So knapp entkam Brienz der Katastrophe
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Drohnen-Aufnahmen zeigen:So knapp entkam Brienz der Katastrophe

Brienz GR rutscht schneller denn je
«Mein Haus ist so schief, ich laufe wie ein Besoffener»

Um Brienz vor der schleichenden Zerstörung zu schützen, setzt das Dorf auf einen Entwässerungsstollen. Ein Besuch vor Ort.
Publiziert: 26.05.2024 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 26.05.2024 um 09:05 Uhr
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Cécile ReyPraktikantin

Ein Uhu ruft, es donnert und kracht. Auf der Terrasse des Regzia Viglia, des einzigen Restaurants in Brienz GR, sitzt Besitzer Pietro Lazzara (46). Die Plätze um ihn herum sind leer. Gäste kommen schon lange keine mehr. Der Grund dafür liegt nur wenige Meter von ihm entfernt: Wegen des gewaltigen Schuttstroms, der das Bergdorf vor einem Jahr nur knapp verschonte, ist eine von zwei Hauptstrassen für Besucher gesperrt. Nur Anwohner und das Postauto dürfen sie noch befahren.

Auch heute krachen hinter dem Wirt immer wieder kleinere Felsbrocken den Berg herunter, Staubwolken breiten sich aus. Lazzara wirkt unbeeindruckt. «Das geht schon den ganzen Morgen so.» Und doch räumt er ein: So schlimm wie heute sei es schon lange nicht mehr gewesen.

Felsbrocken donnern in Brienz den Hang hinunter.
Foto: URS BUCHER

Brienz kommt einfach nicht zur Ruhe. Das Dorf rutscht weiter, wegen des vielen Regens und Schnees der letzten Monate rund zwei Meter pro Jahr – so schnell wie noch nie seit Messbeginn. Die Folgen: Risse in den Hauswänden, aufgeplatzte Strassen und schiefe Gebäude.

Brienz GR rutscht so schnell wie noch nie seit Messbeginn.
Foto: URS BUCHER
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Lazzara, der unweit seines Restaurants wohnt, sagt: «Mein Haus ist so schief, ich laufe wie ein Besoffener.» Solange der Berg mehr als zehn Zentimeter pro Jahr rutscht, darf er sein beschädigtes Haus nicht abreissen und neu bauen. Solange gilt in Brienz Bauverbot.

Die Ungewissheit ist am schlimmsten

Daniel Albertin, Präsident der Gemeinde Albula/Alvra, zu der auch Brienz gehört, sagt: «Die Brienzer sind es sich gewohnt, dass ihr Dorf pro Jahr etwa vier bis acht Zentimeter rutscht. Das ist zwar viel im Vergleich zu anderen Gebieten, aber verkraftbar.» In den letzten 94 Jahren hat sich das Dorf um 17 Meter verschoben.

Hört man sich im Dorf um, merkt man schnell: Die Brienzer möchten ihr Zuhause nicht verlassen. «Selbst wenn man mir eine Villa auf der Lenzerheide anbieten würde, würde ich nicht gehen. Das ist mein Zuhause, hier sind meine Wurzeln», sagt ein Bewohner, der lieber anonym bleiben möchte.

Ein junger Mann, der die herunterrollenden Felsen beobachtet, sagt: «Am Tag sehe ich wenigstens, was passiert. Nachts ist es viel schwieriger für mich.» Er habe sich deshalb ein spezielles Licht für seine Kamera gekauft, um den Berg nachts filmen zu können.

Ein anderer Bewohner sagt: «Der Berg macht uns keine Angst, aber die Ungewissheit ist verdammt schwierig auszuhalten. Wir rutschen das verdammte Loch hinunter und wissen nicht, ob wir gleich wieder unsere Taschen packen und gehen müssen.»

Die ganze Hoffnung liegt auf dem Entwässerungsstollen

Um die Rutschung zu beruhigen, setzen die Brienzer ihre ganze Hoffnung auf den sogenannten Entwässerungsstollen, der den Berg entwässern soll. Wie bei einer Wasserrutschbahn: Je nasser der Berg, desto schneller rutscht er. Ein trockener Berg kommt jedoch nur mühsam voran.

Darum wird der bereits bestehende Teststollen in seiner Länge verdreifacht. 2027 soll er fertig sein und insgesamt 40 Millionen Franken kosten. Das meisten davon zahlen der Bund und der Kanton Graubünden. Vier Millionen teilen sich die Rhätische Bahn, das Bündner Tiefbauamt, die Übertragungsnetzbetreiberin Swissgrid und die Gemeinde Albula.

Der bestehende Stollen soll bis Ende 2027 verdreifacht werden.

40 Millionen für 84 Einwohnerinnen und Einwohner, also etwa eine halbe Million pro Person. Ist das zu viel? Der Gemeindepräsident sagt Nein. Denn: Nicht nur Brienz, sondern das ganze Tal sei gefährdet, ja gar der Kanton Graubünden. Bei einem Rutsch könnten die Bahnlinie und das Glasfasernetz zerstört werden. Der Schaden wäre immens: Rund 170 Millionen Franken, wie eine Risikoanalyse zeigte.

Albertin sagt: «Unsere ganze Hoffnung liegt auf dem Entwässerungsstollen. Wir sind uns ziemlich sicher, dass das klappt.» Und was, wenn es nicht klappt? Natürlich habe man auch eine mögliche Umsiedlung vorbereitet, so der Gemeindepräsident: «Wir können es uns gar nicht leisten, keinen Plan B zu haben. Aber solange es in Brienz sicher ist, muss jeder selbst entscheiden, ob er gehen oder bleiben will.»

Lazzara wird sein Restaurant wegen fehlender Gäste Ende Juli endgültig schliessen. Aber Wegziehen kommt auch für den 46-Jährigen und seine Familie nicht infrage: «Man müsste uns schon mit dem Helikopter abholen.»

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