«Es ist ein einziges Rechnen geworden»
Warum eine Zahl in der Leichtathletik für rote Köpfe sorgt

Würde Anita Weyermann heute noch auf der Bahn um Startplätze für Grossanlässe kämpfen, sie müsste ihr Erfolgsrezept anpassen. Denn heutzutage heisst es: «Gring ache, seckle – und rächne.»
Publiziert: 21.06.2023 um 14:42 Uhr
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Aktualisiert: 21.06.2023 um 18:31 Uhr
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Emanuel GisiSportchef

Früher starteten sie in Meilen, in Genf, Bulle und La Chaux-de-Fonds, plötzlich sind sie überall in Europa unterwegs: In Athen, auf Kreta (Gr), in Savona (I), Montreuil (Fr), Turku, (Fi), Kladno (Tsch) oder Bydgoszcz (Pol) gehen in diesen Tagen Schweizer Leichtathleten an den Start. «Ich mache viel mehr Auslandsstarts als früher», sagt etwa Sprinterin Salomé Kora (29). Eine internationale Offensive? Nicht ganz. Denn so richtig Lust hat eigentlich niemand darauf. Grund für die vielen weiten Trips ist das World Ranking des internationalen Leichtathletik-Verbandes. Während man sich früher über eine Quali-Limite für Weltmeisterschaften und Olympische Spiele qualifizierte, liegt diese nun deutlich höher – dafür gibt es mit dem Ranking einen zweiten Qualifikations-Weg.

Das Ranking funktioniert so: Je besser der Punkteschnitt der fünf Top-Resultate, desto weiter vorne ist man klassiert. Die Punkte werden in Kombination von Ergebnis und Platzierung errechnet, angepasst an das Level des Meetings, an dem man teilnimmt.

Die Schweizer Sprinterinnen sind keine Ranking-Fans

Klingt kompliziert? Ist es auch. «Es ist ein einziges Rechnen geworden, das finde ich nicht so toll», sagt Kora, die sich wohl über das Ranking qualifizieren muss, wenn sie im August an der WM in Budapest teilnehmen will. «Das nimmt einem ein bisschen die Freude.» Wo es einst einfach darum ging, möglichst schnell zu laufen, gilt es jetzt auch abzuschätzen: Wie viele Punkte bekomme ich dort, wo ich starten will? Wer startet auch noch und könnte mir Punkte wegnehmen?

Fürs World Ranking müssen sie ins Ausland: Schweizer Athletinnen wie Géraldine Frey (l., hier in Montreuil).
Foto: Icon Sport via Getty Images
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Ihre Staffel-Kollegin Géraldine Frey (26) sagt: «Manchmal habe ich das Gefühl, es geht vor allem auch darum, einen guten Manager zu haben, der einen an die Meetings bringt, wo man die besten Voraussetzungen für Punkte hat.» Das treibt teilweise seltsame Blüten: Im Winter plante Sprinterin Sarah Atcho (27) einen Hallen-Start in Island. In Reykjavik standen die Chancen auf Punkte nicht schlecht. Der Flug war gebucht, am Ende trat sie die Reise nur nicht an, weil sie nicht fit war.

Was für das Ranking-System spricht

Doch es gibt auch Argumente, die klar für das World Ranking sprechen. «In der Vergangenheit gab es viele Resultate, die unter zweifelhaften Bedingungen zustande gekommen sind», sagt Andreas Hediger, Co-Direktor bei Weltklasse Zürich. Diese Gefahr kann man so minimieren.»

Der Weltverband versucht sich vor sogenannten «Fake Results» bei kaum kontrollierten Feld-Wald-und-Wiesenmeetings irgendwo in der Pampa zu schützen, wie es sie in der Vergangenheit immer wieder gab. «Die Athleten sollen offizielle Wettkämpfe bestreiten, die gut organisiert sind», erklärt Hediger. «Natürlich gibt es immer noch Ausreisser, und das System hat auch gewisse Schwächen. Aber es teilt die Athleten grundsätzlich in die richtigen Meetings ein.»

Klar ist aber auch: Eine exakte Wissenschaft ist das Ranking nicht. Wer sich an einem Meeting anmeldet, wo die Bedingungen gut sind und die Konkurrenz im letzten Jahr mässig war, kann dieses Jahr Pech haben und plötzlich auf ein starkes Feld treffen. «Macht das meine Zeit schlechter, nur weil vier andere Athletinnen noch schneller gelaufen sind?», fragt Frey. «Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich fairer ist.»

Das sagt der Verband

Beim Verband kennt man die Probleme. «Die Idee des Rankings, dass man sich über mehrere Resultate qualifizieren kann, ist eigentlich bestechend. Zweifelhafte Resultate kann man so eliminieren», sagt Philipp Bandi, Chef Leistungssport bei Swiss Athletics. «Und sich regelmässig internationaler Konkurrenz zu stellen, ist grundsätzlich gut.» Aber Bandi ist nicht nur Fan: «Das Platzierungsskore ist problematisch. Ob du an einem Event 2. oder 6. wirst, hängt auch von der Konkurrenz ab.»

Doch bei aller Kritik – wer an der WM oder bei Olympischen Spielen antreten will, kann auf absehbare Zeit frei nach Anita Weyermann nur etwas tun: Gring ache, seckle – und rechnen.

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