Der Walliser Peter Bodenmann über den neuen Walliser Fifa-Boss
Infantino und die schwach belichteten Stotterer

Walliser löst Walliser ab. Walliser Peter Bodenmann schreibt für SonntagsBLICK über Blatter-Nachfolger Gianni Infantino.
Publiziert: 28.02.2016 um 18:14 Uhr
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Aktualisiert: 08.10.2018 um 23:30 Uhr
Nerven wie Drahtseile: Neo-Fifa-Präsident Gianni Infantino.
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Peter Bodenmann

Der Simplontunnel war lange Zeit der längste Eisenbahntunnel der Welt. Der erste Basistunnel der Alpen. Ein Meisterwerk der Technik. Hier kamen zum ersten Mal die mit Wasserdruck betriebenen Bohrer des genialen Ingenieurs Alfred Brandt zum Einsatz.

Die Arbeitsbedingungen im Tunnel waren – trotz aller Innovationen – brutal, hart und schlecht bezahlt. Im Tunnel arbeitet als einer der wenigen Oberwalliser der junge Karl Dellberg als «boccia», als Handlanger. In der Sprache der Oberwalliser sind Buben bis heute Botsche.

Die Hauptarbeit im Tunnel leisteten die italienischen Mineure. Im Gegensatz zu den Oberwallisern war ihnen diese Arbeit vertraut. Sie wohnten – der Fremdenhass der Einheimischen hatte und hat seine eigene Sprache – im Natischer «Negerdorf». Es heisst noch heute so.

Geschichte prägt Menschen. Polizei, Bürgerwehr und Armee schlugen die für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen streikenden italienischen Arbeiter nieder. Karl Dellberg – der spätere sozialistische Löwe von Siders – wurde politisiert. Brig zur Wiege der Walliser Sozialdemokratie.

Saisonniers waren damals die Sklaven der Schweizer Unternehmen. Sie durften während fünf Jahren den Arbeitgeber nicht wechseln. Die Grenzsanität kontrollierte die jährlich zurückkehrenden Einwanderer auf dem Perron 1 des Briger Bahnhofes wie Vieh. Viele Fotos aus Brig und aus dieser Zeit sind Bestandteil der bebilderten Schweizer Arbeitergeschichte.

Zu Beginn der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts wanderte die Familie Infantino von Kalabrien nach Brig aus. Kalabresen sind für die Piemontesen und Lombarden – freundlich umschrieben – italienische Bürger zweiter Klasse.

Im Bahnfof von Brig führten Infantinos Eltern den Kiosk auf Perron 1.

1970 wurde Gianni Infantino in Brig geboren. 1970 lehnten die Schweizer Männer – die Frauen hatten in der ach so demokratischen Schweiz, in dieser Wiege der Demokratie, noch kein Stimmrecht – die Schwarzenbach-Initiative arschknapp ab.

Sekretär von James Schwarzenbach war der noch immer aktive SVP-Politiker Ulrich Schlüer. Hätten Schwarzenbach und Schlüer gewonnen, hätten die Infantinos und weitere 400'000 Italiener, Portugiesen und Spanier ihre Koffer packen müssen. Die Schweiz hätte keinen Fifa-Präsidenten, keinen halben Fifa-Präsidenten. Denn Infantino und seine Familie sind stolz auf ihre doppelte Herkunft. Auf diesen unvergleichlichen Mix zweier Kulturen.

Immer wieder betont Infantino, wie diese zwei unterschiedlichen Kulturen ihn geprägt und gestärkt haben. Dank des Doppelbürgers Infantino dürfen sich sowohl die Schweiz wie Italien freuen.

Kein Zufall, dass unsere Fremdenfeinde von der SVP die doppelte Staatsbürgerschaft verbieten wollen. Ein glücklicher Zufall, dass am Wochenende der Wahl Infantinos die Schweizerinnen und Schweizer die fremdenfeindliche Durchsetzungs-Initiative höher verwerfen als seinerzeit die Schwarzenbach-Initiative. Hoffentlich.

Kehren wir zurück auf das Perron 1 des Briger Bahnhofs. Während die Züge aus Basel und Lausanne neu zusammengestellt wurden, verkaufte Papa Infantino, unterstützt von seinen drei Kindern, den Reisenden alles, was sie brauchten. Papa und Mama Infantino – die keine Liebe zur deutschen Sprache entwickelten – führten danach zusammen den Kiosk auf dem Perron 1. Weil Integration in erster Linie über Arbeit, molto Arbeit erfolgt.

Gianni Infantino war ein unbegabter Fussballverrückter mit zwei linken Beinen. Früh begriff er, wie Fussball funktioniert. Sein italienischer Fussballverein Folgore wurde die 3. Mannschaft des FC Brig. Und holte sich dank Scout Infantino gute Spieler aus dem nahen Domodossola. Viele Oberwalliser Tschutter hatten wenig Freude an dieser reinen «Tschingger Mannschaft».

Ohne Nebenverdienst hätte Gianni Infantino nicht studieren können. Deshalb arbeitete er nebenbei als Nachtwagenschaffner. Schlafwagen sind durch die Nacht ratternde Laboratorien des Menschlichen. Hier suchen die Ruhe- und Schlaflosen auf der Fahrt zu ihrem Ziel mit Pillen und Alkohol ein paar Stunden Betäubung und Erholung zugleich. Wer sie beobachtet, lernt die menschliche Seele kennen.

Blatter, Platini, Infantino. Die Mitglieder der Familie Blatter sind in der Sprache meiner Heimat die Blattini. Platini – nomen rest omen – war lange einer von ihnen. Bis es zum Bruch zwischen Blatter und Platini kam. Platini war – zusammen mit seinem Sekundanten Infantino – gegen die von Mark Pieth konzipierten und von Blatter vorgeschlagenen Fifa-Reformen. Nicht wegen deren Inhalt, sondern um den Alten aus Visp zu destabilisieren. Platini wollte Blatter vor dem letzten Kongress zum Rücktritt zwingen. Das Elefantenrennen endete mit dem sportpolitischen Tod der beiden alternden Bullen. Sie durften am Kongress in Zürich nicht einmal anwesend sein. Ausgerechnet wegen der Ethik-Kommission, die Blatter gegen Platini durchgesetzt hatte und die den heute in der Fifa alles bestimmenden Yankees als Stemmeisen diente. Der immer loyale Platini-Infant Infantino war der Mann der Stunde null. Eine Geschichte, besser als jeder Roman.

Wer die Auftritte des sechssprachigen Infantino mit jenen von Niersbach, Rummenigge, Beckenbauer und Co. vergleicht, begreift: Im Fussball gibt es wenig halbwegs toughe Funktionäre. Die meisten, die nicht aus dem Oberwallis stammen, sind schwach belichtete Stotterer vor dem Herrn. Auch deshalb bekam und nutzte Infantino seine Chance.

Im Gegensatz zu Salman Bin Ibrahim al-Khalifa versprach Infantino allen Landesverbänden und allen Konföderationen verbindlich noch mehr Geld als Blatter. Infantino will einerseits in Zürich sparen, und andererseits von den Sponsoren und TV-Stationen mehr Geld eintreiben. Um diesen doppelten Segen an alle zu verteilen. Zwecks Förderung des Sports. Und sicher nicht zum Nachteil der Funktionäre und ihres neuen Chefs. Alle Beteiligten müssen lernen – unter Beachtung der Compliance-Regeln – den Geldsegen in die richtigen Taschen fliessen zu lassen. Nachhilfeunterricht erteilen zurzeit schweineteure amerikanische Sheriff-Advokaten. Sie werden erst Ruhe geben, nachdem sie zu viel kassiert haben.

Zweiter Vorteil: Im Gegensatz zum Scheich aus Bahrain gehört ein Briger Secondo keinem Königshaus an, das die Mehrheit der Bevölkerung mit Waffengewalt brutal unterdrückt. China kann sich politische Gefangene leisten. Die USA Guantánamo. Die Fifa konnte und wollte sich 2016 nicht zum Komplizen von Bahrain machen. Immerhin.

Entscheidend war letztlich etwas anderes: Die Golfstaaten pfeifen wegen der Implosion der Ölpreise nächstens aus dem letzten Loch. Wer die Ölpreise nicht stabilisieren kann, geniesst auch sonst kein Vertrauen mehr.

Der Hass der Deutschen überträgt sich derweil von Blatter auf Infantino. Die «Süddeutsche Zeitung» – ausgerechnet sie – giftet am Tag nach der Wahl bereits bitterböse: «Infantino macht den Geldspeicher auf: Die 1,5 Milliarden Euro Reserve will er investieren, sagt er in seiner Rede. Wenn man Präsident eines Kreisligisten werden will, verspricht man Freibier. Bei der Fifa eben Milliarden.»

Für die «Frankfunkter Allgemeine» siegte Infantino «dank Steinzeitstrategie».

Genau da liegt das Problem der Deutschen. Im Gegensatz zu sportjournalistischen Edelfedern wissen Kreisligisten und Steinzeitjäger noch, wie die Welt funktioniert. Alle wollen etwas haben, wenn der Ball und die Rubel rollen. Weil jedes Land eine Stimme hat, bekommt jeder Verband fünf Millionen. In der Schweiz ist eine Urnerin – wenn es um das Ständemehr geht – schliesslich auch 40-mal schwerer als jede Zürcherin.

Das Schönste am Fussball war, ist und bleibt die Aufregung über tatsächliche oder vermeintliche Fehlentscheide der Schiedsrichter. Das Zweitschönste an dieser weltweit wichtigsten Sportart ist das Fifa-Bashing. An beidem wird sich in den nächsten Jahren wenig bis nichts ändern.

Infantino hat – und das hat sein Wahlkampf bewiesen – Nerven wie Drahtseile. Gespannt sind alle, wie viel der Neue verdienen und wie viel er kassieren wird. Und ob er nach elf Jahren den Absprung verpasst oder nicht.

Zurück auf das Perron 1. Dort, wo wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch der Aufstieg der Infantinos begann. Dort wo der Piccolino jene «Gazetto dello Sport» mitnehmen durfte, die er daheim auf dem Teppichboden verschlang. Die Umstellung auf den Stundentakt hat den Kiosk und das Briger Bahnhofbuffet sterben lassen. Im einstigen Buffet 2. Klasse befindet sich eine Club-Disco. Geführt wird der Betrieb neu und erfolgreich von dem Kosovo-Albaner Muhamir Mzi und seinem Bruder. Gianni Infantino ist als Secondo kein Auslaufmodell. Die nächste Generation von hungrigen Aufsteigern ist unterwegs. SVP-Messerstecher-Inserate hin oder her.

Warum haben sich die Medien nicht mit der Herkunft von Infantino, nicht mit dem Perron 1 auseinandergesetzt? Sie glaubten – instruiert von Blatter Intimfreund Tognoni –, der Italo-Briger hätte keine Chance. Gegen den Strich mag niemand mehr recherchieren und schreiben.

Auch die löbliche Stadtgemeinde Brig-Glis hat die Wahl verschlafen. Der Gemeinderat der New-Fifa-City hatte sich rein gar nichts überlegt. Niemand ging nach Zürich. Nach der Wahl wies der Stadtpräsident die Polizei an, Freinacht zu gewähren. So wie früher. Dabei schliesst das Perron 1 am Freitag immer erst um 5 Uhr seine Türen. Piccolino hin, Piccolino her.

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