Übrigens – die SonntagsBlick-Kolumne
Sommermärchen? Sommermärchen!

Die Fussball-EM begeistert sportlich. Und schreibt daneben viele kleine Märchen. Die Kolumne von Reporter Felix Bingesser.
Publiziert: 23.06.2024 um 16:16 Uhr
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Aktualisiert: 23.06.2024 um 17:17 Uhr

Bekommen wir ein neues Sommermärchen? Die bange Frage vor der EM in Deutschland kann nach der Hälfte des Turniers beantwortet werden. Das neue Sommermärchen ist da!

Ein Turnier, das sportlich und stimmungsmässig keine Wünsche offenlässt und in einem Land mit toller Infrastruktur und grosser Fussballkultur die sterile WM in Katar bereits in den Schatten gestellt hat.

Kein Team fällt ab. Die Leistungsdichte im europäischen Fussball ist bemerkenswert. Offensiver, konstruktiver und spektakulärer Fussball wird auch von den vermeintlichen Aussenseitern gespielt. Ein biederes Vorrundenspiel wird zum bisherigen Höhepunkt.

Schönes Bild: Zwei schottische Fans begleiten eine betagte Frau, die mit dem Rollator einen Platz in der Innenstadt von Köln überquert.
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Die Partie zwischen Georgien und der Türkei ist Faszination pur. Anarchisch, wild, spektakulär, mit unglaublicher Leidenschaft und Herzblut. Wildwest auf dem grünen Rasen. Besser geht es nicht.

EM bringt Emotionen, Fans ziehen mit

Und offensichtlich ist: Die Nationenduelle unterschiedlicher Kulturen und Temperamente erzeugen weit mehr Emotionen, als der ebenfalls tolle Fussball in der Champions League. Dort sind die Spieler mit Millionen entlohnte Söldner. Die EM ist eine Herzensangelegenheit, die zusätzliche und spürbare Energien freisetzt. «Es gibt für einen Fussballer immer noch nichts Grösseres und Schöneres, als mit der Nationalmannschaft für sein Land zu spielen», sagt Bastian Schweinsteiger.

Die Fans ziehen mit. Das Bedürfnis der Menschen nach Heimat, nach Wurzeln, nach einem gesunden Nationalismus ist offenbar enorm. Den kann man im Fussball ausleben, ohne sich gleich «verdächtig» zu machen.

Die 29-jährige Lena Cassel ist die beste Sportjournalistin im deutschsprachigen Raum. «Das Sommermärchen 2006 habe ich nur vom Hörensagen gekannt», sagt sie. Der aufkommenden nationalen Befindlichkeiten der letzten Monate seien sie und ihre Generation skeptisch gegenübergestanden. «Aber in diesen wenigen Tagen bin ich zur Patriotin geworden», hat sie jüngst im ZDF geschwärmt.

Auch in der Schweiz lassen sich Kreise von so einem Turnier faszinieren, die ansonsten mit dem Fussball wenig am Hut haben. Vor allem auch Frauen.

Geschichten auf und neben dem Platz

Und es werden Geschichten erzählt. Drei Jahre nach seinem Herzstillstand bei der EM 2021 in Kopenhagen trifft Christian Eriksen bei seiner EM-Rückkehr. Cristiano Ronaldo ist vom Superstar zum väterlichen Anführer der jungen, wilden Portugiesen geworden. Und erhält in dieser Rolle als Mensch ein Profil, das man dem unnahbaren CR7 kaum zugetraut hat.

Es gibt auch neben dem Platz Highlights. Kilian Mbappé, der sich mit dem besten und mutigsten politischen Statement eines Fussballers besorgt an die Menschen in Frankreich wendet. Und dann natürlich die Fans. Zehntausende Holländer hüllen Hamburg in Oranje. Der türkische Spieler Kaan Ayhan sagt: «Eigentlich sind wir Co-Gastgeber.» Drei Millionen türkischstämmige Menschen leben in Deutschland und feiern ihr Team. 100'000 Schotten reisen nach Köln.

Und zwei dieser schottischen Fans sorgen für meinen persönlichen EM-Höhepunkt. In Schottenröcke gehüllt und mit einem Bier in der Hand begleiten sie eine betagte Frau, die mit dem Rollator einen Platz in der Innenstadt von Köln überquert. Und halten schützend den Regenschirm über sie.

Der Fussball kann nicht alle Probleme lösen. Aber er kann für viele kleine Märchen sorgen. Auch wenn es regnet.

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