlt sich sogar sicherer: «In der Schweiz hing ich ständig am Handy. Wenn es in unserem Viertel einen Angriff gab, telefonierte ich alle Bekannten ab, die dort wohnen.» Konnte man jemanden nicht erreichen, musste man vom Schlimmsten ausgehen: «Das war zermürbend.»

Zurück in Kiew sei sie weniger gestresst. «Unser Viertel ist riesig. Wenn es einen Angriff gibt, höre ich ungefähr, wo dieser stattgefunden hat.» Falls tatsächlich jemandem etwas passieren sollte, sei sie lieber vor Ort, um zu helfen.

Eine Rückkehr, wie sie Kateryna Potapenko gewagt hat, ist für Svetlana Naumenko (49) kein Thema. In Kiew hatte sie einen angesehenen Job als Assistentin im ukrainischen Parlament; in der Schweiz lebt sie derzeit von Sozialhilfe und besucht einen Sprachkurs. Und doch sagt sie: «Natürlich will ich bleiben.» Eine Haltung, die – den Zahlen nach zu urteilen – von vielen Ukrainerinnen geteilt wird.

Naumenko will sich beruflich weiterentwickeln

In Kiew würde sie sich unsicher fühlen, glaubt Naumenko. «Seit den Massakern von Butscha und Irpin, wo Frauen und Kinder vergewaltigt wurden, überlegt sich jede Ukrainerin die Rückkehr zwei Mal.»

In der Schweiz hingegen sehe sie Chancen, sich beruflich zu entwickeln, sagt die ausgebildete Psychologin. «Der Bedarf an psychologischer Hilfe ist gross, auch bei den Geflüchteten.» Zudem schätzt sie das staatliche soziale Netz.

Elena (34) und Igor Perepelychniy (35), IT-Experten, Zürich

«In der Schweiz sind wir eher zufällig gelandet. Aber wir fühlen uns hier wohl. Die Kinder haben sich gut eingelebt. Unsere Tochter Valerie hat schon mehr Freunde, als sie in Kiew hatte. Zudem gefällt uns das internationale Umfeld in Zürich. So konnte ich bereits Kontakte mit Quantenforschern der ETH knüpfen. Nach Kiew zurück möchten wir nicht. Für unseren zwölfjährigen Sohn Max, der an Autismus leidet, gibt es dort keine gute Betreuung. Falls wir für ihn in der Schweiz eine gute Lösung finden, möchten wir gerne hier bleiben. Sonst suchen wir wohl weiter. Derzeit besuchen wir beide einen Deutsch-Intensivkurs. Daneben arbeiten wir an einer Online-Plattform weiter, die wir in der Ukraine aufgebaut haben. Es geht darum, kleine Unternehmen wie Kosmetikstudios mit Kunden zusammenzubringen. Jetzt, da so viele Ukrainer geflüchtet sind, kann das besonders nützlich sein: Viele Unternehmer müssen sich einen neuen Kundenstamm aufbauen. Die Unsicherheit im Bezug auf den S-Status, der in einigen Monaten auslaufen könnte, ist allerdings ein Problem. In vielen Städten finden immer noch Angriffe statt – die Menschen können nicht dorthin zurück.»

Siggi Bucher

«In der Schweiz sind wir eher zufällig gelandet. Aber wir fühlen uns hier wohl. Die Kinder haben sich gut eingelebt. Unsere Tochter Valerie hat schon mehr Freunde, als sie in Kiew hatte. Zudem gefällt uns das internationale Umfeld in Zürich. So konnte ich bereits Kontakte mit Quantenforschern der ETH knüpfen. Nach Kiew zurück möchten wir nicht. Für unseren zwölfjährigen Sohn Max, der an Autismus leidet, gibt es dort keine gute Betreuung. Falls wir für ihn in der Schweiz eine gute Lösung finden, möchten wir gerne hier bleiben. Sonst suchen wir wohl weiter. Derzeit besuchen wir beide einen Deutsch-Intensivkurs. Daneben arbeiten wir an einer Online-Plattform weiter, die wir in der Ukraine aufgebaut haben. Es geht darum, kleine Unternehmen wie Kosmetikstudios mit Kunden zusammenzubringen. Jetzt, da so viele Ukrainer geflüchtet sind, kann das besonders nützlich sein: Viele Unternehmer müssen sich einen neuen Kundenstamm aufbauen. Die Unsicherheit im Bezug auf den S-Status, der in einigen Monaten auslaufen könnte, ist allerdings ein Problem. In vielen Städten finden immer noch Angriffe statt – die Menschen können nicht dorthin zurück.»

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Eine Arbeit zu finden, ist ihr bisher nicht gelungen. Noch spricht Svetlana Naumenko kaum Deutsch. Zugleich zögern viele Arbeitgeber, Personen mit S-Status anzustellen. Schliesslich hiess es im Frühling noch, der Schutzstatus sei auf ein Jahr begrenzt.

Kehrtwende beim Bund?

Inzwischen tönt es beim Bund etwas anders. Der Schutz gelte so lange, bis ihn der Bundesrat aufhebe, heisst es beim SEM nun. Der Status S brauche also nicht explizit verlängert zu werden. Die Eidgenossenschaft werde sich in dieser Frage überdies mit den Schengen-Staaten koordinieren. Und da sich die EU-Kommission dafür ausgesprochen hat, den Status bis März 2024 zu verlängern, wird die Schweiz wohl nachziehen.

Währenddessen lässt Justizministerin Karin Keller-Sutter (58) einen Bericht darüber ausarbeiten, wie die Rückkehr der Geflüchteten nach Aufhebung des S-Status ausgestaltet werden kann. Valentin Vogt (62), Präsident des Arbeitgeberverbandes, würde es begrüssen, dass die Rückkehr gestaffelt erfolgt. «Wenn jemand eine Stelle hat, könnte diese Person beispielsweise länger hier bleiben als eine Person, die keiner Arbeit nachgeht», sagt er.

S-Status ist rückkehrorientiert

Es sei aber auch wichtig, den Geflüchteten allfällige Illusionen zu nehmen: «Der S-Status ist rückkehrorientiert. Es ist nicht die Idee, dass die Geflüchteten nach Kriegsende dauerhaft in der Schweiz bleiben.»

Für Svetlana Naumenko scheint eine Rückkehr dennoch weit weg. Ihr Ziel ist es, so rasch wie möglich einen Job zu finden. «Ich würde auch in einem Hotel oder Restaurant arbeiten», sagt die ausgebildete Psychologin.

Kateryna Potapenko hat sich derweil rasch an ihr neues Leben in Kiew gewöhnt. Der grösste Unterschied zu früher sei, dass man die Dinge nicht mehr im Voraus planen könne, sagt sie. Das hält sie nicht davon ab, auf Reisen zu gehen. «Letzte Woche bin ich mit einer Freundin nach Czernowitz an der moldawischen Grenze gefahren.» Allzu viel Vorlaufzeit brauchten sie nicht: «Wir hatten die Idee – wenige Stunden später waren wir unterwegs.»

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