Star-Historikerin Anne Applebaum
«In den USA spielt sich die grösste Krise der Demokratie ab»

Eine Pandemie, die für Wut und Zwietracht sorgt, autoritäre Politiker, die nach mehr Macht gieren, und soziale Netzwerke, die immer mehr Einfluss haben. Die Historikerin Anne Applebaum spricht im Interview über den Zustand der Welt.
Publiziert: 30.10.2021 um 18:29 Uhr
|
Aktualisiert: 31.10.2021 um 15:31 Uhr
Interview: Valentin Rubin

Wenn jemand zur Krise der Demokratie Auskunft geben kann, dann Anne Applebaum (57). Die renommierte amerikanisch-polnische Historikerin und Journalistin war diese Woche auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung für einen Vortrag in Zürich. SonntagsBlick hat sie zum Gespräch getroffen.

1989 haben Sie aus Berlin über den Mauerfall und den Sieg der Demokratie berichtet. Heute sagen Sie: Die Demokratie ist in Gefahr. Was ist passiert?
Anne Applebaum: Es gibt viele Aspekte, die Demokratien erschüttert haben – etwa in den USA, in Brasilien oder in Polen. Drei Punkte sind besonders wichtig. Schauen wir auf die Medien: Früher haben etwa Rundfunkanstalten einen gemeinsamen Raum der Diskussion geschaffen, wo alle gleichberechtigt teilnehmen konnten. Mit unterschiedlichen Meinungen zwar, aber alle im gleichen Rahmen.

Und heute?
Die sozialen Netzwerke haben die Medien radikal verändert. Es gibt keinen gemeinsamen Rahmen mehr. Menschen leben in Echokammern, haben vielleicht noch unterschiedliche Meinungen, aber eben auch unterschiedliche Fakten. Misstrauen kann so viel einfacher gestreut werden.

Jede Gesellschaft könne sich unter gewissen Umständen von der Demokratie abwenden, sagt die preisgekrönte Historikerin und Journalistin Anne Applebaum.
Foto: Siggi Bucher
1/7

Was sind die anderen zwei Gründe?
Die Globalisierung. Menschen haben das Gefühl, sie hätten keine Kontrolle mehr über ihr Leben. Ich kann vielleicht wählen, aber meine Regierung kann nicht viel machen. Denn sie selbst wird womöglich durch Entscheide in Washington oder Shanghai beeinflusst. Zudem sind Autokraten weltweit im Aufwind. China, Russland und Iran etwa arbeiten immer enger zusammen und unterminieren Menschenrechte und Demokratie.

In Ihrem neusten Buch schreiben Sie, dass sich jede Gesellschaft von der Demokratie abwenden kann. Das klingt nicht sehr beruhigend.
Ja, aber es war schon immer so! Schon die Autoren der amerikanischen Verfassung haben die Geschichte der Römischen Republik studiert, um zu verstehen, wie eine Gesellschaft untergehen kann. Jeder, der sich schon intensiv mit Demokratie auseinandersetzen musste, weiss, dass sie scheitern kann.

Gibt es denn eine Alternative?
Es gibt sicher Menschen, welche die Idee einer Autokratie gut finden: Eine Person entscheidet, und es gibt keine mühselige Diskussion darüber. Dagegen gibt es aber fast immer demokratischen Widerstand. Menschen, die für Freiheit kämpfen und ihre Rechte einfordern. Das kann nur eine Demokratie gewähren.

Amerikanische Kolumnisten sorgen sich, dass die Demokratie stirbt, wenn Donald Trump 2024 erneut ins Weisse Haus gewählt wird.
Die Angst besteht vor allem darin, dass die Wahl 2024 von Trumps Republikanern gestohlen werden könnte. Das, was sein Team schon nach der letzten Wahl versucht hat. Viele Republikaner versuchen schon jetzt, gewisse Positionen zu ergattern, damit sie in drei Jahren mehr Kontrolle über die Wahl haben. Das wäre das Ende der Demokratie. Und weil die USA noch immer sehr wichtig für die Welt sind, zeigt sich: Dort spielt sich momentan die grösste Krise der Demokratie ab.

Wenn Trump erneut antritt: Wäre er überhaupt zu stoppen?
Er ist sehr beliebt in der republikanischen Basis. Dass er ihr Kandidat für die Wahl wird, ist wahrscheinlich. Aber ob ihn auch eine Mehrheit aller Amerikaner wählen wird, ist fraglich. Bis zur Wahl kann noch viel passieren.

Demokratie hat weltweit einen schweren Stand. Auch wegen Corona. In der Schweiz sorgen sich Menschen, weil die Exekutive zu mächtig geworden ist.
Das wird kein langfristiges Problem sein. Zum Teil haben Corona-Massnahmen sicher dazu geführt, dass mit härterer Hand regiert wird. Etwa in China, aber auch in Ungarn und Indien. Aber im Westen sind die Massnahmen temporär und haben keinen langfristigen Einfluss. Ausser, dass sie Wut und Zwietracht entfacht haben.

Das Wort der Stunde ist denn auch «Spaltung der Gesellschaft».
Es gibt immer laute Stimmen, die das äussern. Aber in den meisten Ländern besteht ein breiter Konsens, keine Spaltung. Nur ist das etwa in den sozialen Netzwerken kaum zu hören. Facebook ist alles andere als neutral: Die Plattform fördert Spaltung und Wut, weil das die User viel eher auf Trab hält.

In der Schweiz sind es aber nicht nur Stimmen im Netz, die vor einer Spaltung warnen. Es sind Demonstranten, teils auch politische Parteien.
Ja, diese Parolen funktionieren in der Schweiz, genauso wie in den USA. Daher ist das kaum überraschend. Das Problem ist nicht, ob sich die Parteien inhaltlich rechts oder links sehen, sondern, ob sie die rechtsstaatliche Ordnung brechen, um an der Macht zu bleiben. Ein früher Hinweis darauf ist etwa, wenn Parteien ganz allein «das Volk» vertreten wollen und alle anderen als Ausländer, Verräter oder Eliten darstellen. In Polen oder Ungarn ist das der Fall. Dort wird die Demokratie zerstört.

In diesem Zusammenhang ist es erstaunlich, dass die Schweiz nie ein offizielles Statement veröffentlicht hat, das sich über den massiven Abbau der Demokratie in Polen besorgt zeigt.
Die Schweiz ist als Nicht-EU-Mitglied nicht direkt von den Entwicklungen in Polen betroffen. Aber ja, die fehlende internationale Soli- darität unter den liberalen Demokratien ist ein grosses Problem. Autokraten arbeiten eng zusammen, und funktionierende Demokratien haben kein klares Rezept dagegen.

Also müssten demokratische Staaten enger zusammenrücken, um sich gegen solche Tendenzen zu wehren?
Ja, aber es gibt keine Strategie. Russland lässt eigene Staatsbürger im Ausland ermorden. Belarus holt ein Flugzeug vom Himmel, um jemanden zu verhaften. Dagegen haben wir keinen langfristigen Plan. Anstatt klar zu kommunizieren, welchen Preis bei einem solchen Regelverstoss zu zahlen wäre, reagieren wir immer nur und sprechen vielleicht Sanktionen aus. Das alles, weil es keine Einigkeit gibt.

Müsste sich hier auch die neutrale Schweiz einbringen?
Die Schweiz ist bekannt dafür, nie etwas zu sagen und sich rauszuhalten. Aber es wäre sicher hilfreich, wenn sie bei krassen Regelbrüchen klarer Stellung beziehen würde. Es liegt in ihrem Interesse, auch im wirtschaftlichen Sinne, wenn im Ausland Rechtsstaatlichkeit vorherrscht. Das geht die Schweiz genauso etwas an wie andere Länder auch.

Hat der Rechtsstaat in Polen, wo Sie mit Ihrer Familie leben, überhaupt noch eine Chance? Oder wird Polen aus der EU austreten?
Die EU ist in Polen extrem beliebt. Die meisten Menschen wollen in der Union bleiben. Aber der Regierung geht es um anderes: Sie will schlicht unbefristet an der Macht bleiben – notfalls auch zum Preis eines EU-Austritts. Sie übernehmen die Gerichte, sodass sie nicht mehr wegen Korruption eingesperrt werden können. Sie müssten aber auch das Wahlsystem kapern, damit sie die nächsten Wahlen gewinnen. Es geht also gar nicht primär um die EU, sondern einzig um den Machterhalt.

Wie kann das Land aus dieser Sackgasse herauskommen?
Ich weiss nicht, wie man das lösen könnte. Die Regierung will eine Autokratie in Europa errichten, und rennt nun gegen die demokratischen Werte der EU an. Wenn sie ihre Sache wirklich durchziehen kann, wird Polen kaum in der EU bleiben können.

Anne Applebaum

Die preisgekrönte US-Amerikanische Historikerin und Journalistin Anne Applebaum (57) hat zahlreiche Bestseller über die Geschichte Osteuropas geschrieben. Sie ist Mitglied im US-Thinktank Council on Foreign Relations und schreibt regelmässig für die Amerikanische Zeitschrift «The Atlantic». Sie lebt ihrem Mann, dem ehemaligen polnischen Aussenminister Radoslaw Sikorski (58), und ihren zwei Söhnen seit 2006 in Polen.

Siggi Bucher

Die preisgekrönte US-Amerikanische Historikerin und Journalistin Anne Applebaum (57) hat zahlreiche Bestseller über die Geschichte Osteuropas geschrieben. Sie ist Mitglied im US-Thinktank Council on Foreign Relations und schreibt regelmässig für die Amerikanische Zeitschrift «The Atlantic». Sie lebt ihrem Mann, dem ehemaligen polnischen Aussenminister Radoslaw Sikorski (58), und ihren zwei Söhnen seit 2006 in Polen.

Mehr
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?