Der ewige Rodriguez
Mensch Ricardo

Er spielt und spielt und spielt: Nati-Verteidiger Ricardo Rodriguez (31) ist ein Phänomen. Auf und neben dem Platz. Hier erzählen sein grosser Bruder und Weggefährten, was ihn so besonders macht.
Foto: UEFA via Getty Images
EM 2024: Ricardo Rodriguez – vom Spitalbett zur Nati-Legende
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Daniel LeuStv. Sportchef
Publiziert: 27.06.2024 um 15:44 Uhr
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Aktualisiert: 28.06.2024 um 16:00 Uhr

Roberto Rodriguez ist noch immer emotional berührt. Am letzten Sonntagabend sitzt er zusammen mit seinem Vater José in Frankfurt im Stadion, als sein jüngerer Bruder Ricardo mit der Nati den Deutschen ein Unentschieden abringt. «Wenn du auf der Tribüne mitfieberst und siehst, wie dein Bruder bei einer Endrunde auflaufen darf und die ganze Schweiz im Rücken hat, dann macht dich das schon sehr stolz.»

Zu sehen bekommen Roberto und die Nati-Fans einmal mehr den typischen Rodriguez. Die Haare akkurat zu einem Schwanz zusammengebunden, im Gesicht ein Fünf-Tage-Bart, der Blick fokussiert, die Miene nicht deutbar, die Leistung gewohnt souverän.

Nicht aus der Nati wegzudenken: Ricardo Rodriguez.
Foto: UEFA via Getty Images

So ist er, der ewige Ricardo Rodriguez. Er kennt seine Stärken, aber fast noch wichtiger auch seine Schwächen. Er ist kein Grossmaul, sagt aber seine Meinung, wenn es drauf ankommt. Seit 2011 hat er schon in 118 Länderspielen auf dem Platz gestanden, wegen seiner ruhigen, sachlichen Art steht er aber oft zu Unrecht im Schatten von Xhaka, Akanji und Co.

Der ewige Ricardo Rodriguez: Mittlerweile hat er schon 118 Länderspiele bestritten.
Foto: TOTO MARTI

«Ich habe ihn nie hektisch erlebt»

Die Rolle des Leisetreters, sie passt perfekt zum 31-Jährigen. Als er letzte Woche auf den immensen Druck angesprochen wird, sagt er: «Ich will nicht so viel denken. Ich versuche nur, meinen Job zu erledigen und meiner Mannschaft zu helfen.» Möglicherweise charakterisieren ihn diese eigenen Worte perfekt.

Egal, mit wem man über Rodriguez spricht, alle schwärmen von ihm, seiner Familie und seinem grossen Herz. Betonen, dass er schon früh ein ausserordentliches Talent war. Und vor allem loben sie seine stoische Ruhe und Abgeklärtheit, die ihn seit langem auszeichnen.

Einer dieser Weggefährten ist Fejaz Zecirovci. Er hat zusammen mit Rodriguez als Junior beim FC Schwamendingen gespielt und es später selber bis in die 1. Liga geschafft. Zecirovci: «Er war schon als Kind immer ruhig auf dem Platz und hat einfach sein Spiel durchgezogen. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn jemals hektisch oder nervös erlebt zu haben.»

Francisco (l.) und Roberto Rodriguez sind stolz auf ihren Bruder.
Foto: Sven Thomann

Bronx von Zürich? Quatsch

Aufgewachsen ist die Familie Rodriguez in Zürich-Schwamendingen im Auzelg-Quartier. In Portraits über sie ist dabei immer mal wieder von der Bronx oder vom Ghetto von Zürich die Rede. Das ist Quatsch. Richtig ist bloss, dass dieser Ort mit einem Ausländeranteil von gegen 40 Prozent, gelegen zwischen Heizkraftwerken und einem Autobahndreieck, mit der Postkarten-Innenstadt von Zürich wenig gemein hat. Die Mutter Marcela ist Chilenin und Kleinkindererzieherin, der Vater José Spanier und Logistiker. Alle drei Kinder Roberto, Ricardo und Francisco spielen in ihrer Freizeit leidenschaftlich Fussball.

In jenen jungen Jahren lernt auch Claudio Tamo die Familie kennen. Er ist Schulleiter und Ricardos Lehrer im Schulhaus Auzelg. «Normalerweise sagt man als Lehrer in solchen Fällen immer, die Schüler sollen bitteschön zuerst eine Ausbildung machen und nicht alles auf die Karte Fussball setzen. Bei Ricardo war es aber ein bisschen anders. Wir haben ihn dabei unterstützt, dass er alle Trainings beim FCZ besuchen kann. Schön, dass sich das ausbezahlt hat.»

«Da wusste ich, er wird seinen Weg gehen»

Bereits als Zehnjähriger wechselt Rodriguez zum FC Zürich. Später trifft er auf Robert Merlo, der damals Trainer der Zürcher Regionalauswahl ist. «Als ich Ricardo trainierte, war er 13. Er war einfach nur glücklich, dass er Fussballspielen durfte und hat schon damals – so wie heute – top-seriös seinen Job erfüllt.»

Merlo denkt noch heute gerne an diese Zeit zurück: «Normalerweise schafft es aus so einer Auswahl vielleicht ein Spieler in die Super League, bei uns gelang aber gleich vier der Sprung nach oben: Oliver Buff, Pajtim Kasami, Sead Hajrovic und eben Ricardo. Das war schon ein aussergewöhnliches Team, das sich ja dann vier Jahre später in Nigeria zum U17-Weltmeister krönte.»

Er selbst bleibt bescheiden: «Ich versuche nur, meinen Job zu erledigen und meiner Mannschaft zu helfen.»
Foto: Getty Images

Apropos U17-WM. Dazu hat Bruder Roberto eine Anekdote: «Als Rici von der WM nach Hause kam, lud er unsere ganze Familie in Schwamendingen zum Essen ein. Da fragte ich ihn, wie es gewesen sei, vor 70’000 Menschen einen WM-Final zu spielen. Seine Antwort: ‹Genau gleich wie auf dem Schulhausplatz.› Da hat es bei mir Klick gemacht und ich wusste, er wird seinen Weg gehen.»

Der Rest der Geschichte ist bekannt. Via FCZ landet er bei Wolfsburg, Milan, Eindhoven und Torino und wird zu einem weltweit anerkannten (Links-)verteidiger. Dass sein Vertrag an diesem Sonntagabend ausläuft und er dann offiziell arbeitslos ist? Kein Grund, um nervös zu werden. Vielleicht auch, weil er weiss, was echte Probleme sind.

«Er verbrachte die ersten drei Lebensjahre fast nur im Spital»

Dass es Rodriguez dereinst so weit schaffen sollte, grenzt rückblickend betrachtet an ein Wunder. Im achten Monat der Schwangerschaft stellen die Ärzte fest, dass das Ungeborene an einer Zwerchfellhernie leidet und Magen, Milz, Leber und Darm durch ein Loch im Zwerchfell in den Brustkorb gewandert sind.

«Ricis Überlebenschancen betrugen 50 Prozent», erklärt Roberto, «er musste deshalb schon gleich nach der Geburt um sein Leben kämpfen und verbrachte die ersten drei Lebensjahre fast nur im Spital. Ich glaube, diese Geschichte hat ihn auch zu dem gemacht, was er heute ist. Sein Wille, im Leben immer zu kämpfen, macht ihn auch auf dem Platz so stark.»

Starke Familienbande: Roberto, Ricardo und Francisco Rodriguez (v.l.).
Foto: Keystone

Diesen unglaublichen Willen hat auch Ernst Graf miterlebt, der einstige FCZ-Nachwuchsleiter. «Ich kann mich noch sehr gut an ein Trainingslager in Tenero erinnern, als wir ihn plötzlich wegen seiner Vorgeschichte ins Spital bringen mussten, wo er dann operiert wurde. Als wir ihn danach dort besuchten, wurde es manchen seiner Mitspieler schlecht, doch Rici lag einfach nur im Spitalbett und hat gelächelt.»

Kaum ist er aus dem Spital draussen, steht er gleich wieder auf dem Fussballplatz. Graf: «Das war typisch Ricardo und hat uns wahnsinnig beeindruckt. Diese Zielstrebigkeit ist einzigartig und macht ihn zu einem Phänomen.»

«Sehe in ihm keinen Star, sondern meinen kleinen Bruder»

2015 schlägt das Schicksal ein zweites Mal hart zu. Mutter Marcela stirbt 47-jährig an Krebs. «Wir waren vorher schon eng. Das hat uns geholfen, diesen herben Verlust zu überstehen», erzählt Roberto, «leider gehören auch solche Schicksalsschläge zum Leben dazu. Man muss die Familie geniessen und schätzen, so lange sie da ist.»

Schicksalsschlag: 2015 starb Ricardos Mutter Marcela.
Foto: Blicksport
Danach tätowierte er sich seine Mutter auf den rechten Unterarm.
Foto: TOTO MARTI

Wohl auch diese familiäre Verbundenheit hat Rodriguez zu dem gemacht, was er heute ist: ein Star, der an der EM in Deutschland bereits sein sechstes grosses Turnier spielt. Roberto: «Wenn ich ihm aber zuschaue, dann sehe ich ihn ihm nicht einen Star, dann ist er einfach mein kleiner Bruder, dem ich alles auf der Welt gönne, denn er hat sich alles selber hart erarbeitet.»

Die nächste Gelegenheit dazu hat Roberto am Samstag.

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