Umstrittene Bussen für zu spät gelöste E-Tickets
Wie der Bund im Ticket-Streit mit der ÖV-Branche einknickte

Wer sein Zugticket in der App eine Sekunde zu spät löst, gilt in der Schweiz als Schwarzfahrer. Der Bund rügte das als widerrechtlich – doch geändert hat sich an der Praxis nichts. Interne Dokumente zeigen nun die Kehrtwende der Behörden.
Publiziert: 30.06.2024 um 19:21 Uhr
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Aktualisiert: 30.06.2024 um 19:26 Uhr
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Lino SchaerenRedaktor

Die Botschaft des Bundesamtes für Verkehr (BAV) war deutlich: Transportunternehmen stempeln Fahrgäste zu Unrecht als Schwarzfahrer ab, wenn sie ihr Ticket nur wenig zu spät lösen. Der Intervention vorausgegangen waren zahlreiche aufsichtsrechtliche Beschwerden von Passagieren. Doch nach vorgebrachter Rüge folgte beim BAV eine bemerkenswerte Kehrtwende.

Zwar erarbeiteten das BAV und die Branchenorganisation Alliance Swiss Pass in einer Arbeitsgruppe eine gemeinsame Lösung, die im Mai präsentiert wurde. Nur: Die geltenden Regeln blieben unangetastet.

Stattdessen trägt das BAV plötzlich die zuvor scharf kritisierte Praxis offiziell mit, wonach E-Billette nur gültig sind, wenn sie vor der Abfahrt gelöst wurden. Wie kann das sein? Interne Dokumente, die SonntagsBlick gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz einsehen konnte, geben nun Einblick in den Ticket-Streit und zeigen, wie das Bundesamt für Verkehr vor der ÖV-Lobby eingeknickt ist.

Jugendliche nutzen System aus

Nach dem öffentlichen Frontalangriff auf die Transportunternehmen kommt es am 17. Januar zu einer Aussprache beim BAV. In einer internen Gesprächsnotiz ist von einer «Kropfleerete» seitens der ÖV-Branche die Rede, von Enttäuschung, schlechtem Stil beim BAV, von der Sorge, dass das Verhältnis unwiderruflich beschädigt worden sein könnte. Die ÖV-Vertreter klagen: Nach der BAV-Kritik seien zahlreiche Rückerstattungsanträge eingegangen, auch von Anwaltskanzleien.

Dabei ist die ÖV-Branche überzeugt, dass ihr Umgang mit zu spät gelösten E-Tickets juristisch korrekt ist. Zudem müsse eine einheitliche Praxis für alle unterschiedlichen Transportmittel funktionieren, also auch für Bus und Tram, wo der nächste Halt oft bereits nur eine Minute entfernt ist. Jugendliche würden mit offener App fahren, «wenn Kontrollpersonal zusteigt, wird gewischt», berichtet der Vertreter eines städtischen Verkehrsbetriebs bei der «Kropfleerete». 

Das BAV hingegen bleibt bei der Aussprache vorerst dabei, dass nur gebüsst werden darf, wenn mutmasslich ein Einnahmeausfall für das Transportunternehmen vorliegt. Bei um wenige Sekunden zu spät gelösten Tickets sei das nicht der Fall. Bereits in der ersten Sitzung der Arbeitsgruppe einigen sich die Teilnehmenden dann aber als Arbeitshypothese auf die bisherige Regelung. Beim zweiten Treffen wird entscheiden, dass diese bestehen bleibt. Dennoch ortet die Gruppe Handlungsbedarf, damit es zu weniger Fällen von unfreiwilligen Schwarzfahrten kommt.

«Mitarbeit teilweise schwierig»

Die Arbeitsgruppe legt der BAV-Direktion am 11. April ein Massnahmenpaket vor, das technische Verbesserungen, einen regelmässigen Erfahrungsaustausch unter den Transportunternehmen und breit angelegte Kommunikationskampagnen vorsieht.

Aus den internen Papieren geht hervor, dass das BAV die Massnahmen als «den kleinsten gemeinsamen Nenner» betrachtet. Und: «Die Mitarbeit in der Arbeitsgruppe gestaltete sich für das BAV teilweise schwierig.» Davon, dass die «Sekundenstrafen» gegen das Gesetz verstossen würden, ist hingegen keine Rede mehr. Zu den juristischen Differenzen wird einzig festgehalten, dass diese zur Kenntnis genommen und bis auf Weiteres belassen würden.

Trotzdem wertet das BAV das Ergebnis als Erfolg: Die Sensibilität für das Thema sei bei den Transportunternehmen schon jetzt verstärkt vorhanden «und soll noch mit Nachdruck weiter eingefordert werden», steht im Protokoll der Sitzung vom 11. April.

Auf Anfrage von SonntagsBlick doppelt das Bundesamt nach: «Die Stellungnahme des BAV von Ende 2023 hat viel bewirkt. Das Massnahmenpaket, das Alliance Swiss Pass gemeinsam mit uns erarbeitet hat, beweist dies.» Und weiter: «Wir sind überzeugt, dass die Transportunternehmen künftig noch mehr Gewicht darauf legen, bei Zuschlagsforderungen den Einzelfall genau zu prüfen und die konkreten Umstände zu berücksichtigen.»

«Die Praxis ist rechtskonform»

Für die Nutzerinnen und Nutzer des öffentlichen Verkehrs bedeutet die Kehrtwende beim Bundesamt für Verkehr, dass sie weiterhin gebüsst und ins nationale Schwarzfahrerregister eingetragen werden, sollten sie mit einem Billett kontrolliert werden, das nach Abfahrt gelöst wurde. Ihnen bleibt wie bereits zuvor der Beschwerdeweg.

Auf die Frage, wieso der Bund in der Verhandlung mit der ÖV-Branche eingeknickt ist, geht das BAV nicht ein. Dafür wird die Rolle rückwärts bekräftigt: «Die geltende Praxis der Transportunternehmen ist rechtskonform», heisst es plötzlich. Die Regelung, dass jeder und jede bei Abfahrt ein gültiges Ticket haben muss, sei «einfach, für die Kunden klar verständlich und für alle Verkehrsmittel anwendbar».

Trotzdem werde das BAV die Umsetzung des Massnahmenpakets durch die Branche genau verfolgen. «Sollte die Situation für die Kunden weiterhin nicht zufriedenstellend sein, werden wir wieder einschreiten.» Eine Warnung, die bei der ÖV-Branche mit dem letzten Eiertanz des BAV im Hinterkopf nur mässig Eindruck machen wird.

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