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Philosoph Ludwig Hasler (75)
«Wir Alten können uns selber helfen»

Nutzniesser des Rentensystems, stur in der Corona-Krise – Ältere müssen Schelte einstecken. Der Philosoph Ludwig Hasler (75) fordert, dass die «Alten» aufhören, sich unter Wert zu verkaufen, sich mehr einbringen, und sagt, warum Enkelhüten allein nicht glücklich macht.
Publiziert: 31.05.2020 um 13:35 Uhr
Der Philosoph Ludwig Hasler hat sich in seinem Buch «Für ein Alter, das noch was vorhat» den aktiven Senioren gewidmet.
Foto: Thomas Meier
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Interview: Rebecca Wyss

Als Ludwig Hasler (75) oberhalb des Zürichsees die Haustür öffnet, geben wir uns nicht die Hand. Wir halten Abstand. Der Philosoph gehöre zu Risikogruppe, sagt der Bundesrat. Er gehöre zu den «Alten», sagt er selbst. Und während man später dem Mann mit dem weissgrauen Haar und den blauen Augen gegenübersitzt, begreift man: Die Zugehörigkeit zur Gruppe der «Alten», der Senioren, allein sagt wenig über einen Menschen aus. Hasler war vor Corona ständig für Vorträge und Lesungen unterwegs. Jetzt erkundet er jeden Morgen den Wald, liest Klassiker der Weltliteratur und kümmert sich als «Chefgiesser» um den grossen Garten. Mit jeder Pflanze, bei der er mit der Kanne vorbeikomme, stelle er Kontakt her: Hallo, wie geht es dir? Ähnlich mit den Blaumeisen, die gerade geschlüpft sind. «Das belebt mich», sagt er. «Man wäre dann selber gerne so eine Blaumeise, die den ersten Tag in ihrem Leben im Freien ist.»

BLICK: Herr Hasler, zuerst muss ich etwas loswerden: Sie sehen jünger aus, als Sie sind.
Ludwig Hasler:
Das ist schon fast ein Running Gag. Ich reagiere eher sauer darauf.

Warum?
Ich habe mir so Mühe gegeben zu leben, und jetzt sieht man mir das nicht einmal an. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich einen 75-jährigen Mann.

Vorträge, Lesungen – Sie hätten viel vorgehabt. Nun müssen Sie wegen Corona zu Hause bleiben. Wie kommen Sie zurecht?
Ich muss zugeben, ich vermisse die Auftritte. Die Aufregung kurz davor, die Resonanz darauf und die vielen interessanten Menschen, die ich kennenlerne. Bis Corona kam, war ich im Zwei-Tages-Rhythmus unterwegs. Es tut mir gut, mal etwas herunterzufahren. Ich bin so ausgeschlafen wie seit Jahrzehnten nicht. Sie sehen es mir jetzt vielleicht nur nicht an.

In der letzten Zeit mussten Senioren viel einstecken. Manche wurden beim Einkaufen beschimpft. In den Zeitungen wurde gefordert, dass sie an die Wirtschaftskrise mitzahlen. Was ist da los?
Der Konflikt hat reale Gründe. Die ältere Bevölkerungsgruppe wird geschützt, und die jüngere bezahlt. Unsere Enkel sind bald mit dem Studium fertig. Für sie wird es schwierig werden, einen Job zu finden. Das gilt auch für Lehrlinge. Wir werden 25 Jahre lang die Schulden abzahlen müssen, die wir nun anhäufen. Was heisst wir? Mich wird es in 25 Jahren nicht mehr geben.

Wegen der Corona-Krise bekommt die Generationensolidarität Risse. Welchen Stand haben die Senioren?
Wir Alten haben durch unseren Konsum gesellschaftliche Bedeutung. Wir kosten nicht nur, wir zahlen auch. Viele Anlässe würden ohne die Alten gar nicht stattfinden. Sogar an Tennisturnieren sehe ich lauter über 65-Jährige auf der Zuschauertribüne. Die finden ja tagsüber statt, ohne sie käme keiner. Aber wir Alten könnten mehr wert sein als unsere Konsumkraft.

Das sind Sie auch. Als Gesellschaft sparen wir jedes Jahr acht Milliarden Franken, weil die Grosseltern ihre Enkel hüten.
Das ist schön und auch unentbehrlich. Wir reden aber von 25 geschenkten Jahren ab der Pensionierung. Wer hat so viele Enkel, dass er so lange hüten kann? Hüten kommt übrigens aus der Viehwirtschaft. Früher hatten die Alten schon darum mehr gesellschaftliche Bedeutung, weil sie nicht nur hüteten, sondern weiter mitwirkten. Oft bis zum Grab.

Ist das nicht ein zu romantischer Blick? Die meisten waren schon mit 50 körperlich am Ende.
Mir müssen Sie das nicht erklären. Meine Mutter hatte schon mit 50 unglaubliche Gicht-Hände. Sie musste eine achtköpfige Familie ohne Waschmaschine, Warmwasser und Zentralheizung versorgen. Mein Vater musste am Abend noch die Bezirkskrankenkasse verwalten, weil er als angestellter Schreiner nicht genug verdiente. Es waren Racker-Leben. Bei Bauern und Handwerkern konnten die Alten immerhin weiter tun, was sie halt noch machen konnten. So waren sie integriert. Sie fielen nicht in Sinnkrisen. Heute kenne ich Gleichaltrige, die können sich alles leisten. Doch das Einzige, was sie dringend brauchen, ist ein Psychiater. Sie sind unglücklich. Sie sehen keinen Sinn, fühlen sich überflüssig.

Senioren bereisen die Welt, machen Ausflüge in die Berge, geniessen. Wie kommen Sie darauf, dass sie unglücklich sind?
Seit wann ist am glücklichsten, wer stets weg will? Dass wir reisen, dass wir «s schön händ», das ist alles prima. Für den Sinn im Alter reicht es nicht. Sinn meint, dass ich etwas mehr bewege als nur mich. Dass ich eine Bedeutung habe – auch für andere. Mit meinen Ideen scheine ich einigen an den Karren zu fahren.

Wie reagieren die «Alten», von denen Sie reden?
Ich kann nicht klagen. Der Zuspruch ist enorm. Aber ich treffe offenbar einen Nerv. Also gibt es auch Wutausbrüche derer, die sich angegriffen fühlen. Für mich ändert es nichts daran: Wir müssen das Alter neu denken.

Wie lauten Ihre Ideen konkret?
Wenn wir Alten als respektable Gesellschaftsmitglieder gelten wollen, müssen wir uns auch entsprechend aufführen und wieder Akteure werden. Gegen das überholte Klischee der hilfsbedürftigen Alten. Gegen den therapeutischen Ton, wenn von Alten gesprochen wird. So kam ich auf die Idee meines Buchs «Für ein Alter, das noch was vorhat». Ich war mal an einer Tagung zum Thema Alter. Das Motto lautete: «Was können wir noch tun für unsere älteren Mitmenschen?»

Guter Punkt: Was können wir tun?
Nichts! Wir Alten können uns selber helfen. Hier in der Gemeinde haben wir den Verein Senioren für Senioren mit 760 Mitgliedern. Nebenan wohnt eine Frau, die ihren Garten nicht mehr selber pflegen kann. Zu dritt machen wir das jetzt an einem Nachmittag. Danach sind wir besser drauf, als wenn wir von einer Kreuzfahrt zurückkämen.

Längeres Arbeiten ist schon lange Thema, nun wieder mit der Reform AHV 21. Bisher sperrte sich die ältere Generation aber dagegen ...
... und 58 Prozent wollen sich frühpensionieren lassen. Das spricht auch nicht für die Kultur in Unternehmen.

Warum? Nach so vielen Jahren haben viele einfach keine Lust mehr auf Arbeit.
Weil die Unternehmen zu wenig auf Veränderungswünsche der Arbeitnehmer eingehen. Viele Jobs machen im Alter keine Freude mehr. Unternehmen haben auch die viel zu pauschale Haltung, «alte Chläuse» seien unflexibel und teuer. Diese sind dann entsprechend unwillig, länger zu arbeiten, etwas kürzerzutreten und weniger zu verdienen, um eine Lösung zu finden.

Das klingt auch nicht attraktiv. Wie lassen sich die Älteren umstimmen?
Wenn wir Alten sehen würden, dass man uns wegen unserer Erfahrung braucht, würden wir uns nicht gegen eine Rentenaltererhöhung stemmen. Es müssten Ansätze her, die altersgerechtes Arbeiten begünstigen. Es gibt Aufgaben, die Ältere besser machen als Jüngere. Und umgekehrt. Ich kenne eine Bankerin, die leitet eine grosse Abteilung. Weil ihr Chef den Sessel frei gemacht hat. Er bleibt nun mit seiner Erfahrung beratend dabei, wird gebraucht, verdient aber weniger. Für das Unternehmen der Idealfall.

Was ist mit all jenen, die nicht Chefs sind?
Schauen Sie, die Jungen haben das neuste Wissen, mehr Elan und mehr Illusionen als die ältere Generation. Das Einzige, was wir Alten den Jungen voraus haben, ist Wissen, das nicht in Büchern steht. Dieses haben wir durch jahrelange Arbeit gewonnen. Jeder ältere Handwerker hat diese Erfahrung und kann sie weitergeben.

Verkaufen sich Senioren unter Wert?
Wie oft höre ich Alte sagen, ihr Enkel wüsste viel mehr, sei viel gescheiter als sie. Am Handy herumfuhrwerken kann er besser, ja. Damit müssen wir aufhören.

Haben Sie nie mit dem Alter gehadert?
Nein.

Wann merkten Sie zum ersten Mal, dass Sie alt werden?
Ich erinnere mich an eine Bergtour vor etwa zehn Jahren. Eine Gruppe von nicht auffallend fitten Zeitgenossen zog locker an mir vorbei. Dabei war ich nicht besonders langsam. Ich war früher mal Leichtathlet.

Wenn es möglich wäre, das Altern aufzuhalten, Ihnen viele dieser guten Jahre, die Sie haben, weiter zu schenken – würden Sie da Nein sagen?
Ja. Wäre ich unsterblich, würde ich dieses Interview gar nicht geben. Wir handeln nur im Wissen darum, dass unsere Zeit begrenzt ist und wir jeden Augenblick wahrnehmen müssen. Wenn er nicht vergehen würde, würden wir nichts mehr riskieren, nichts mehr wollen.

Die Corona-Zeit hat Ärzte auf der ganzen Welt vor eine ethisch heikle Frage gestellt: Kann und soll man Betagte um jeden Preis retten, wenn es an Betten und Beatmungsgeräten fehlt? Wie sehen Sie das?
Ich beantworte diese Frage mit Nein – und damit bin ich nicht allein. Die Corona-Zeit hat etwas ausgelöst. Ich weiss von Alten im Altersheim, die auf keinen Fall ins Spital wollten, schon gar nicht an ein Beatmungsgerät. Lieber starben sie, palliativ begleitet, in ihrem Zimmer.

Würden Sie im Ernstfall sagen: Nein danke, ich sterbe lieber?
Aus der heutigen Perspektive kann ich sagen: Nein, an ein Beatmungsgerät will ich nicht. Nur: Wenn es darauf ankommt, bin ich ein anderer.

Und was für einer?
Für Atheisten ist mit dem Tod Endstation. Sie klammern sich deshalb mehr an das Leben. Meine Eltern waren gläubige Christen. Für sie war klar, dass das Alter ein Übergang war in eine andere Form von Leben. Sicher hatten sie auch Angst vor dem Tod. Aber sie wussten, dass die Ahnen sie hier auf Erden begleiteten und sie im Jenseits erwarteten.

Haben Sie Angst vor dem Tod?
Nicht vor dem Tod. Ich denke häufiger daran, wie das Sterben wohl sein wird. Dann sage ich mir: Nicht vergessen, Hasler, noch alle haben es geschafft.

Der unbequeme «Alte»

Ludwig Hasler ist 1944 in Beromünster LU ­geboren. Der Vater war Schreiner, die Mutter kümmerte sich um acht Kinder. Hasler studierte und promovierte, wurde später Journalist, lehrte an der Universität St. Gallen und sass in den Neunzigerjahren in der «Weltwoche»-Chefredaktion. Seine Herkunft schimmert aber noch durch. Der Philosoph und Physiker redet Klartext und füllt damit Säle. Vielleicht aber auch, weil er mit seinem Thema einen Nerv trifft: Sein Plädoyer für ein tätiges Altern hat er im Buch «Für ein Alter, das noch was vorhat» (Rüffer & Rub, 2019) niedergeschrieben. Ludwig Hasler lebt mit seiner Frau in der Nähe von Zürich, wo Kinder und Enkel regelmässig vorbeischauen.

Ludwig Hasler ist 1944 in Beromünster LU ­geboren. Der Vater war Schreiner, die Mutter kümmerte sich um acht Kinder. Hasler studierte und promovierte, wurde später Journalist, lehrte an der Universität St. Gallen und sass in den Neunzigerjahren in der «Weltwoche»-Chefredaktion. Seine Herkunft schimmert aber noch durch. Der Philosoph und Physiker redet Klartext und füllt damit Säle. Vielleicht aber auch, weil er mit seinem Thema einen Nerv trifft: Sein Plädoyer für ein tätiges Altern hat er im Buch «Für ein Alter, das noch was vorhat» (Rüffer & Rub, 2019) niedergeschrieben. Ludwig Hasler lebt mit seiner Frau in der Nähe von Zürich, wo Kinder und Enkel regelmässig vorbeischauen.

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