Kein Sommermärchen 2.0
Tolle Fans, aber kleine Mängel und überschaubares Niveau

Was bleibt von der EM 2024? Vom sportlichen Niveau wird sie nicht nachhaltig in Erinnerung bleiben, trotz einer starken Nati und einem hochverdienten Europameister. Und auch organisatorisch gab es den einen oder anderen Mangel. Die grossen Gewinner waren die Fans.
Publiziert: 15.07.2024 um 19:27 Uhr
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Aktualisiert: 16.07.2024 um 17:05 Uhr
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Christian FinkbeinerStv. Fussballchef

Nein, ein Sommermärchen war die EM 2024 nicht. Allein das Wetter verhinderte ein märchenhaftes Turnier wie damals 2006, als sich die WM in Deutschland so unbeschwert, leicht und wie ein nie endender Sommer anfühlte. Das Wetter in diesem Jahr passte zum politischen Klima im Land des Gastgebers und in Europa, an dessen Peripherie seit bald zweieinhalb Jahren ein Krieg wütet.

Auch organisatorisch gab es den einen oder anderen Makel. An einzelnen Spielen gab es teils prekäre Situationen, weil der Abtransport der Fans nicht richtig funktionierte. Dass in Gelsenkirchen nach dem Spiel England gegen Serbien oder nach dem Halbfinal in Dortmund zwischen Holland und England alles friedlich ablief, hatte vor allem damit zu tun, dass die Fans trotz Gedränge, Enttäuschung, grossem Alkoholkonsum, ungenügender sanitärer Anlagen, schlechter Information und teils fehlender Verpflegungsmöglichkeiten die Ruhe bewahrten und nicht in Panik verfielen. Die Uefa kam mit einem blauen Auge davon.

Ausgelaugte Stars

Die Problematik der schlechten Rasen ist bei einem Budget von 1,1 Milliarden Euro zwar peinlich, wurde letztlich aber heisser gekocht, als sie gegessen wurde. Der Grund für die teils mässige Spielqualität lag nicht am Rasen, sondern darin, dass mit Ausnahme Spaniens kaum ein Team den Vorwärtsgang suchte. Die hochtalentierten Franzosen und Portugiesen, lange auch die Engländer, vor allem aber auch Belgien und Titelverteidiger Italien waren eine Enttäuschung.

Mit Spanien gewann das mit Abstand beste Team den Titel.
Foto: IMAGO/Sportsphoto
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Auch die Superstars lieferten mit wenigen Ausnahmen nicht ab. Viele von ihnen waren überspielt, was bei 50 und mehr Partien pro Saison auch nicht überraschend kommt: Kylian Mbappé, Kevin De Bruyne, Jude Bellingham und viele weitere Stars der Top-5-Ligen Europas wirkten matt und ausgelaugt.

Die Aussicht ist nicht besser. Mit der Neugestaltung der drei Europacup-Wettbewerbe und der in einem Jahr erstmals in aufgeblähter Form durchgeführten Klub-WM der Fifa wird die Anzahl der Spiele weiter erhöht, die Zitrone weiter ausgepresst. Was das für die nächste WM 2026 in Nordamerika für Auswirkungen hat, die erstmals mit 48 Mannschaften stattfinden wird, ist vorhersehbar.

Georgien und Österreich als Farbtupfer

Dank Spanien triumphierte am Ende immerhin der Offensivfussball. Und Deutschland erlebte die Geburtsstunde des nächsten grossen Superstars: Lamine Yamal, am Samstag gerade einmal 17 geworden. Für die Farbtupfer waren wie so oft die Kleinen verantwortlich. EM-Debütant Georgien begeisterte mit seiner auf Konter ausgelegten Spielweise, auch die osteuropäischen Teams oder die Türkei sorgten für Unterhaltung, ebenso die im eigenen Land als Geheimfavorit ausgerufenen Österreicher, die mit den attraktivsten Fussball des Turniers spielten. Und auch unsere Nati war ein belebendes Element, trotz des aus neutraler Sicht langweiligen Kicks gegen England. Spektakuläre Spiele waren generell eher die Ausnahme. Und auch der Modus ist nicht der Weisheit letzter Schluss, was aber keine neue Erkenntnis ist.

Das Turnier stand im Zeichen der Nachhaltigkeit. Die Deutsche Bahn tat ihr Möglichstes, vermochte aber ihren schlechten Ruf von regelmässigen Verspätungen und Zugausfällen nicht ganz zu revidieren. Dass einige Teams auch Kurzstrecken von 150 km mit dem Flugzeug zurücklegten, war stossend und gab jenen recht, die in der Uefa und dem überhitzten Fussball-Business eine abgehobene Bubble, die nur auf Kommerz aus ist, sehen. Dass die Nati mit dem Zug reiste, war vorbildlich – und der eine oder andere Spieler schien das kurze Bad in der Menge auch zu geniessen. Ein bisschen mehr Volksnähe täte allen gut.

Hoffnung auf ein geeintes Europa

Die Gewinner sind die Fans. Zu Hunderttausenden strömten sie nach Deutschland, ob aus den Nachbarländern, Osteuropa oder von der britischen Insel. Die Schotten gehörten auf dem Platz zwar zu den Schwächsten, holten sich aber den Titel in den Fanzonen, Innenstädten und auf den Rängen – knapp vor den Holländern. Friedlich und Arm in Arm feierten sie, als gäbe es kein Morgen. Auch alle anderen unterstützten ihre Teams lautstark, der Patriotismus wurde zwar zelebriert, in einigen Fällen auch überstrapaziert, doch es blieb friedlich.

«Europa ist ein geiles Land», lautete der Werbe-Slogan der deutschen Bild-Zeitung. Trotz all seiner Probleme und der politischen Grosswetterlage zeigte Deutschland, dass die Besucher noch immer «zu Gast bei Freunden» sind, in einem toleranten, friedlichen und freien Land. Bundestrainer Julian Nagelsmann sagte nach dem Ausscheiden in einer emotionalen Pressekonferenz: «Wenn jeder bei sich selber anfängt, in seiner Strasse seinen Nachbarn zu unterstützen, wir einander helfen – dann würden wir an einer besseren Zukunft arbeiten und erkennen, in welcher wunderbaren Welt wir leben, anstatt alles nur schwarzzumalen.»

Nagelsmanns Appell war an die Menschen in Deutschland gerichtet, gilt aber auch für alle anderen Europäer. Vielleicht sind sie während der EM tatsächlich wieder ein wenig mehr zusammengerückt, der Glaube an eine gemeinsame, prosperierende und friedliche Zukunft wieder gestiegen. Es wäre das grösste Vermächtnis dieses Turniers.

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