«Zu befürchten, dass Schweizer Technik Zivilisten in der Ukraine tötet»
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Journalistin Marguerite Meyer:«Zu befürchten, dass Schweizer Technik Zivilisten in der Ukraine tötet»

Tödliche Technik aus Thalwil
Putins Drohnen fliegen mit Schweizer Chip

Die Drohne heisst Orlan (Adler). Russland setzt sie – bestückt mit Granaten – im Krieg gegen die Ukraine ein. SonntagsBlick-Recherchen zeigen: Das Herzstück des Fluggeräts ist ein Bauteil aus der Schweiz.
Publiziert: 12.06.2022 um 00:44 Uhr
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Aktualisiert: 07.06.2023 um 17:28 Uhr
Marguerite Meyer und Ariane Lüthi

Ukraine im Mai 2022: Ein russisches Fluggerät schwebt über der Frontlinie. Die Typenbezeichnung lautet Orlan-10 – eigentlich ist es eine Aufklärungs- und Überwachungsdrohne. Die Orlan (russisch für «Adler») späht Ziele aus, die dann von der Artillerie plattgemacht werden. So ebnet sie den Weg für Bombardierungen von ukrainischen Panzern, Munitionsdepots, Autos – und für die Tötung von Zivilpersonen.

Seit kurzem bestückt Putins Armee die Orlan-10 aber auch mit Granaten. Russische Propagandavideos zeigen, wie Soldaten Sprengkörper an ihre Tragflächen montieren, wie die Drohne fliegt, Ziele ins Visier nimmt, die Granaten abfeuert. Die ukrainische Armee hat in den letzten Monaten mehrere Orlan-Drohnen abgeschossen.

Drohne fliegt mit Chip aus Thalwil ZH

SonntagsBlick-Recherchen zeigen nun: Die Drohne fliegt mit Schweizer Beteiligung – zumindest bisher. Zentrales Bauteil ist ein Chip, der aus Thalwil ZH stammt.

Die russische Drohne Orlan-10. Putins Truppen setzten sie im Ukraine-Krieg ein.
Foto: Keystone
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Damien Spleeters arbeitet für die Recherchegruppe Conflict Armament Research, kurz CAR, die auf der ganzen Welt in Kriegsgebieten eingesetzte Waffen untersucht. «Unsere Leute vor Ort zerlegen die Geräte und schauen, woraus sie gebaut sind», erklärt Spleeters.

Die Orlan-10 besteht weitgehend aus sogenannten Off-the-Shelf-Komponenten, gewissermassen vom Regal: Die meisten Einzelteile stammen aus westlichen Ländern. Die Bauteile sind frei im Handel zu erwerben – auch in der Schweiz –, dann aber werden sie zum Kriegsgerät zusammengefügt. Wie in diesem Fall von Russland.

Militärisches Material wird untersucht

Den Beweis erbrachte das Team um Spleeters: Es sammelte und untersuchte militärisches Material in der seit acht Jahren umkämpften Ostukraine. Und zerlegte auch eine Orlan-10, die 2016 gefunden wurde, in ihre Einzelteile. Dann fanden die Rechercheure von CAR heraus, dass die Orlan-10 mithilfe eines GPS-Moduls flog, das die Schweizer Firma U-Blox lieferte.

Die Module gelangten über einen Vertriebspartner in Deutschland über mehrere Stationen nach Russland – wo sie schliesslich in Orlan-10-Drohnen eingebaut wurden.

Bereits seit 2016 mit Schweizer Chip im Einsatz

«Wir wissen mit Sicherheit, dass diese Drohnen, die Russland 2016 benutzte, mit diesem Schweizer GPS-Chip flogen», sagt Spleeters. Theoretisch kann die Orlan-10 heute mit anderen Bestandteilen fliegen, wahrscheinlich scheint es nicht. «So wie die Orlan-10 ursprünglich gebaut wurde, kann sie ohne diese Komponente nicht fliegen», so Spleeters. «Dieser Chip ist ein sehr wichtiges Bauteil.»

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Die Schweizer Firma U-Blox entstand in den 90er-Jahren als Spin-off der ETH. Seither ist das Unternehmen gewachsen und gemäss eigenen Angaben in mehr als 28 Ländern weltweit tätig. Das Unternehmen verurteilt den russischen Überfall auf die Ukraine: «Dieser Chip ist von uns nicht zur militärischen Nutzung gedacht», sagt Sven Etzold, Leiter Business Marketing. «Das Problem: Es ist ein Modul, das variabel eingesetzt werden kann.» Und tatsächlich: Die Firma stellt Navigationschips und -module für alles Mögliche her – unter anderem werden sie laut Etzold bei der Handyortung, für das Auto-Navi oder den automatischen Rasenmäher eingesetzt.

Produkte dürften nicht in Waffen oder Waffensystemen eingesetzt werden

Doch wie kann die Thalwiler Firma verhindern, dass eines ihrer Produkte bei der Tötung von Menschen mithilft? «Wenn eine gewisse Beschleunigung erreicht wird, schaltet das GPS-Modul automatisch ab», sagt Etzold. Dies sei zum Beispiel bei einer Rakete der Fall, die extrem beschleunigen muss. «Bei einer Drohne geht das leider nicht.» Allein an der Geschwindigkeit vermag der Chip nicht zu erkennen, ob das Flugobjekt, das er steuern hilft, militärisch genutzt wird oder nicht.

Für solche Fälle setzt man bei U-Blox auf Verträge mit den Handelspartnern. In den Geschäftsbedingungen ist eindeutig festgehalten: Produkte dürften nicht in Waffen oder Waffensystemen eingesetzt werden. «Trotzdem haben wir 2018 davon erfahren, dass eines der von uns bereits 2012 verkauften GPS-Module in einer militärischen Applikation angewendet wurde», sagt Etzold.

Vertragsbruch bleibt ohne Konsequenzen

Einschneidende Konsequenzen hat ein Bruch dieser Geschäftsbedingungen nicht, ausser dass der entsprechende Handelspartner nicht mehr beliefert wird. Das Problem bei internationalen Handelsketten: Firma A verkauft an Firma B, B verkauft an Firma C, C an D. Das erschwert die Verfolgung eines Teils wie des U-Blox-Chips.«Es ist sehr schwierig zu erkennen, wo etwas am Schluss landet», sagt Etzold.

Das U-Blox-Bauteil ist kein Einzelfall, denn die Schweiz will sich als Innovationsschwerpunkt für Drohnentechnologie etablieren. Doch über Möglichkeiten zu deren militärischer Nutzung hält sie sich in ihrer Kommunikation zurück. So inszeniert die PR-Agentur des Bundes, Präsenz Schweiz, eine Kampagne, die den Einsatz von Schweizer Technologie für gute Zwecke anpreist. «Home of Drones» nennt sich ihre Website. Sie präsentiert eine menschenfreundliche Drohnenschweiz. Tatsächlich steckt Schweizer Technologie und -forschung in Drohnen für Rettungen und Transport. Aber eben auch in Kriegsdrohnen.

Seco hat Kenntnis vom Fall

Beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), das unter anderem für die Schweizer Exportkontrolle verantwortlich ist, kennt man den Fall des Thalwiler GPS-Chips. Das Seco erteilt in Zusammenarbeit mit anderen Bundesstellen die Bewilligung für Ausfuhren. Besonders geregelt sind sogenannte Dual-Use-Güter, also Waren, die für zivile wie militärische Zwecke verwendet werden können. Die Schweiz orientiere sich diesbezüglich an internationalen Güterlisten.

Im spezifischen Fall des GPS-Chips handle es sich nicht um solche Güter, sagt Seco-Mediensprecher Michael Wüthrich. Zum Zeitpunkt des Verkaufs 2012 unterlagen diese also nicht den Einschränkungen. «Viele der in Drohnen verbauten Komponenten sind industrielle Massenprodukte, die nicht von diesen Güterlisten erfasst sind», so Wüthrich. Nicht einmal elektrische Antriebe oder Motoren für Drohnen wie die Orlan-10 gelten als Dual-Use-Produkte.

Firmen haben nicht wissentlich gehandelt

Die Angelegenheit ist verzwickt, meint Drohnen-Ermittler Spleeters. Zwar seien bei der Orlan-10 die einzelnen Bauteile eigentlich für den zivilen Gebrauch vorgesehen. «Aber die fertige Drohne ist ganz klar ein militärisches Produkt.»

Immerhin hält der Bericht des CAR-Teams fest, es gebe keine Hinweise darauf, dass die involvierten Firmen wissentlich militärische Aktionen in der Ukraine unterstützt hätten.

Der Export von Gütern wie dem GPS-Chip nach Russland ist seit den Sanktionen vom 4. März verboten. Auch U-Blox hat nach der Eskalation des Kriegs gemäss eigenen Angaben die Exporte dorthin eingestellt.

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Haben Sie Hinweise zu brisanten Geschichten? Schreiben Sie uns: recherche@ringier.ch

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