Crashes, Pleiten, Pech und Träume
Der grosse Rückblick zur Formel-1-Saison

Die 74. Formel-1-Saison ist vorbei. Der Überflieger Max Verstappen war oft ein Spannungs-Killer. Aber der Zirkus lebt nicht nur von den Siegern. Blick-Legende Roger Benoit schaut, wie seit 1970, kritisch hinter die Kulissen.
Publiziert: 27.11.2023 um 14:53 Uhr
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Aktualisiert: 27.11.2023 um 20:33 Uhr
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Roger BenoitFormel-1-Experte

Der Ärger des Jahres

Track Limits – Man könnte es auch das Unwort des Jahres nennen. Allein in Spielberg wurden über Tausend Verdachtsfälle von Überschreitungen der Streckenbegrenzung gemeldet. Über 150 schnellste Runden wurden aberkannt – und das ganze Jahr dadurch viele Startaufstellungen verfälscht. In Doha fuhr Zhou als 12. über die Ziellinie und war sofort auf Platz 9 mit zwei Punkten gelandet. Denn Pérez, Stroll und Gasly wurden je 5 Sekunden addiert. Track-Limits-Strafe.

Absage des Jahres

Imola – Die Regio Emilia rund um die Rennstrecke war nach tagelangen Regenfällen überschwemmt. Der hinter dem Fahrerlager gelegene Fluss Santerno trat über die Ufer und machte eine Veranstaltung unmöglich. Obwohl bereits die halbe Formel 1 vor Ort war. Am Mittwoch kam die Absage. Polizei, Streckenposten wurden zur Rettung eingeschlossener Bewohner gebraucht. Berühmte Absagen: Spa 1985, weil die Hitze den Asphalt aufbrach. Bahrain 2011 wegen politischer Unruhen.

Formel-1-Star schaufelt Schlamm und Dreck weg
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Nach Überschwemmungen in Imola:Formel-1-Star schaufelt Schlamm und Dreck weg

Unsinn des Jahres

Felipe Massa – Der Brasilianer versuchte, für sich den WM-Titel 2008 einzuklagen. Diesen hatte er im Finale von São Paulo in der vorletzten Kurve an Hamilton (überholte Glock und wurde Fünfter) verloren. Aber darum ging es nicht. Massa wollte das Resultat des GP Singapur aus der Wertung nehmen. Ecclestone hatte mit Verspätung offiziell durchgegeben, dass der GP damals von Renault (Piquet-Crash, gelbe Flaggen, Alonso-Sieg) getürkt war. Massa schaltete Anwälte ein – und scheiterte kläglich.

Der Ärger des Jahres: Track Limits. Über 150 schnellste Runden wurden aberkannt – und das ganze Jahr dadurch viele Startaufstellungen verfälscht.
Foto: Lukas Gorys
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Abschied des Jahres

Franz Tost – Kein Teamchef lebte so für die Formel 1 wie der Tiroler: «Es gibt keine freien Tage, Urlaub ist Luxus». 2006 startete er mit Toro Rosso. Ein Jahr zuvor war das A-Team von Red Bull in die Formel 1 eingestiegen – mit Christian Horner (50) als Chef. Tost begleitete 17 Fahrer von Vettel (der 2008 in Monza siegte), Verstappen, Sainz und Ricciardo nach oben. Auch der Schweizer Buemi ging durch seine Schule. Tost wird durch den Vorarlberger Peter Bayer ersetzt.

Crash-Festival des Jahres

Melbourne – Die Trainings waren noch harmlos. Aber im Rennen war der Teufel los: Drei rote Flaggen, drei Neustarts. Zunächst verlor Albon in Runde 8 im Williams die Kontrolle – und flog in die Mauer. Dann ein Unfall von Magnussen im Haas in Runde 52 – wieder Rot und dann ein stehender Neustart in der vorletzten Runde. Dabei krachte Sainz von hinten in Alonso. Dahinter kollidierten die beiden Alpine sowie de Vries und Sargeant. Safety Car für die letzte Runde!

Sainz dreht Alonso, vier Autos crashen
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2. Neustart sorgt für Chaos:Sainz dreht Alonso, vier Autos crashen

Zoff des Jahres

Andretti-Einstieg – Die FIA startete im Januar eine Ausschreibung für ein elftes GP-Team. Von sieben Bewerbern blieb am Ende der Andretti-Cadillac übrig. Doch das Formel-1-Management und vor allem die Teams sind gegen den Einstieg, weil man den Milliarden-Kuchen nicht durch elf teilen will. Andretti wollte die Eintrittsgebühr von 200 Millionen Dollar bezahlen, 2026 steigt die Summe auf 600 Millionen. General Motors macht Druck – und liess sich als Motorenlieferant ab 2028 einschreiben.

Sprachrohr des Jahres

Mercedes – Sie sind oft das Papier nicht wert, auf dem sie ausgedruckt werden. Die offiziellen Pressemitteilungen. Vor, während und nach dem Rennen. Die löbliche Ausnahme: Mercedes. Da wird von Chef Toto Wolff und beiden Fahrern jeweils Klartext gesprochen, Fehler eingestanden usw. Hier sucht man vergeblich nach Schönredereien: Dafür gehört Mercedes die Medien-Krone.

Rauswurf des Jahres

Otmar Szafenauer – Vor der Sommerpause musste der US-Rumäne Otmar Szafenauer bei Alpine gehen. Eine verspätete Reaktion auf den Verlust von Alonso (zu Aston Martin) und Piastri (McLaren). Auch der Sportdirektor Permane und Cheftechniker Fry mussten gehen. Bereits vorher hatten sich die Franzosen von CEO Laurent Rossi getrennt. Der neue «starke» Mann heisst Bruno Famin, den eigentlich keiner richtig kennt. Alpine endete einsam auf dem 6. WM-Platz. Szafenauer hat bis April 2024 Arbeitsverbot.

Transfer des Jahres

Fehlanzeige – Die meisten Teams lassen die Talente wie die F2-Meister Drugovich oder Pourchaire links liegen, vertrauen auf das alte Personal. 2024 geht der ganze Zirkus mit den gleichen Artisten auf die Reise. Nur bei Alpha Tauri (bald mit neuem Namen) gabs während der Saison einen Wechsel. De Vries wurde entlassen, Ricciardo aus der Mottenkiste geholt. Und weil er sich in Holland die Hand brach, ersetzte ihn fünf Rennen Lawson. Das wars. Und Schumi Junior? Nach einem Jahr Pause verschwindet er in die Langstrecken-WM.

Stress des Jahres

Triple Header – Drei Rennen an drei aufeinanderfolgenden Wochenenden. Ein logistischer und stressiger Wahnsinn. Der erste Triple Header wurde durch die Imola-Absage verhindert. Der zweite forderte alle: Von Austin (Texas) flogen mehr als 2500 Personen nach Mexico City und von dort gleich weiter nach São Paulo. Und das Finale? Nach Las Vegas gings direkt 13'500 Kilometer nach Abu Dhabi. Klar, dass die Teams immer mehr Personal verlieren und die Mannschaften rotieren. 2024 zwei Triple Header zum Abschluss – mit einer Woche Pause.

Vergleich des Jahres

Binotto/Vasseur – Auch die Italiener sind sich nicht einig: War der Rauswurf von Mattia Binotto Ende 2022 gerechtfertigt? Nun, sein Nachfolger Fred Vasseur konnte die grossen Hoffnungen (noch) nicht erfüllen. Binotto ging als WM-Zweiter mit 554 Punkten und vier Siegen. Vasseur wurde WM-Dritter, holte 406 Punkte und siegte nur einmal (Sainz in Singapur). Der Vergleich bei jeweils 22 Rennen hinkt nur bei den Sprints. Da standen diesmal sogar drei mehr auf dem Programm.

Aufsteiger des Jahres

McLaren-Mercedes – Nach dem Abgang von Andreas Seidl (jetzt CEO bei Sauber) starteten das Papaya-farbene Team mit nur 17 Punkten aus den ersten acht Rennen. Es hagelte Kritik. Denn mit Norris und dem neuen Star Piastri hatte das Team um den früheren Ferrari-Ingenieur von Alonso, Andrea Stella, vielleicht die beste Fahrerpaarung. Ein grosses Update für Spielberg brachte mit dem MCL60 die Wende. Piastri gewann den Sprint in Katar, Norris holte sieben Podestplätze. Das Team Platz 4.

McLaren stellt neuen Boxenstopp-Weltrekord auf
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Beim GP von Katar:McLaren stellt neuen Boxenstopp-Weltrekord auf

Absturz des Jahres

Alfa-Sauber – Man kann es drehen und wenden, wie man will. 2023 war keine gute Saison für das Hinwiler Team mit der Alfa-Werbe-Mogelpackung. Der Rauswurf von Technik-Chef Monchaux zeigte, dass man das wohl grösste Übel erkannt hat – das Auto. Und von den Fahrern kam deshalb auch kein Exploit. Also stürzte man drei WM-Ränge ab – so viel wie kein anderes Team. Der vorletzte Platz (vier Punkte vor Haas-Ferrari) ist logisch, wenn man 16 Mal in 22 Rennen nicht punktet. Jetzt erwartet man, dass sich Audi endlich zum Projekt 2026 äussert.

Auto des Jahres

Red Bull RB 19 – Wenn man den aktuell besten Fahrer, Max Verstappen, in den erneuten Geniestreich von Star-Designer Adrian Newey (64) setzt, kann die Konkurrenz zusammenpacken. Dann ist – wie 2022 – bald einmal Feierabend mit Titelträumen. Fast zum Glück funktionierte das Auto mit der Honda-Power in den Strassen von Singapur nicht perfekt – und so verpasste man alle Saisonsiege. Verstappen stellte mit 19 Erfolgen (und vier Sprintsiegen) und 1003 Führungsrunden zwei Rekordmarken auf, die wohl lange halten werden. Und für Newey geht die Show weiter: Über 200 GP-Triumphe und 13 Fahrer-Titel mit Williams, McLaren und Red Bull.

Verstappen singt im Teamfunk munter drauflos
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F1-Star macht auf Tom Jones:Verstappen singt im Teamfunk munter drauflos

Frage des Jahres

Wer ist der Beste? – Die Frage nach dem Grössten aller Zeiten ist fast so alt wie die fünf WM-Titel von Juan Manuel Fangio (1951 und 1954 bis 1957). Allein die zweijährige Dominanz von Max Verstappen mit 34 Siegen hat den Holländer bei vielen Fans in die Pole-Position gebracht. Aber diese Frage wird zum Glück die Formel 1 überleben. Also auf zur Diskussion: Waren doch Hamilton, Schumacher, Clark, Stewart, Prost oder eben Senna besser?

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Die Sieglosen des Jahres

Mercedes – Noch selten hat das Team der Silberpfeile so gelitten wie beim Vizetitel 2023. Der W14 benahm sich wie ein störrischer Esel – und noch schlimmer: Einmal war Hamilton (immerhin sechs Podestplätze) mit der Abstimmung zufrieden, das andere Mal nur Russell. Man irrte mit der Entwicklung herum. Seit dem weiter umstrittenen WM-Finale am 12. Dezember 2021 in Abu Dhabi zwischen Verstappen und Hamilton hat Mercedes nur noch ein Rennen gewonnen – 2022 in Brasilien (Russell). Chef Wolff: «Wir kommen verstärkt zurück!»

Voraussage des Jahres

Was wird 2024? – Technisch soll sich kaum was ändern. Also, was können wir erwarten? Vorne könnte es einen Team-Vierkampf geben, denn McLaren hat an die grosse Türe angeklopft. Doch Red Bull bleibt klarer Favorit und Ferrari wird wohl auch nach 17 Jahren nicht Weltmeister. Hinten kann sich erneut keines der vier letzten Teams ins Mittelfeld (Alpine, Aston Martin) absetzen. Sauber, oder wie das neue Team auch heissen mag, wäre mit WM-Rang acht sicher gut bedient.

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