Schiri-Quartett öffnet seine Garderoben-Türe vor einem Playoff-Viertelfinal
Einblick in die Welt der Schiedsrichter

Sie können es nie allen recht machen. Doch Schiris sehen übers Auspfeifen hinweg, weil ihr Hockey-Herz stärker ist. «Wir bekommen ein Live-Feedback zu unseren Leistungen», sagt Ref Daniel Stricker. «Dabei muss sich niemand sorgen, dass wir unsere Fehler nicht kennen.»
Publiziert: 23.03.2024 um 16:55 Uhr
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Aktualisiert: 23.03.2024 um 17:26 Uhr

Sie sind die Buhmänner, aber kaum je die Helden. Sie müssen mit Pfeifkonzerten und Beleidigungen umgehen, werden mit Getränken überschüttet oder mit Gegenständen beworfen. Zuschauer und Fans haben Vorurteile und wissen sowieso immer alles besser als sie, die Schiedsrichter.

Diese Leute sehen aber nicht den Menschen hinter dem Ref – ob Profi oder Amateur –, der dies alles verkraftet und mit zunehmender Erfahrung auch den in den Playoffs grösseren Druck wegstecken kann, weil ihn ein grosses Hockey-Herz antreibt. Sie sehen nicht, dass der Schiri selbst am meisten leidet und hadert nach einem fragwürdigen oder sogar falschen Entscheid. Und dass ihn dieser manchmal noch tagelang verfolgt, weil er sich mehrmals erklären muss.

Die beiden Head-Schiedsrichter Daniel Stricker (48) und Pascal Hungerbühler (38) gewähren vor einem Playoff-Viertelfinal-Spiel zwischen Biel und Zürich Einblicke in ihre Welt, die so viel komplexer ist als oberflächliche Stimmungsmacher erahnen würden. Stricker ist in seiner 28. Saison als Head-Ref, derzeit in einem 50-prozentigen Profi-Pensum. Dazu arbeitet er in der Privatwirtschaft.

Nehmen dich mit in ihre Welt: die Schiedsrichter Daniel Stricker, Stany Gnemmi, Eric Cattaneo und Pascal Hungerbuehler (v.l.).
Foto: Sven Thomann
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Die Head-Schiedsrichter Daniel Stricker (r.) und Pascal Hungerbühler (M.) sowie Linesman Eric Cattaneo (l.) treffen sich vier Stunden vor dem Spiel in einem Restaurant und analysieren Szenen aus einem anderen Duell der Serie zwischen Zürich und Biel.
Foto: Sven Thomann
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Hungerbühler ist Amateur, in seiner fünften NL-Saison und zu 100 Prozent als Chef-Jurist in der IT-Branche tätig. Das Duo wird am Abend, als Blick es besucht, von den Linesmen Eric Cattaneo (28) und Stany Gnemmi (42) begleitet. Das Quartett öffnet für Blick sogar die Garderobentüren. Doch der Matchtag beginnt für die Offiziellen schon viel früher.

4 Stunden vor dem ersten Bully

Als sich Stricker, Hungerbühler und Cattaneo in einem Restaurant treffen, sind es noch vier Stunden bis zum ersten Bully. Stricker hat sich zwei Tage zuvor das erste Spiel der Serie live im Stadion angeschaut, so beginnt seine Vorbereitung für diesen Einsatz. «Ich habe mit den Refs von jenem Spiel geredet und mit ihnen einige Szenen besprochen», erzählt Hungerbühler.

Beide möchten wissen, wie die Stimmung oder wie respektvoll das Verhalten gewesen ist. Ob es anständige Gespräche mit den Spielern und Trainern gegeben hat. «Wir verschaffen uns einen Gesamtüberblick, nicht nur den sportlichen», so Stricker. Bevor sie weiterfahren, schauen sie sich gemeinsam noch gewisse Spielszenen und Strafen – ausgesprochene oder verpasste – an.

Allein gegen McSorley

Auch die Schiedsrichter spüren den Unterschied zwischen Playoffs und Regular Season. In Strickers Anfängen als Head in den NL-Playoffs werden die Partien noch im Drei-Mann-System geleitet. «Damals musste ich alleine mit dem tobenden Ex-Servette-Trainer Chris McSorley klarkommen.» Seit der Saison 2008/09 wird im Vier-Mann-System gepfiffen. Die Offiziellen sind während der Spiele per Funk miteinander verbunden. Die Headschiedsrichter können miteinander sowie mit den Linesmen kommunizieren.

Soundcheck

Die Akkus der Funkgeräte und Mikros stecken im Ladegerät, später gibts einen Soundcheck. Die Refs sind in der Garderobe in Biel angekommen. Gnemmi, der aus einer anderen Region der Schweiz angereist ist, ist eingetroffen. Noch sind es zwei Stunden bis zum Spiel. Die Stimmung ist gut, jeder hat seine eigenen Rituale und Abfolgen der Vorbereitung. Das Fussballspielen zum Aufwärmen 60 Minuten vor dem Match ist ein gemeinsames.

Zurück in der Kabine spürt man, wie sich die Atmosphäre verändert, je näher das Spiel rückt. Es ist ein kleiner, separater Kosmos nur wenige Meter neben dem Eis, auf dem in wenigen Minuten ein Viertelfinal-Kracher vor vollen Rängen steigt. Der Fokus ist geschärft, Stricker spricht ein paar einstimmende Worte – und raus gehts. Im Wissen, dass man nie mit Applaus empfangen wird, sondern viel wahrscheinlicher mit Pfiffen. Und im Wissen, dass man es nie allen recht machen kann. Oftmals auch nicht sich selbst.

In den Playoffs wird genauer hingeschaut

Amateur-Ref Hungerbühler beschreibt den Moment als «Playoff-Kribbeln». «Es ist auch für uns ein wichtiges Spiel. Es wird genauer hingeschaut.» Beim erfahreneren Stricker ist es eine gewisse Angespanntheit, weil man nie weiss, was für ein Spiel einen erwartet. «Mittlerweile kann ich mich aber gut fokussieren und mich von äusseren Einflüssen abschotten.» Das ist hilfreich. «Denn bei unserer Arbeit bekommen wir ungefiltert und umgehend ein Live-Feedback von Tausenden von Zuschauern.»

Von Zuschauern, deren Repertoire an gängigen Vorurteilen meist ein umfassendes ist. Dass die Schiris ihre Macht ausspielen wollen, weil sie zu Hause nichts zu sagen haben. Dass sie Kompensationsstrafen aussprechen, wenn sie eine verpasst oder eine zu harte ausgesprochen haben. Dass jeder seine Lieblingsmannschaft hat. Dass sie das Spiel beeinflussen wollen. Wobei: Einfluss nehmen, das tun sie tatsächlich – aber anders als die meisten Leute befürchten, denken und vor allem sehen.

Denn was sich zwischen ihren Entscheiden abspielt, ist das wirklich Spannende und Interessante. Und kann Duelle prägen, im positiven Sinn, notabene. Die Refs spüren die Schwingungen auf dem Eis, wie die Spieler und Trainer drauf sind, in welche (emotionale) Richtung sich die Partie entwickeln könnte. Und nein, sie reiben sich nicht voller Vorfreude die Hände, um möglichst viele Strafen aussprechen zu können. Im Gegenteil.

Präventive Kommunikation mit Spielern

Sie nehmen Spieler beiseite, erklären ihnen präventiv mit ihren Aktionen, dass sie sich auf einen Grenzbereich zubewegen. Sie versuchen auch die Coaches darauf aufmerksam zu machen, was gerade auf dem Eis passiert. Sie massregeln sie verbal. Alles mit dem Ziel, dem Spiel-Geschehen ohne zu viele Unterbrechungen seinen Lauf zu lassen. «Wir sind auch Kommunikatoren», so Stricker, der einer der Intensiven im Austausch ist. «Wir leiten das Spiel nicht nur, sondern unterstützen es», beschreibt Hungerbühler. Oder: Sie entschuldigen sich auch mal für einen zu harten Entscheid. Das können sie, weil sie die Pausen dazu nutzen, sich ihre Calls anzuschauen.

Pausen am Laptop

Zurück in der Kabine. Ein spezielles Bild: Stricker, Hungerbühler, Cattaneo und Gnemmi klappen alle ihre Laptops auf, suchen gewisse Szenen raus und besprechen sich. Supervisor Sascha Kunz stösst jeweils dazu und gibt Feedback. Sie befassen sich intensiv mit den Dritteln.

Warum tut er sich das an?

Ihre offene Kommunikation mit den Spielern und Trainern führt während der Partien (meist) zu Verständnis, Akzeptanz und Respekt. Deren Reaktionen und Feedback sind es, die für die Schiedsrichter ausschlaggebend sind und ihnen eine fachkundige Einschätzung ihrer Leistung liefern. Nicht jene der Fans. «Das Auspfeifen nehme ich nicht mehr so wahr», sagt Hungerbühler. «Es ist kein qualifiziertes Feedback. Sondern einfach ein Spiegelbild unserer Sport-Gesellschaft, in der Beschimpfungen leider zur Normalität gehören.» Von Shitstorms in sozialen Medien ist er bisher verschont geblieben. Am meisten Mühe hat er mit Kritik nach Entscheiden, die regeltechnisch richtig gewesen sind.

Oft wird der Jurist in seinem Umfeld gefragt, warum er sich das antut, regelmässig ausgebuht oder nach Stürzen ausgelacht zu werden. Seine Antwort? «Meine Leidenschaft fürs Hockey. Ich bin ambitioniert, will richtige Entscheide fällen, mich verbessern. Wir alle wollen der Perfektion nahekommen. Teil dieser Hockey-Spitze sein zu können, ist ein Privileg.» Der Weg aus den unteren Ligen bis hierhin sei unglaublich hart gewesen.

In Strickers Anfängen waren die Voraussetzungen – vor allem in (kamera-)technischer Hinsicht – oder auch die Infrastrukturen und Sicherheitsvorkehrungen noch ganz andere. Er hat schon in einer Garderobe ausgeharrt, weil aufgebrachte Anhänger vor dem Stadion warteten. Er sah Kollegen weinen. Hatte bei Fan-Ausschreitungen Angst, nicht heil nach Hause zu kommen. «Ältere Kollegen bekamen damals Drohungen, mussten nächtlichen Telefonterror erdulden oder die Kinder wurden auf dem Schulweg abgepasst, schlimm.» Würde er heutzutage Murmeln an den Kopf geworfen bekommen – wie schon passiert –, die Kameraüberwachung in den Stadien ist so formidabel, dass der Täter rasch identifiziert würde.

Analysen nach dem Duell

Das zweite Viertelfinal-Duell zwischen Biel und Zürich verläuft verhältnismässig ruhig für die Refs. Sie klatschen sich ab in der Garderobe. Es folgen intensive Gespräche und detaillierte Analysen. Erneut mit Supervisor Kunz, neu auch mit Officiating Manager und Ex-Verteidiger Philipp Rytz. Hungerbühler brütet über einen Entscheid nach, der ihm nicht aus dem Kopf geht.

Schiris kennen ihre eigenen Fehler

«Es muss sich niemand Sorgen machen, dass wir unsere Fehler nicht selbst kennen», betont Stricker, der die Anzahl manchmal ins Verhältnis zu jener setzt, die ein Spieler während eines Matches macht. Die eigenen Erwartungen, dass man es keinesfalls vermassle, seien auch nach so vielen Jahren so hoch, «ich erfülle sie kaum je». Aber die Erfahrung helfe, Fehler besser einzuordnen – je nach deren Konsequenz fürs Spiel. Und ja, «in den Playoffs ist der Druck nochmals grösser».

Zeit für den Heimweg

Das Schiri-Quartett bleibt danach noch länger sitzen, isst etwas. Als es über eine Stunde nach der Sirene die Kabine verlässt, wartet ein Sicherheitsmann und begleitet alle zu den Autos.

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