Machts unser Nachbar wie 2006?
Deutschland sehnt sich nach dem Sommermärchen 2.0

An der Fussball-Heim-WM 2006 sahen die Deutschen schwarz-rot-gold. Doch vor der Fussball-Heim-EM 2024 sehen sie vor allem schwarz.
Publiziert: 11.06.2024 um 10:11 Uhr
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Aktualisiert: 11.06.2024 um 13:59 Uhr
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Daniel LeuStv. Sportchef

Wer den Fussball in Deutschland und seinen Stellenwert verstehen möchte, der sollte nach Nordrhein-Westfalen reisen, ins fussballerische Epizentrum, und sich dort ein Spiel in einer unteren Liga anschauen. So wie an diesem sonnigen Freitagabend, zwei Wochen vor Beginn der EM. Auf dem Kunstrasenplatz «Am Tannenbusch» trifft der SV 08/29 Friedrichsfeld auf den TuB Bocholt 1907. Bezirksliga Gruppe 5 Niederrhein, die siebthöchste Liga Deutschlands. Irgendwo im Nirgendwo, am Rand des Ruhrgebiets.

Es ist das letzte Spiel der Saison, und für beide Teams geht es um nichts mehr. Trotzdem erscheinen über 100 Zuschauer, darunter die Friedrichsfelder Mannschaft, die 30 Jahre zuvor den Sprung von der Bezirks- in die Landesliga geschafft und damit einen der grössten Erfolge der Klubgeschichte errungen hatte. Der Platzspeaker feiert die Helden so überschwänglich, als hätten die einst den Europacup der Landesmeister gewonnen.

Mit Pils in der einen und Bratwurst in der anderen Hand reden die Klublegenden von früher und natürlich auch von der bevorstehenden Heim-EM 2024. Spielen wir kurz Mäuschen und lauschen den Lokalhelden. «Wir haben keine Chancen», sagt der eine. «Wir holen den Titel», kontert der andere. «Ein zweites Sommermärchen wird es nicht geben», resümiert wiederum ein Dritter.

Der Startschuss zum Sommermärchen 2006: Philipp Lahm traf im Eröffnungsspiel gegen Costa Rica zum 1:0.
Foto: Imago
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Willkommen in (Fussball-)Deutschland. In einem Land, das sekundenschnell zwischen Grössenwahn und Pessimismus schwankt. Und das sich nichts mehr wünscht als ein neues Sommermärchen, das Sommermärchen 2.0.

Für viele war es der Sommer ihres Lebens

Rückblende. Vor der WM 2006 galten die Deutschen als biedere Gastgeber und als ein Land, das wegen seiner Geschichte alles nur nicht patriotisch sein wollte. Und auch sportlich lief es der Mannschaft zuvor alles andere als gut. Doch dann kam die WM im eigenen Land mit dem Slogan «Die Welt zu Gast bei Freunden». Pünktlich zum WM-Auftakt sorgte OK-Chef Franz Beckenbauer höchstpersönlich für Kaiserwetter. Und als der junge Philipp Lahm im Eröffnungsspiel gegen Costa Rica den Ball traumhaft schön ins weite Eck schlenzte, gab es kein Halten mehr.

Während vier Wochen zeigte sich danach Deutschland von seiner besten Seite: ausgelassen, sympathisch, positiv. Poldi, Schweini, Klinsi und Co. verzückten ein ganzes Land, für viele Deutsche war das der Sommer ihres Lebens. Public Viewings schossen aus dem Boden, Autos fuhren mit Deutschland-Fähnchen rum. Ein Land sah plötzlich nicht mehr schwarz, sondern schwarz-rot-gold. Die Euphorie ging gar so weit, dass die Deutschen die eigentlich unliebsame und überflüssige Partie um Platz 3 kurzerhand zum grossen Endspiel ausriefen und sich die Weltmeister der Herzen am Ende in Berlin am Brandenburger Tor von Hunderttausenden Fans für ihren dritten Rang feiern liessen. Das Sommermärchen, es ward geboren.

Doch seitdem ist vor allem in den letzten Jahren viel bei unserem grossen Nachbarn passiert. Die Flüchtlingskrise. Der Aufschwung der AfD. Die Spaltung der Gesellschaft durch Corona. Das Wegfallen des Billig-Gases aus Russland. Die Wirtschaftskrise. Der Streit um Waffenlieferungen an die Ukraine. Und natürlich auch das frühe Ausscheiden der Nationalmannschaft an den letzten beiden Weltmeisterschaften, inklusive unrühmlichem Zoff um die Regenbogen-Binde und die Mund-zu-Geste 2022 in Katar. Das Sommermärchen, es ward gestorben.

«Wir wünschen uns eine Ablenkung»

Doch nun soll die Fussball-EM das schaffen, was Politikern und klugen Köpfen nicht gelungen ist: ein optimistischer Blick auf die Gegenwart und die Zukunft. Kann das gelingen? «Ich bin der festen Überzeugung, dass so ein Turnier eine Kraft hat, die Menschen wieder zusammenzubringen», sagt ebendieser Philipp Lahm, der 2006 am Ursprung des Sommermärchens stand und der heute Chef des EM-Organisationskomitees ist.

DFB-Sportdirektor Rudi Völler meint in der ARD: «Wir wünschen uns eine Ablenkung von den Kriegen, von den Sorgen und Nöten des Alltags. Das wird uns gelingen.»

Und auch Sportsoziologe und Philosoph Gunter Gebauer ist vorsichtig optimistisch, warnt aber gleichzeitig im ZDF: «Wenn es gut für die deutsche Mannschaft läuft, kann der Fussball für ein paar Wochen eine Euphorie entfachen, die manche Gräben vorübergehend überdeckt. Sie könnte uns eine Auszeit im Privaten von den Konflikten verschaffen. Wenn es schlecht läuft, kann die EM umgekehrt aber auch als Verstärker der schlechten Stimmung wirken.»

Dem Bier und dem Fussball sei Dank

Zum Schluss noch dies. Erstens: An der EM wird es im Gegensatz zur WM kein Spiel um Platz 3 geben. Und zweitens: Friedrichsfeld schlug Bocholt verdient 4:2, und die Aufstiegshelden von 1994 schafften es an diesem Freitagabend problemlos, «eine Auszeit im Privaten von den Konflikten zu verschaffen». Dem Bier und dem Fussball sei Dank.

Ob das, was hier im Kleinen geschehen ist, ab Freitag auch im Grossen gelingen wird?

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