Er starb durch einen schrecklichen Zusammenprall
Die berührende Lebensgeschichte von Fussball-Goalie Reto Gafner

Vor 20 Jahren starb Torhüter Reto Gafner nach einem Zusammenprall mit einem Stürmer. Wie die Angehörigen damit umgingen. Warum sie nie gehadert haben. Und weshalb ein Teil von ihm weiterlebt.
Publiziert: 02.11.2023 um 00:13 Uhr
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Aktualisiert: 02.11.2023 um 08:44 Uhr
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Daniel LeuStv. Sportchef

Es ist seit 20 Jahren Abend für Abend das gleiche Ritual. Wenn es eindunkelt, geht Agnes Gafner im zürcherischen Wetzikon vor die Haustür ihres Einfamilienhauses und zündet eine Kerze an. «Damit es hell ist, falls Reto doch noch heimkäme.» Doch Reto kommt seit 20 Jahren nicht mehr heim. Das weiss auch seine Mutter. Am 4. November 2003 haben Heinz und Agnes Gafner ihren einzigen Sohn verloren, Doris und Tanja ihren älteren Bruder, Carmen ihre grosse Liebe, Markus seinen besten Freund und Bryan, David, Lorenz und Stephen ihren Spieler.

Rückblende. Sonntag, 2. November 2003, Sportanlage Heuried in Zürich. 2.-Liga-Spiel zwischen dem FC Wiedikon und dem FC Greifensee. Um die 70. Minute lancieren die Stadtzürcher einen Angriff über die rechte Seite. Der Flügel läuft durch und flankt halb hoch in die Mitte, in etwa auf die Höhe des Fünfers. Greifensee-Goalie Reto Gafner stürmt aus seinem Tor. Gleichzeitig rennen ein Wiedikon-Stürmer und ein Greifensee-Verteidiger im Vollsprint Richtung Ball. Es kommt zum Zusammenprall. Dabei erwischt der Wiediker Gafner unglücklicherweise mit seinem Knie voll am Kopf.

Eine Aktion, wie sie Wochenende für Wochenende auf Schweizer Fussballplätzen passiert. Doch an jenem Sonntag hat sie fatale Folgen. Zwei Tage später wird der damals 32-jährige Reto Gafner seinen schweren Kopfverletzungen erliegen.

Schon als Kind war für Reto Gafner klar, dass er Goalie sein wollte.
Foto: CHRISTOPH KAMINSKI
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Diese Geschichte handelt von einem tragischen Unfall, der bis heute zum Glück einzigartig im Schweizer Fussball ist. Vom Verlust eines geliebten und beliebten Menschen. Und von der brutalen Erkenntnis, dass trotz allem das Leben weitergehen muss, ja weitergeht.

«Er war meine grosse Liebe»

Es ist ein sonniger Dienstagnachmittag im September 2023. Agnes (78) und Heinz Gafner (77) sowie Tochter Doris Grob (49) sitzen am Esstisch und erzählen von Retos Leben. An einer Wand hängen Fotos von ihm. Reto, als er einjährig war. Reto, als er mit 13 auf dem Susten im Trainingslager der ehemaligen Skirennfahrer Peter Lüscher und Fabienne Serrat war. Reto, als er an der Hochzeit von Doris’ Zwillingsschwester Tanja war. Reto, als er längst ein gestandener, erwachsener Mann war.

Mutter Agnes: «‹Dr Dädi› war für Reto alles. Sie haben oft stundenlang Lego miteinander gespielt und Burgen gebaut.»
Vater Heinz: «Reto war ein glückliches Kind, sehr lebendig und hatte immer einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Als er mal aus Versehen mit dem Fussball eine Scheibe eingeschlagen hatte, erzählte er das gleich zu Hause, um es schnell wieder in Ordnung bringen zu können.»
Schwester Doris: «Wir hatten eine wunderschöne Kindheit. In den Ferien gingen wir oft wandern. Als Belohnung erhielten wir alle ein Rivella.»
Mutter Agnes: «Als er in der 2. Schulklasse war, meldeten wir ihn beim FC Wetzikon an. Für ihn war von Anfang an klar, dass er Goalie sein wollte.»
Schwester Doris: «Mama durfte man nicht ans Spielfeld lassen, sie war immer so nervös und litt mit.»
Mutter Agnes: «Ich stand trotzdem immer gleich neben dem Goal auf der Seitenlinie. Er hat dann jeweils kurz die Hand gehoben, wenn er mich sah.»
Vater Heinz: «Ich stand immer weit weg. Ein Wunder, dass meine Frau jeweils nicht auch noch mitgehechtet ist.»

Szenenwechsel. Das Industriegebiet von Aathal ZH. Hier arbeitet Markus Schneebeli. Er war Retos bester Freund. Die beiden lernten sich während der Sek-Zeit kennen, als sie in die Parallelklassen gingen. Es war keine Freundschaft auf den ersten Blick. Zuerst mochten sie sich nicht besonders, doch mit der Zeit entstand daraus eine innige Freundschaft.

Töffli frisieren, auf einem Amiga Games programmieren, mit dem Zelt Ferien machen – die zwei verbrachten viel Zeit miteinander. Schneebeli erinnert sich auch daran, dass Reto liebend gerne Wortkreationen erfand. «Einer seiner Sprüche war ‹easy, cooly, piano›. Dieser Spruch wurde zwischen uns zum Running Gag.»

Freund Markus: «Reto war ein All-in-Typ. Wenn er etwas gemacht hat, dann immer richtig. So war es auch, als wir beide mit Bodybuilding anfingen. Während ich es eher als Hobby ansah, gab er Vollgas.»
Mutter Agnes: «Als sich Reto beim Fussballspielen mal das Schlüsselbein brach, empfahl ihm der Arzt Krafttraining. Ich weiss nicht, wie oft ich ihm in der Zeit Pouletschnitzeli mit Reis gekocht habe. Damals ass er Unmengen von Reis.»
Vater Heinz: «In der Zeit sagten ihm viele Noldi, in Anlehnung an Arnold Schwarzenegger.»

Neben dem Fussball ist die Architektur Retos zweite grosse Leidenschaft. Nach der Sek lernt er erst Hochbauzeichner, dann studiert er Architektur an der Höheren Technischen Lehranstalt Winterthur. Er wohnt noch immer bei seinen Eltern, finanziert sich sein Studium unter anderem als Pizzakurier.

In der Zeit lernt Reto im Ausgang Carmen Kuster kennen. «Reti war meine grosse Liebe», erzählt die heute 50-Jährige. «für mich war damals klar, dass wir heiraten und Kinder kriegen werden und ich für den Rest meines Lebens mit ihm zusammen sein werde.»

Das Paar ist glücklich, auch wenn Reto sehr viel arbeitet und viel Zeit auf dem Fussballplatz verbringt. «Reti sagte mir immer, dass Fussball ein Teamsport sei und du das Team nie im Stich lassen darfst.»

Mutter Agnes: «Die Architektur faszinierte ihn schon immer. Als die Mädchen ausgezogen waren und mein Mann und ich eines Tages aus den Ferien zurückkehrten, unterbreitete er uns einen Vorschlag: ‹Schaut mal auf meine Pläne. Ihr könnt ins Mädchenzimmer ziehen, dann reisse ich hier eine Wand zu eurem Schlafzimmer raus und baue mir eine gemütliche Wohnlandschaft.› Wir haben das aber abgeklemmt.»
Vater Heinz: «2000 gründete er mit einem Freund die Firma Gafner & Horisberger Architekten. Die waren richtig erfolgreich und gewannen innerhalb kurzer Zeit drei Wettbewerbe für neue Schulhäuser, die dann auch gebaut wurden.»
Mutter Agnes: «Reto wusste genau, was er wollte. Bei einem Schulhaus gab es unter den Lehrern Diskussionen wegen der Farbauswahl. Reto sagte daraufhin nur: ‹Ihr seid Lehrer, und ich bin Architekt. Macht ihr euren Job und ich meinen.›»
Freundin Carmen: «Architektur hat ihn unglaublich interessiert und fasziniert. Das bekam ich jeweils auch in unseren Ferien zu spüren. Ich musste sehr viele Bauten mit ihm anschauen. Jeden Tag waren wir woanders. Wir wollten damals auch ein Haus bauen. Wir hatten schon einen Teil fürs Land angezahlt.»
Freund Markus: «Herzog & de Meuron waren seine Vorbilder. Reto wollte keine kleinen Häuschen bauen, er hatte städteplanerische Visionen. Obwohl er damals für sein Alter schon viel erreicht hatte, hatte er noch viele Ziele und Träume.»

Im Herbst 2003 scheint Reto Gafner ein zufriedener Mensch zu sein. Er hat Erfolg im Beruf, mit Carmen führt er eine glückliche Beziehung, und beim FC Greifensee steht er in der 2. Liga im Tor.

Eine Woche vor seinem Tod sind alle drei Kinder bei den Gafners zum Essen eingeladen. Wie üblich gibt es am Tisch eine angeregte, leidenschaftliche Diskussion. Es geht darum, was bei einem Haus schöner ist – ein Flachdach oder ein Giebel? Reto ist – wie es sich für einen Architekten gehört – pro Flachdach, seiner Schwester Tanja aber gefällt ein «Bögli» mehr. Was da noch niemand weiss: Es sollte ihre letzte Begegnung mit Reto sein.

Auch mit seinem besten Freund Markus führt Reto kurz vor seinem Tod ein intensives Gespräch. «In der Woche vor dem Unfall heiratete ich. Er rief mich an und fragte mich, ob ich mir das gut überlegt habe. Nicht, weil er meine Freundin nicht mochte, sondern weil er sich sicher sein wollte, dass ich keinen Fehler mache. Er wollte einfach, dass ich glücklich bin.»

«Dann war er weg»

Der 2. November 2003, der Tag des Unfalls. Am Vorabend war Reto noch an einem Fitness-Event und kam erst spät heim. Als er am Sonntagmorgen aufwacht und es draussen regnet, hat er nicht sonderlich Lust aufs Fussballspiel.

Freundin Carmen: «Da sagte er mir wieder, dass man das Team nicht im Stich lasse. Ich machte ihm dann noch das Frühstück, schmierte ihm ein Nutella-Brötchen, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss. Dann war er weg.»

Das Team. Es ist für Reto Gafner wirklich wichtig. Und auch für den kleinen FC Greifensee, der schon immer vom Zusammenhalt gelebt hat. Aus diesem Verein ging 2001 anlässlich dessen 25-Jahr-Jubiläums auch eine Band mit damals aktiven und ehemaligen Spielern wie Manu Burkart von Divertimento hervor, die noch heute in fast gleicher Besetzung unter «Buddies, Beer & Rock 'n' Roll» bekannt ist.

Co-Trainer Lorenz Vontobel: «Ich kannte Reto schon von früher vom FC Wetzikon. Als ich ihn im Sommer 2003 zufälligerweise traf, sagte ich ihm, dass wir in Greifensee noch einen Goalie suchen würden. So kam es, dass er zu uns wechselte.»
Spielertrainer Bryan Bachmann: «Ich hatte Reto vorher nicht gekannt. Mir fiel aber schnell auf, dass er sehr engagiert und ehrgeizig ist.»
Captain Stephen Ammann: «Reto war damals schon 32 und eine gestandene und spannende Persönlichkeit. Er hatte dieses Goalie-Gen, dieses Unerschrockene. Und er strahlte auf dem Platz viel Selbstvertrauen aus.»

Was dann am 2. November beim Spiel zwischen Wiedikon und Greifensee genau passiert, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Klar ist, dass Reto Gafner um die 70. Minute mit einem Spieler von Wiedikon zusammenprallt. 

Mitspieler David Heider: «Ich war damals mit dem Wiedikon-Stürmer mitgerannt. Wir eilten nach dem Pass in die Tiefe, beide dem Ball hinterher. Reto blockierte knapp vor uns den Ball, und wir hoben beide aus Reflex und um einen Zusammenprall zu vermeiden ab. Dabei hat der Stürmer Reto wahrscheinlich mit seinem Knie voll am Kopf getroffen. Das anschliessende Schreien vergesse ich nie mehr. Es war nicht, wie wenn ein Kind nach einem Sturz schreit, es war eher ein dumpfer langer Ton, wie wenn man sehr starke Bauchschmerzen hat.»
Captain Stephen: «Ich war etwa 30 Meter von der Szene entfernt, als der Unfall passierte. Erst schrie Reto laut, dann war eher eine Art Heulen zu hören.»
Co-Trainer Lorenz: «Eine solche Aktion gibt es in der Schweiz an jedem Wochenende mehrere Male, ohne dass jemals etwas passiert. Ich rannte dann gleich aufs Spielfeld und merkte relativ schnell, dass etwas ganz Schlimmes passiert ist.»
Spielertrainer Bryan: «Er war zuerst regungslos. Dann erwachte er, hatte aber Mühe mit Reden. Man hatte eine Beule gesehen, aber kein Blut. Irgendwann kam die Ambulanz. Er wurde dann im Krankenwagen erstversorgt. Danach wurde das Spiel abgebrochen.»

Von all den dramatischen Szenen bekommen Retos Eltern in Wetzikon und seine Freundin Carmen in Hittnau zuerst nichts mit. Agnes Gafner ist am «Guetzlen», als das Telefon klingelt und der Trainer ihr sagt, dass ihr Sohn einen schweren Unfall gehabt hätte. Auch Carmen erfährt per Telefon, dass Reto im Unispital Zürich um sein Leben kämpft. 

Mutter Agnes: «Wir fuhren dann alle gleich ins Spital. Irgendwann fragte Carmen den Arzt: ‹Wie gross ist die Überlebenschance? 50 Prozent?› Als der Arzt nur auf den Boden schaute, wussten wir, es sieht nicht gut aus.»
Freundin Carmen: «Ich dachte mir die ganze Zeit: Wenn es jemand schafft, dann Reti. Er war so ein grosser, starker Mann, mit vielen positiven Gedanken. Dann kam der Arzt und sagte, er hätte noch nie einen solchen Sportunfall gesehen. Er dachte zuerst, es sei ein Autounfall gewesen.»
Freund Markus: «Auch ich fuhr in den Spital. Er lag ganz ruhig da, völlig neutral, kein Lachen, es war einfach nur noch die Hülle da.»
Freundin Carmen: Später durften wir in sein Zimmer rein. Sein Kopf war eingebunden, ansonsten sah man ihm nichts an. Irgendwie dachte ich dann trotzdem noch: Ist doch super, er ist stabil, er atmet, es kommt schon wieder gut.»

Doch schnell einmal ist klar: Reto Gafner ist hirntot, denn durch den Zusammenprall waren seine Hirnfunktionen ausgefallen. Am Montag erhält Heinz Gafner deshalb erneut einen Anruf vom Spital. 

Vater Heinz: «Sie teilten mir mit, dass Reto sterben würde. Sie fragten, ob Reto einen Organspendeausweis hat.»
Mutter Agnes: «Ich war in der Küche und bereitete das Entrecôte double vor, weil wir das ja am Sonntag nicht gebraucht hatten. Dann kam mein Mann rein und sagte: ‹Wir müssen gleich nach Zürich runter. Unser Bub stirbt.›»
Freundin Carmen: «Im Spital mussten zwei Ärzte unabhängig voneinander feststellen, dass Reti hirntot war. Als sie uns das mitgeteilt haben, realisierte ich zum ersten Mal richtig, er kommt nicht wieder. Erst da brach meine Welt zusammen.»
Mutter Agnes: «Wir entschieden uns dann, alle Organe freizugeben, denn Reto war schon immer ein wahnsinnig hilfsbereiter Typ. Da alle Organe noch gesund waren, konnte er so vielen Menschen helfen.»
Schwester Doris: «Ich war am Montag auch nochmals bei Reto. Sein Kopf war wegen der Schwellung unglaublich gross und eingebunden. Dieses Bild sehe ich noch heute vor mir.»
Mutter Agnes: «Am Montag waren wir nochmals im Spital. Ich war lange bei ihm und hielt ihn. Bevor die Maschinen abgestellt wurden, verabschiedete ich mich von ihm und ging raus.»
Freundin Carmen: «Ich war auch nicht dabei, als die Maschinen abgestellt wurden. Ich frage mich bis heute, ob es besser gewesen wäre, ihn nochmals tot zu sehen, um definitiv Abschied nehmen zu können. Eine Antwort auf diese Frage habe ich aber bis heute nicht.»

Am 4. November 2003 hört Reto Gafners Herz auf zu schlagen. Für immer. Längst haben auch seine Teamkollegen und Trainer davon erfahren. «Ich bin Sek-Lehrer», erinnert sich Co-Trainer Lorenz Vontobel, «ich stand auf der Türschwelle ins Schulzimmer, als mir seine Mutter telefonisch mitteilte, dass Reto verstorben sei.»

Die Trauer ist gross, Vorwürfe an den Wiedikon-Stürmer gibt es aber keine. Alle sind sich bewusst, dass das ein unfassbar unglücklicher Unfall war. Doch Agnes Gafner denkt immer wieder: «Ich bereue bis heute, dass wir nicht beim Spiel waren. Wenn ich dort gewesen wäre, hätte ich ihn halten und für ihn da sein können.»

«Der Wiedikon-Spieler tut mir bis heute leid»

In den Tagen danach beschäftigt die Familie auch eine Frage: Hat Reto seinen Tod vorausgeahnt?

Mutter Agnes: «Etwa ein halbes Jahr vor seinem Tod rief er uns an und sagte, wir seien die besten Eltern der Welt. Manchmal hatten wir das Gefühl, er habe es gespürt.»
Freundin Carmen: «Reti sagte mir immer: ‹Ich sterbe früh, entweder wegen dem Kopf oder dem Herzen.› Ich habe ihm dann immer geantwortet: ‹Du spinnst!›, aber das hat mich schon immer ein bisschen irritiert.»
Vater Heinz: «Offenbar hatte Reto einige Monate vor seinem Tod einem Kollegen gesagt, er wolle nun eine Familie gründen, weil er ja eh nicht alt werden würde. Uns hatte er mal gesagt, dass er in den Alpen verstreut werden möchte. Wir entschieden uns dann für ein Gemeinschaftsgrab. Dort sind alle gleich, egal ob reich oder arm, ob jung oder alt.»
Mutter Agnes: «Die Tage nach Retos Tod waren schlimm. Wir mussten nur noch weinen. Man schläft nicht, man isst nichts. Ich hatte permanent einen Stein auf der Brust. Ich konnte nicht mehr TV schauen, nicht mehr Bücher lesen, nicht mehr Musik hören. Mein Mann wollte mit allem aufhören. Auch auf Curling, was er immer mochte, hatte er keine Lust mehr. Er wäre am liebsten selber gestorben.»
Freundin Carmen: «Auf einmal hörte die Welt auf zu drehen. Mir war alles gleichgültig. Und dann dieser unendliche Schmerz, der einfach nicht aufhörte.»
Mutter Agnes: «Die Frage nach dem Warum haben wir uns aber nie gestellt. Man bekäme darauf ja eh nie eine Antwort.»
Vater Heinz: «Wir waren nie wütend auf den Wiedikon-Stürmer. Man hat uns damals sogar gefragt, ob wir eine Strafanzeige machen wollen. Das hätte aber nichts gebracht, deswegen wäre unser Sohn ja nicht zurückgekommen.»
Freundin Carmen: «Wir mussten trotz unserer Trauer oft an den Wiedikon-Spieler denken. Er tut mir bis heute leid.»

Die Anteilnahme am Schicksal von Reto Gafner ist nach dessen Tod gross. Wenige Tage später wird auf dem Sportplatz Grossriet in Greifensee Abschied von ihm genommen. Für Thomas Künzle, damals Klubpräsident, ein wichtiger Anlass. «Es gab damals eine grosse Solidaritätswelle und Anteilnahme. Und es zeigte uns eindrücklich, wie unwichtig der Fussball im Vergleich zum Leben eigentlich ist.»

Captain Stephen: «Die Trauerfeier auf unserer Sportanlage war sehr ergreifend. Neben vielen anderen war unsere ganze Mannschaft anwesend. Retos Tod und dessen Aufarbeitung haben uns als Team noch näher zusammengebracht und zusammengeschweisst.»
Spielertrainer Bryan: «Während der Trauerfeier lief ‹White Flag› von Dido, weil das offenbar ein spezielles Lied für ihn war. Wenn ich das heute mal im Radio höre, muss ich immer gleich wieder an ihn denken.»

Es ist die Frage, die sich viele in einer solchen Situation stellen: Heilt die Zeit Wunden? Und wie geht man mit dem Verlust eines geliebten Menschen um? Die Antworten auf diese Frage sind so unterschiedlich wie die Menschen.

Freundin Carmen: «Ich versuchte oft darüber zu reden, egal mit wem. Das half mir.»
Mutter Agnes: «Ich ging oft in der Nacht auf den Friedhof, damit mich niemand sah. Ich wollte in diesen Momenten einfach meine Ruhe haben.»
Vater Heinz: «Die Zeit heilt Wunden, aber die Narben bleiben. Doch sein Tod hat uns als Familie zusammengeschweisst.»

Knapp zwei Monate nach Retos Tod folgt noch einmal ein tiefes Tal der Tränen. Als die Eltern die «Schweizer Illustrierte» anschauen, sehen sie einen Bericht über einen Mann, dem im Unispital Zürich ein Herz transplantiert wurde. Und zwar an dem Tag, an dem ihr Sohn starb und dessen Organe zur Transplantation freigegeben wurden.

Mutter Agnes: «In dem Bericht gab es ein Foto, auf dem ein Herz auf einem Schälchen lag. Das muss Retos Herz gewesen sein. Dieses Bild vom Herz unseres Buben war unglaublich schmerzhaft.»
Vater Heinz: «Im Bericht erzählte der Mann, dass er nach dem Aufwachen unglaublich Appetit auf Glacé gehabt hätte. Unser Reto liebte ebenfalls Glacé.»

«Ich könnte gleich wieder darin versinken und heulen»

Wer mit den Angehörigen von Reto Gafner spricht, der ist beeindruckt, wie sie alle mit dem Schicksalsschlag umgegangen sind. Keine Vorwürfe, kein Hadern, kein Aufgeben. Sie alle haben in den letzten 20 Jahren versucht, glücklich weiterzuleben. Im Wissen, dass immer mal wieder Krisen kommen würden.

Was denken die Zurückgebliebenen heute? Wie gross ist noch der Schmerz? Wie oft denken sie noch an Reto?

Freundin Carmen: «Es tut noch immer richtig weh, dass er nicht mehr leben darf. Er hätte im architektonischen Bereich noch vieles erreicht. Wenn ich heute manchmal in Volketswil am Schulhaus vorbeifahre, das er zusammen mit seinem Partner entworfen hat, finde ich das lässig. Ein Teil von ihm lebt dort weiter.»
Mutter Agnes: «In Gedanken ist er jeden Tag bei uns. Wenn ich heutzutage an ihn denke, muss ich manchmal weinen, manchmal aber auch lachen. Dabei helfen mir Rituale wie das tägliche Kerzenanzünden sehr.»
Vater Heinz: «Heute können wir offen darüber reden. Es tut trotzdem noch weh.»
Freundin Carmen: «Ich habe eine Schachtel mit Erinnerungen aufbewahrt. Mit Liebesbriefen, Karten, einem Pullover von ihm und seinem Parfüm. Wenn ich darüber rede, könnte ich gleich wieder darin versinken und heulen.»
Freund Markus: «Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen hart, aber ich meine das positiv: Sein Abgang hat zu ihm gepasst, ganz oder gar nicht. Was mich bis heute tröstet und für mich ein schönes Symbol ist: Er hat den letzten Ball gehalten. Er starb zwar dabei, aber Reto hat den letzten Ball gehalten.»

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