Zehn An’Nur-Mitglieder wegen Quälereien vor Gericht
«Sollen wir deinen Schädel zerstören oder dich köpfen?»

Heute startet der Mammut-Prozess gegen zehn Hauptakteure eines Übergriffs in der An'Nur-Moschee in Winterthur ZH. Sie sollen zwei Mitglieder bedroht, geschlagen und drangsaliert haben. Die Opfer hätten sich den Angriff ausgedacht, sagen die Angeklagten.
Publiziert: 01.10.2018 um 04:11 Uhr
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Aktualisiert: 02.10.2018 um 11:07 Uhr
Beat Michel

Knapp zwei Jahre nach dem handfesten Eklat findet am heutigen Montag endlich der Prozess statt. Im Winterthurer Bezirksgericht hat die Verhandlung gegen die fanatischen Mitglieder der mittlerweile geschlossenen An'Nur-Moschee begonnen.

Die Vorwürfe sind schwer. Am Samstag, dem 22. November 2016, beginnt für die Moscheebesucher Ahmed A.* und Ali B.* der Horror ihres Lebens. Laut der Mammut-Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Winterthur ZH (300 Seiten stark) wurden die beiden Männer eingeschlossen und massiv gepeinigt. Die An'Nur-Mitglieder verdächtigten die Opfer, einem Journalisten Informationen gesteckt zu haben.

Der Mammut-Prozess um die An’Nur-Moschee beginnt.
Foto: Siggi Bucher
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Das Martyrium begann ausgerechnet im Gebetsraum. Fünf Mitglieder der Moschee drohten Ahmed A. abwechselnd mit dem Tod. Wie der Gerichtspräsident in der Anklageschrift vorliest, benutzte der einzige jugendliche Angeklagte eine extreme Sprache. Er sagte: «Wie willst du sterben, sollen wir deinen Schädel zerstören oder sollen wir dich köpfen? Dein Blut ist zu dreckig für die Moschee, wir bringen dich irgendwo anders hin, wo du dann stirbst.»

Der Gerichtspräsident zitiert zum Abschluss noch aus einem Rapport einen Polizisten. Er sagte nach der Razzia vom 22. September 2016: «Ich habe in meiner Laufbahn noch nie so eingeschüchterte Menschen gesehen.»

«Ich habe gespuckt, das stimmt»

Bis zum Montagmittag wurden sechs der zehn Beschuldigten, alles junge Muslime, befragt. Alle schlagen in dieselbe Kerbe: Die beiden Opfer sollen den Angriff erfunden haben, um ihnen zu schaden. Der Schweizer L.* (20) gibt zwar zu: «Ich habe Idiot gesagt und ihn angespuckt, das stimmt.» Körperverletzungen habe es aber keine gegeben, die Anklage sei eine Verschwörung von Justiz und Medien. «Ohne jede Beweise werden wir angeklagt. Ich war immer dabei. Es ist alles völlig übertrieben dargestellt.»

Ein weiterer Vorwurf gegen L.: Er hatte ein brutales Video auf dem Handy, in dem ein Mensch zerfleischt wird. «Ich weiss nichts darüber. Es stammt aus irgend einer Whatsapp-Gruppe.» Zur An’Nur-Moschee sagt er: «Ich ging gelegentlich hin. Ein bis zweimal pro Woche. Auch an dem Freitag war ich nur für das Gebet dort.»

«Es wurde niemand geschlagen»

Als nächstes äussert sich der Angeklagte Schweizer Z.* (26) zu seiner Begegnung mit einem der Opfer: «Ich fragte ihn: Hast du das gemacht oder nicht? Und: Hast du dafür Geld bekommen? Ich schlug ihn nicht. Er gab sein Handy von sich aus. Wir gingen in den Raum, damit nicht alle zusehen. ‹Ich möchte alles zugeben›, sagte er dann. Dann kam die Polizei.»

Auch er sagt, die Anklage sei erfunden. «Ich bin sicher, es ist eine Verschwörung. Es wurde niemand geschlagen.» Ohrfeigen? «Wenn ich so etwas gemacht hätte, hätte er Schrammen gehabt. Er hatte nichts.» Die Anklage verlangt einen Landesverweis – dazu sagt er: «Ich kann nicht weg aus der Schweiz. Es wäre mein Todesurteil. Auch Spanien und Marokko, wo die Frau herstammt, geht nicht. Ich kann kein Spanisch.»

Der einzige minderjährige Ankläger bezichtigt die Anklage ebenfalls der Lüge. Er gibt zu, dass er auf arabisch gesagt hatte, dass er seinem Opfer auf den Kopf schlagen werde. Aber die Untersuchungshaft sei nicht angemessen gewesen. Er hatte auf dem Handy Verstümmelungen, Hinrichtungen und IS-Propaganda gespeichert. «Die waren unabsichtlich gespeichert. Ich habe nicht alle angeschaut.»

Prügelvideo mit IS-Musik auf dem Handy

Der junge Angeklagte ist Ersatzspieler einer Fussballmannschaft. Ein Video zeigt ihn, wie er aggressiv auf die Spieler des gegnerischen Teams losgeht – unterlegt ist die Aufnahme mit Marschmusik, die man auch in IS-Videos hört. Der Angeklagte behauptet, nicht zu wissen, was der IS für Musik macht. Er habe das Video nicht gemacht.

Der Angeklagte Schweizer R.* (23) mischte sich ein, als der Privatkläger den Pincode des Handys nicht herausgab. Er verweigert nun vor Gericht die Aussage oder verweist auf frühere Befragungen. Vor Gericht will er nichts sagen. Er trägt lange Haare und langen Bart. Er beantwortet keine Frage und sagt, dass der Anwalt ihm dazu geraten habe. Wegen der Haft musste er die gemeinsame Wohnung mit seiner schwangeren Frau aufgeben. Er hat keine Vorstrafen.

Auch der Madzedonier K.* (22) will zuerst nichts zu der Anklage sagen. Dann äussert er sich doch: Zu Beginn der Attacken sei er auf Toilette mit Bauchkrämpfen gewesen. Dann sei er zu A. gegangen. Er habe mitbekommen, dass der Privatkläger in der Moschee fotografiert und sie für Geld verraten habe.

Der Richter wirft ihm vor: «Sie haben ihm eine Zehnernote in den Mund gesteckt.» Der Angeklagte widerspricht: «Stimmt gar nicht, das habe ich nicht gemacht.» Er habe einzig gesagt: «Wie kannst du dich nur verkaufen.» Der Rest sei gelogen.

IS-Propaganda auf Laptop von Schweizer M.* (22) gefunden

Der Schweizer M.* (22), mit türkischen Wurzeln, sagt, dass die Anklage völlig übertrieben sei. «Ich war beim Beten. Erst als der Scheich kam, ging ich zu meinem Bruder. Ich sah, wie er den Mann angespuckt hatte. Ich sagte ihm, dass er das nicht darf.» Sonst habe er nichts gemacht, so M. «R. hat mich fotografiert. Das hat mich hässig gemacht.»

Dass er geboxt haben soll, streitet er aber ab. M. kennt zwei der Angeklagten vom Fussball. Die restlichen nur aus der Moschee, wo er ein- bis zweimal die Woche hinging. M. ist arbeitslos. Seine erste Lehre hat er abgebrochen. Der 22-Jährige ist vorbestraft – wegen Gewaltdarstellungen, die auf seinem Laptop und Handy gefunden wurden. Es handelte sich um Propagandamaterial des Islamischen Staats. «Es hat mich halt damals interessiert», begründet er den Besitz.

Der Angeklagte D.* (22) gibt sich zugeknöpft. Auch er besuchte die An’Nur-Moschee. Der Grund: Er wollte in eine arabische Moschee – auch wenn er selbst kein Arabisch versteht. Die Predigt sei übersetzt worden. Er verweist bei den kritischen Fragen immer wieder auf seine Aussagen, die er bei den Befragungen gemacht hatte. D. kennt den 22-jährigen M. vom Fussball. Er ist verheiratet und seine Frau ist schwanger. D. hat eine KV-Abschluss, arbeitet aber temporär im Bereich Metallbau. Er ist zum Islam konvertiert.

Straffe Prozesstaktung

In der fünftägigen Hochsicherheitsverhandlung müssen sich die Angeklagten für Freiheitsberaubung, Entführung, Drohung, Körperverletzung, Sachentziehung sowie Beschimpfung verantworten. Es gelten strenge Vorschriften: Wer ins Gerichtsgebäude will, muss durch den Metalldetektor. Jede Person muss sich ausweisen und Inhaber einer Platzkarte sein. In den Gerichtssaal dürfen nur die Prozessbeteiligten am Verfahren. Journalisten und Besucher nehmen in zwei anderen Gerichtssälen per Videoübertragung am teil.

Heute befragt der Richter die Beschuldigten. Am Dienstag und Mittwoch folgen Plädoyers von Staatsanwaltschaft, der Anwälte der Privatkläger und der Verteidiger. Der Donnerstag ist für weitere Parteivorträge und die Schlussworte reserviert. Am Freitag folgt das Verfahren des Jugendgerichts gegen den damals minderjährigen Angeklagten. Urteilseröffnung ist am 23. Oktober.

Winterthurer Imam Atia E.* (54) ebenfalls unter den Angeklagten

Zu den Angeklagten gehört auch Imam Atia E.* (54). Obwohl der Libyer die oberste Respektsperson in der Moschee war, griff er nicht ein. Im Gegenteil: Er beteiligte sich an der Drangsalierung der Opfer. Und er sagt gar: «Es gab keine Bedrohung.» Die Anklage wirft dem damaligen Imam der An'Nur-Moschee vor, dass er den jungen Gläubigen, der in der Moschee fotografiert und gefilmt haben soll, in sein Büro gebracht und die Tür verschlossen habe. Dann habe er ein «Geständnis» von ihm und dem anderen angeblichen «Verräter» verlangt und dieses aufgezeichnet.

«Ich habe mit ihnen geredet, weil sie einen Fehler gemacht haben», sagte der Libyer in der Befragung. Eine Bedrohung habe es aber nicht gegeben. Die Türe sei abgeschlossen worden, weil er dies bei Gesprächen immer so mache. Wenn jemand eine Unterredung wegen Ehe-Problemen wolle, tue er das jeweils auch, damit sich «die Menschen wohlfühlen».

Der Imam ist mit einer Schweizerin verheiratet und hat eine Niederlassung C.  Er hat insgesamt fünf Kinder. Sie sind 20, 19, 17, 16, 10 Jahre alt. Atia E. ist ursprünglich Bauingenieur. Er kam in die Schweiz, weil er gegen das Ghadaffi-Regime gekämpft habe. Er könne nicht zurück. 2014 sei er zuletzt in seiner Heimat gewesen. Ihm drohe die Exikution. Die Gruppierungen von Ghaddaffi seien wieder in Libyen zurück.

Imam soll des Landes verwiesen werden

«Hat der Imam auf ein Geständnis gedrängt?», will der Richter wissen. «Nein», meint der Imam. «Er wollte von sich aus alles erzählen. Er verspürte, dass er einen Fehler gemacht hatte.» In der Anklageschrift jedoch steht, dass der Geschädigte nur aus Todesangst alles zugegeben hätte. «Das ist Blödsinn. In der Moschee gibt es keine Terroristen. Hier kommt man zu beten. Das wissen alle», so Imam Atia E. Er wisse weder, warum Aufnahmen gemacht wurden, noch warum die Gläubigen in der Moschee rumgeschrien hätten.

Der Imam gibt sich unwissend. Er habe gar bei seiner Verhaftung der Polizei erklärt, dass er ein Belohnung verdiene. Denn schliesslich sei er in der Moschee, um dort Probleme zu lösen. Die Staatsanwaltschaft fordert für den Imam eine Freiheitsstrafe von 30 Monaten – davon zwölf unbedingt. Plus einen Landesverweis von zehn Jahren. Vorwurf: mehrfache Freiheitsberaubung und mehrfache Nötigung.

Tunesier O. *(49) ist der damalige Präsident der Moschee. Der Imam habe ihn angerufen. Ihm gesagt, dass es ein Problem gebe. «Ich fuhr hin. Nach einer halben Stunde war ich in der Moschee. Ich wusste noch nicht, was los war. Die Türe war offen, ich ging rein. Der Privatkläger sagte gleich zu mir: Ich will ihnen alles erzählen», sagt O. vor Gericht. Von Gewalt gegen die potentiellen Spione erzählt er nichts.

Ex-Moschee-Präsident O. (49) gibt zu, dass Privatkläger fotografiert wurden

Auch zu aggressivem Verhalten sei es nicht gekommen. Er gibt zu, dass die beiden Privatkläger fotografiert wurden. Aber nur als Beweis für die Polizei, behauptet er. Warum er nicht gleich die Polizei angerufen hatte, kann er nicht erklären. Auch dass die beiden unter Todesangst litten, will er nicht gelten lassen. «Ich habe die beiden ja beruhigt. Die Polizei kommt, sagte ich zu ihnen», so der Tunesier. O. macht dem einen Privatkläger den Vorwurf, dass er betrunken gewesen sei und zwei Flaschen Whisky in die Moschee mitgebracht hatte.

Der ehemalige Präsident der Moschee ist seit 2015 krank. Er hat einen Hirntumor, ist IV-Rentner. O. ist bisher nicht vorbestraft. Er ist Vater zweier Kinder – eines davon hat er mit seiner Ex-Frau. Wenn er die Schweiz verlassen muss, bedeute das für ihn die Todesstrafe. Denn er habe nur hier in der Schweiz die medizinische Versorgung, die ihn am Leben hält.

Für die Angeklagten fordert die Staatsanwaltschaft 30 bis 36 Monate Haft. Für die vier Männer ohne Schweizer Pass kommen Landesverweise dazu. Bis auf eine Ausnahme wohnen alle neun erwachsenen Angeklagten in Winterthur. Der zehnte Mann fällt unter das Jugendgesetz.

* Namen geändert

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