Verdingkind Eduard Blaser (84) kam mit zwölf Jahren ins Heim
25'000 Franken für ein geraubtes Leben

Tausende Schweizer Kinder wurden bis 1981 in Erziehungsanstalten traumatisiert. Jetzt erhalten die ersten Opfer eine Entschädigung vom Bund.
Publiziert: 07.01.2018 um 10:28 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 16:35 Uhr
«Zum ersten Mal im Leben habe ich einen Batzen auf der Seite.»Eduard Blaser (84)
Foto: PETER GERBER
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Cyrill Pinto (Text) Und Peter Gerber (Foto)

Eduard Blaser wurde fast sein ganzes Leben lang bevormundet. Noch heute hat er einen Beistand. Über Geld verfügen oder Entscheidungen selber treffen durfte der heute 84-Jährige nie.

Die Geschichte seiner Entmündigung begann vor 72 Jahren. Damals wurde er in die Beobachtungsstation der Klinik Tschugg bei Erlach BE eingewiesen, weil er die Schule geschwänzt hatte und irgendwer behauptete, er habe epileptische Anfälle.

Dabei litt der Junge bloss an Schwindelanfällen – und unter der strengen Hand des Lehrers. «In die Klinik Tschugg wurde ich zur Erziehung gebracht», so Blaser. Was das in den Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts bedeutete, daran erinnert sich Eduard Blaser nur allzu deutlich.

«Wer nicht spurte, wurde in den Bärengraben geworfen»

Am Morgen gingen die Zwölfjährigen zur Schule, am Nachmittag zum Torfstechen ins Moor – Kohle war damals rationiert, Torf wurde zum Heizen gebraucht. Das war schwere Arbeit: «Wer nicht spurte», erzählt Blaser, «der wurde in den Bärengraben geworfen.» Der Bärengraben war natürlich nicht der in Bern – man warf die Kinder in einen Kerker im Freien, ein Loch im Boden, das von oben mit einem Gitter versperrt war.

Tagelang wurde der kleine Eduard darin bei jedem Wetter gefangen gehalten. «Die Zeit im Heim war überhaupt nicht schön», sagt er. Weil er dort gewesen ist, wurde Blaser noch Jahrzehnte später stigmatisiert, unter Vormundschaft gestellt – durfte nie selbst über sein Leben entscheiden.
Später stempelten ihn die Behörden als «arbeitsscheu» ab und warfen ihn wiederholt ins Gefängnis. Seine drei Kinder wurden ebenfalls unter Vormundschaft gestellt und in Heimen untergebracht – darunter auch Eduards Sohn Robert Blaser (60).

Tausende in der Schweiz teilen das Schicksal der Blasers. Sie schlossen sich in den 90er-Jahren in Vereinen zusammen, um das erlittene Unrecht sichtbar zu machen. Gemeinsam mit Guido Fluri (51) – der selbst bei Pflegefamilien und in Heimen aufwuchs – lancierten sie die Wiedergutmachungsinitiative.

Bis Ende März können Gesuche eingereicht werden

Bundesrat und Parlament erkannten die Schuld an, die sich der Staat unter anderem gegenüber Heim- und Verdingkindern aufgeladen hatte – und beschlossen 2016 das Bundesgesetz über die Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Das Gesetz sieht unter anderem eine wissenschaftliche Aufarbeitung vor – und einen Solidaritätsfonds für Opfer.

Betroffene können direkt beim Bund oder bei kantonalen Anlaufstellen Gesuche um einen Beitrag aus diesem Solidaritätsfonds einreichen. Er ist mit maximal 300 Millionen Franken ausgestattet. Gesuche können noch bis März dieses Jahres eingereicht werden.

Eduard Blaser gehört zu jenen 366 Personen, die vom Bund kurz vor Weihnachten eingeschriebene Briefe erhielten: «Solidaritätsbeitrag für Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen – Gutheissung ­Ihres Gesuchs», lautet die Betreffzeile. 25'000 Franken erhält Eduard Blaser nun im Januar auf sein Konto überwiesen. «Als Zeichen der staatlichen Anerkennung des zugefügten Unrechts und zur Wiedergutmachung.»

Für Blaser hat sein Sohn Robert das Gesuch ausgefüllt. Seit kurzem ist er Präsident des Vereins FremdPlatziert, auf seiner Internetseite sammelt der Verein alles Wissen über dieses finstere Kapitel der Schweizer Geschichte.
Robert Blaser wurde 1964 seinerseits unter Vormundschaft gestellt und im Heim Landorf bei Köniz BE untergebracht. «Unter den Kindern herrschte das Faustrecht, auch die Heimleitung setzte auf Gewalt zur Erziehung», erinnert er sich. Später kam er in die Arbeitserziehungsanstalt Kalchrain im Thurgau. Seine Zeit in Erziehungsheimen endete erst mit der Volljährigkeit.

Das Trauma ihrer Jugend wirkt in ihrer ganzen Existenz fort

Obwohl ihm alle Erzieher prophezeiten, «aus dir wird nie etwas», machte Robert Blaser eine Anlehre. Er brachte sich vieles selbst bei, erfand sogar eine Vorrichtung zum Anbringen von Elektroin­stallationen, von der er leben kann. Das gab ihm genügend Zeit, sich für Betroffene einzusetzen, die in ­ihrer Jugend ein ähnliches Schicksal erlitten haben: «Oft bringen sie die Kraft nicht auf, ein Unterstützungsgesuch einzureichen», so Blaser. Das Trauma ihrer Jugend wirkt in ihrer ganzen Existenz fort, viele leben zurückgezogen, manche verwahrlosen.

Eines der Opfer begleitete Robert Blaser sogar bis zur Post, damit der Betroffene den gemeinsam verfassten Brief auch wirklich abschickte. «Als der Mann dann ein paar Wochen danach von den Behörden gebeten wurde, noch eine Kopie seines Ausweises zu schicken, war er ganz ratlos, wusste nicht, ob er überhaupt gültige Papiere hat.»

Manche Anträge wiesen die kantonalen Stellen sogar zurück. «Eine Frau wurde mit der Begründung vertröstet, sie sei ja gar nicht fremdplatziert worden – dabei wurde sie in ­einem Mütterheim geboren», so Blaser.
Die Frau reichte trotzdem ein Gesuch ein. «Doch so eine Auskunft kann dazu führen, dass jemand die Flinte ins Korn wirft und das Gesuch zurückzieht.»

Die schwierigen Lebensumstände von Opfern staatlicher Massnahmen seien ein wichtiger Grund, weshalb nur wenige einen Solidaritätsbeitrag beantragt hätten. Robert Blaser: «Es wäre darum sehr wichtig, dass Betroffene auch nach der Frist von Ende März ein Gesuch einreichen können.»

«Wir haben bisher noch kein Gesuch ablehnen müssen»

In Bern kümmert sich der Vizedirektor des Bundesamts für Justiz um das Thema. Luzius Mader (62) ist der sogenannte Delegierte für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Im Gespräch mit SonntagsBlick betont er, die Hürden zur Einreichung eines Gesuchs seien nicht hoch. «Es reichen eigentlich Personalien, Unterschrift und Kontonummer. Den Rest können bei Bedarf die kantonalen Anlaufstellen erledigen, die meist mit den Opferhilfestellen identisch sind.»

Der Bund entscheide dann über den Antrag – «Wir haben bisher noch kein Gesuch ablehnen müssen», sagt Mader. Roberts Vater Eduard Blaser lebt heute in einem Altersheim in Aeschi bei Spiez BE. Wegen seiner Herzprobleme ist er häufig müde, lange Spaziergänge liegen nicht mehr drin. Was er mit dem Geld macht? «Nichts», antwortet er, «zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einen Batzen auf der Seite.»

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