US-Astronaut Terry Virts im Interview
«Der beste Kommandant ist etwas faul»

Die Reisen in den Weltraum haben seinen Blick auf die Erde verändert. Der US-Astronaut Terry Virts über die Arbeit mit Russen, die Schweiz aus dem All und was Licht über Wohlstand aussagt.
Publiziert: 02.05.2018 um 19:49 Uhr
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Aktualisiert: 13.07.2020 um 13:39 Uhr
Christian Kolbe

Sie haben über 200 Tage im Weltall verbracht. Haben Sie dabei auch mal ­einen Blick auf die Schweiz erhascht?Terry Virts: Die Schweiz habe ich bereits in meinen ersten Minuten im All gesehen. Die schneebedeckten Gipfel der Alpen leuchten bis ins Weltall. Bei meinem ersten Flug sind wir in der Nacht in Florida gestartet, flogen Richtung Europa in den Sonnenaufgang. Wir waren noch in der Aufstiegsphase, hatten eine Höhe von ungefähr 150 Kilometern ­erreicht, flogen kopfüber – und Mann, das muss man sich mal vorstellen, die Alpen, das ging nur wrumm, wrumm, wrumm, schon hatten wir die ganze ­Alpenkette überquert!

Terry Virts an seinem Lieblingsort im All: Dem Beobachtungsmodul Cupola der Raumstation ISS.
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Das dauert hier unten ­normalerweise länger.

Absolut. Ich habe mehrere Monate in Europa gelebt, aus dieser Zeit weiss ich, dass es Stunden dauern kann, um von einem Tal ins nächste zu gelangen. Und wir sind in wenigen Sekunden über die Alpen gerast. Wir flogen mit einer Geschwindigkeit von acht Kilometern – pro Sekunde!

Sie flogen als Pilot den ­Spaceshuttle Endeavour – was ist der Unterschied zu den ­anderen Astronauten an Bord?

Ich hatte ein Fenster! (lacht) Die armen Kollegen, die sitzen hinten und starren an eine Wand. Es gibt eine wichtige Regel für den Piloten beim Start: Sie dürfen keine beunruhigenden Laute von sich geben, also etwas wie «Ooops» oder «Was war das denn?» sagen.

Und das haben Sie vermasselt?

Ja. Eines der Crewmitglieder ­hatte ein Aufnahmegerät dabei. Ich wollte, dass er das Röhren der Raketentriebwerke beim Start aufnimmt. Für mich ist dieser Sound einfach unglaublich. Beim Start schüttelt und rüttelt ­alles, die Beschleunigung drückt dich in die Sitze. Plötzlich gabs einen­ lauten Knall, und mir rutschte dieses «Was war jetzt das?» raus. Also diese Frage, die ein Pilot nicht stellen sollte, um die Crew nicht zu beunruhigen. Das Aufnahmegerät des Kollegen war aus seiner Sitztasche gefallen und mit einem lauten Knall gegen die Wand gedonnert. Natürlich hat der Voice Recorder alles fein säuberlich aufgezeichnet.

Astronaut Terry Virts ist ein passionierter Weltraum-Fotograf und brachte im Verlag von National Geographic Bildbände raus.

Sie sprechen in der Schweiz vor Managern und Wirtschaftsführern. Welche Botschaft ­bringen Sie aus dem All zurück?

Die Botschaft, die ich für die ­Manager im Gepäck habe, hat mit der weltweiten Verteilung von Wohlstand zu tun. Als Spaceshuttle-Pilot und Astronaut wollte ich das Weltall erkunden, interessierte mich für Raketen und Planeten. Doch am meisten beeindruckt hat mich, wie viel ich oben im All über das Leben unten auf der Erde gelernt habe. Die Verteilung des weltweiten Wohlstands ist aus dem Weltall auf einen Blick zu erken­nen.

Das müssen Sie erklären.

Man sieht aus dem All keine Landesgrenzen. Mit wenigen Ausnahmen. Besonders krass zeigt sich der Wohlstandsunterschied an der Grenze zwischen Nord- und Süd­korea (Bild oben rechts). ­Diese trennt nicht nur zwei Länder, sie trennt auch ein armes Volk von ­einem reichen. Dort, wo es Licht hat, beginnt Südkorea. Der gleissende grosse Fleck, das ist ­Seoul. Auch der Rest des Landes ist hell ­erleuchtet. Der kleine Lichtfleck im Dunkeln, das ist die nordkoreanische Hauptstadt Pjöngjang. Im Norden ist es ausserhalb der Hauptstadt zappenduster.

Das Licht, das ins Weltall strahlt, ist ein Indikator für Wohlstand?

Ja. Die Ost- oder Westküste der Vereinig­ten Staaten, Städte und Länder im Nahen Osten: Da gibt es Orte, die leuchten in der Nacht hell wie Sterne. Ebenso in Europa oder Asien. Schauen Sie mal nach Afrika: Dort lebt über eine Mil­liarde Menschen – und kein einziges Licht ist aus dem All zu erkennen, allenfalls ein müdes Flackern. Es gibt wenige Ausnahmen: entlang des Nils, ­Städte in Nigeria oder auch Johannesburg. Doch dazwi­schen: nichts – obwohl so viele Menschen dort leben. Das war ein Schock für mich.

Was hat diese Erkenntnis bei Ihnen ausgelöst?

Es drängen sich zwei Fragen auf: Warum ist das so? Was können wir dagegen tun? Das sind simple Fragen, auf die es leider keine einfachen Antworten gibt. Das ist ein grosses Problem, das wir anpacken müssen. Auch wenn ich keine ­Lösung dafür habe – was ich tun kann, ist, mit meinen Bildern und Einsichten darauf aufmerksam zu machen.

Die Grenze zwischen Nord- uns Südkorea ist aus dem All offensichtlich.
Foto: REUTERS

Welche Führungserfahrungen ­haben Sie als Kommandant der internationalen Raumstation ISS gemacht?

Am meisten beeindruckt hat mich, wie reibungslos die internationale Zusammenarbeit klappt, egal, was auf der Erde passiert. Ich war vom November 2014 bis Juni 2015 auf der ISS, ab März 2015 als Kommandant. Das war kurz nach der Krim-Krise, in dieser Zeit gab es in der ­Ukraine immer wieder Kämpfe. Wir haben oft gesehen, wie Bomben explodiert sind, die roten Blitze waren gut zu erkennen. Die Spannungen zwischen den USA und Russland waren sehr gross. Und ich war da oben mit einer mehrheitlich russischen Crew. Doch wir haben einfach unseren Job gemacht.

Die Krim-Krise und der ­Ukraine-Konflikt haben die ­Zusammenarbeit mit den Russen nie beeinflusst?

Nur ganz am Anfang, als ich mich 2014 auf meinen Flug mit der Sojus-­Kapsel vorbereitet habe. Der stellvertretende russische Aussenminister war sauer wegen der ­Sanktionen gegen Russland, er twitterte, die Amerikaner könnten ein Trampolin benutzen, um zur ISS zu fliegen. Er war sozusagen der Erfinder des Konzepts «Aussenpolitik by Twitter».

Sie sind trotzdem gemeinsam in den Weltall geflogen.

Die Russen änderten schnell wieder ihre Meinung, wir Amerikaner bezahlen für diese Plätze sehr viel Geld. Ohne dieses Geld liesse sich das russische Raumfahrtprogramm gar nicht mehr betreiben. Aber es ist ein guter Deal für beide Seiten: Ein Platz im Sojus-Raumschiff ­kostet rund 70 Millionen Dollar. Dafür gibt es Training, den Flug, sechs Monate Aufenthalt im Weltall, komplette Überwachung der Mission und sichere Landung in ­Kasachstan – und das für vier Amerikaner jedes Jahr. Bemannte Raumfahrt für weniger als 300 Millionen Dollar im Jahr, das kriegen sie nirgendwo günstiger.

Virts verbrachte viel Zeit mit russischen Kosmonauten auf der Raumstation ISS: «Politik ist Politik. Oben im Weltall haben sie andere Probleme. Das grösste: Sie müssen überleben".
Foto: Blick

Sie lebten auf engstem Raum ­zusammen. Gab das nie ­Konflikte?

Wir haben uns gesagt: Politik ist ­Politik. Oben im Weltall haben Sie andere Probleme. Das grösste: Sie müssen überleben. Das klingt nach einer einfachen Aufgabe, ist es aber überhaupt nicht. Auf der anderen Seite der dünnen Metallhaut der Raumstation lauert der sofortige Tod. Was unten auf der Erde passiert, geht uns nichts an.

Wie schafften Sie es, dass die Russen Sie akzeptierten?

Ich habe Russisch gelernt und mich darum bemüht, Zeit mit ihnen zu verbringen. Das hat sich ausgezahlt, unsere Crew hat sehr gut harmoniert. Mit den Russen rumzuhängen, das war meine Lieblingsbeschäftigung auf der ISS. Tagsüber geht jeder seinen eigenen Aufgaben nach, es war durchaus möglich, sich den ganzen Tag nicht zu sehen. Die ISS ist gar nicht so klein, es hat wahrscheinlich mehr Platz als in einem Jumbojet.

Wie schwierig ist es, ein Team von hochspezialisierten Astronauten bzw. Kosmonauten zu führen?

Unter meinem Kommando arbeitete Gennadi Padalka, der mit insgesamt 879 Tagen so lange im Weltall war wie kein anderer Mensch. Gab es ein Problem, habe ich mich zurückgehalten und meine Leute das lösen lassen. Die Leute entscheiden selbständig, was sie zu tun und lassen haben. Führungsqualität liegt darin, die Führung an die Situa­tion und die Ihnen zur Ver­fügung stehenden Leute anpassen zu können. Der beste Kommandant ist etwas faul! Er muss nicht alles selbst ­machen, tut er das, nervt er alle. Wenn Sie Ihren Leuten vertrauen und diese erfahren genug sind, können Sie sich als Kom­mandant zurücklehnen und die ­anderen die Arbeit machen lassen. Erst wenn etwas schiefläuft, muss der Kommandant hinstehen und Verant­wortung übernehmen. Die Lorbeeren allerdings dürfen die Mitarbeiter ernten.

US-Astronaut Terry Virts mit SonntagsBlick Journalist Christian Kolbe (rechts).
Foto: Blick

Hier auf der Erde läuft das oft umgekehrt. Lassen sich die Erfahrungen aus dem All auf einen Konzernchef einer ­beliebigen Firma übertragen?

Solange ein CEO Leute hat, denen er vertrauen kann, warum nicht? Stör die Leute nicht bei der Arbeit, das macht sie nur sauer. Arbeite mit ihnen zusammen, und kümmere dich um sie, du willst ja nicht nur Däumchen drehen. Wer es an die Spitze geschafft hat, hat hoffentlich auch gute Mitarbeiter, er hat diese ja ausgebildet und aufgebaut. Es kommt auf allen Hierarchie­stufen auf die Erfahrung an. Wer genau weiss, was er tut, den soll man gewähren lassen. Und sich ­darauf beschränken, mittels schlauer Inputs die Leistung zu ­verbessern. Wenn Leute mit Ideen kommen, soll man das ernst nehmen. Ein ­guter Manager ist offen für neue Ideen – egal, von wem sie stammen.

Sie haben sich den klassischen Kindertraum erfüllt und sind zu den Sternen geflogen. Wie haben Sie das geschafft?

Ich habe mir immer ehrgeizige ­Ziele gesetzt. Ziele, die auf den ­ersten Blick verrückt sein mögen, die aber irgendwie nicht völlig unerreich­bar schienen. In meinem Kinderzimmer hingen tatsächlich Poster von Flugzeugen und fremden Planeten. Der Vorteil der ­Kinder: Sie lassen sich nicht davon abhalten, dass etwas unerreichbar sein könnte. Schon als kleiner ­Junge habe ich eine wichtige Lek­tion gelernt: Sag nicht von Anfang an Nein, denn so verbaust du dir viele Chancen.

Klingt einfach.

Es war ein weiter Weg. Erst habe ich eine technische Ausbildung gemacht, dann eine als Pilot. Am Ende war ich zwar F-16-Testpilot, hatte aber keinen akademischen Abschluss. Also habe ich mich für die Nasa-Akademie angemeldet. Ohne grosse Hoffnungen, aufgenommen zu werden. Ich dachte, die anderen Kandidaten sind sicher cleverer als ich.

Aber sie waren es nicht.

Nein. Ein Ziel muss eine Herausforderung sein, aber noch im Bereich des Möglichen liegen. Wer von ­Anfang an US-Präsident, Multimilliardär werden oder eine Lösung für den Nahost-Konflikt finden will, wird in den allermeisten ­Fällen frustriert scheitern. Aber Astronaut – das geht.

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